Flix Immerland – Die Stadt der Ewigkeit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28492-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-28492-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spektakulär, witzig und bildgewaltig - als hätte Flix es gezeichnet. Flix erzählt von den Abenteuern des 12 5/6 Jahre alten Mika, der in den scheinbar ödesten Sommerferien aller Zeiten über sich hinauswachsen muss. Dass er dafür mit dem Auto durch die dunkle Nacht rast, um seine Oma zu retten - Kleinigkeit. Und mit einem Luftschiff in die fremde Stadt fährt? Geschenkt! Aber warum geht dort plötzlich alles in Erfüllung, was er sich wünscht? Wieso erledigen Affen das, worauf er keine Lust hat? Und weshalb findet er sogar im Club der großen Geister mit Leichtigkeit Freunde? Irgendetwas stimmt nicht, und Mika dämmert es langsam: Dies ist keine gewöhnliche Reise, sondern eine Frage von Leben und Tod! Eine rasante Geschichte voller unerwarteter Wendungen, die zeigt, was für ein großes, wildes Abenteuer es ist, erwachsen zu werden.
Flix lebt und arbeitet als freier Illustrator und Comiczeichner in Berlin. Neben zahlreichen Büchern veröffentlicht er aktuell seinen Zeitungscomic »Glückskind« jede Woche in der F.A.Z. Mit »Spirou in Berlin« und »Das Humboldt-Tier« setzte Flix als erster deutschsprachiger Künstler Abenteuer für die frankobelgischen Serien um. Flix' Arbeiten wurden in neun Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Im Februar 2025 kuratierte er die Ausstellung »UDERZO - Von Asterix bis Zaubertrank« im Museum für Kommunikation Berlin. »Immerland« ist sein erster Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
8
Die Insel
Mika hatte das Gefühl, nur für einen kurzen Moment die Augen geschlossen gehabt zu haben, doch als er sie wieder öffnete, lag er in einer Ecke des Ballonkorbs. Das Unwetter hatte sich verzogen, über seinen Schultern lag eine Wolldecke, und auf seinem Kopf saß ein Huhn. Am Horizont dämmerte der Morgen. Er schaute sich verwundert um. Oma, ebenfalls in eine Decke eingehüllt, lag neben ihm. Und ein halbes Dutzend Hühner hatte es sich auf ihr bequem gemacht. Mika verscheuchte sie. »Oma? Geht’s dir besser?« Statt einer Antwort hörte Mika nur ihre viel zu unregelmäßigen Atemzüge, die wie ein löcheriger Fahrradschlauch klangen. Sofort war er wieder voller Sorge. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig in ein Krankenhaus schafften? Was, wenn Oma starb?
Die Frau mit der Uniform stand breitbeinig am glänzenden Steuer und maß mit einem Sextanten nach, wo sie sich gerade befanden. »Kind! Guten Morgen. Sind bald da.«
Mika stand auf und stellte sich neben sie. Der Ausblick war spektakulär. Um sie herum waren, so weit das Auge reichte, Wolken. Große Wolken. Kleine Wolken. Üppig geschwungene Wolken. Sanfte Hügellandschaften aus Wolken. Wolken, die wie weiche, elfenbeinfarbene Berge aussahen, in die man hineinspringen wollte. Wolken, Wolken, überall Wolken. Was jedoch nicht zu sehen war: eine Stadt.
»Wo ist denn die Stadt?«, fragte Mika.
Die Frau in der Uniform deutete ungefähr geradeaus. »Die Richtung.« Mika konnte keine Stadt sehen. Die Frau schien wieder zu wissen, was er dachte. »Man sieht sie auch noch nicht. Aber es ist nicht mehr weit.«
»Wie weit?« Mika blickte zu Oma, die unter der Decke zitternd keuchte.
»Wir sind gleich da, Kind.«
»Gleich? Was heißt gleich? Das dauert alles viel zu lange! Oma geht’s beschissen, und mit dem Zug bin ich doch auch nur eine knappe Stunde zu Oma gefahren und …«
»Schhhh!« Die Frau legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Nimm dir ein Beispiel an den Hühnern. Die stellen auch keine Fragen.« Die Frau peilte wieder mit dem Sextanten ins Nirgendwo. »Vertrau mir einfach.«
»Vertrauen? Das scheint mir etwas viel verlangt. Wir kennen uns ja nicht mal.«
»Himmel! Habe ich mich nicht vorgestellt? Wie unhöflich. Charlotte Ronin mein Name. Lady Charlotte Ronin, um genau zu sein. Aber der Titel tut nichts zur Sache. Und der Name auch nicht. Es geht hier schließlich nicht um mich. Ich bin bloß die Chauffeurin.« Sie drehte das Steuerrad ein paar Grad Backbord und zog an einem Hebel. Es rumpelte. Der Walfisch wurde langsamer, bis er zum Stehen kam.
»Hey! Warum halten wir?«
»Siehst du das Flimmern, Kind?« Mika kniff die Augen zusammen. Er musste ganz genau hinsehen, um die durchsichtige Bewegung der Luft wahrzunehmen. Aber es stimmte. Da flimmerte was. Zudem roch es leicht nach Schwefel und Wasserstoffchlorid. »Das Flimmern bedeutet, dass wir noch warten müssen.«
Mika verstand nicht, was sie meinte. »Warten? Aber worauf?«
Lady Ronin zog aus ihrer Innentasche ein Etui und schnickte eine Zigarette hervor. »Dass wir landen können. Aber keine Sorge.« Sie entzündete sie am Brenner des Luftschiffs, zog daran und atmete genüsslich den Rauch aus. »Erfahrungsgemäß dauert es nicht so lange.«
Mika wedelte angewidert den Rauch von sich weg. »Wie lange ist erfahrungsgemäß ›nicht lange‹?«
Lady Ronin zog eine Taschenuhr hervor, die weder mit Zahlen noch Zeigern ausgestattet war, klopfte drauf, horchte daran, steckte sie wieder ein und sagte: »Kann man schwer sagen. Manchmal nur ein paar Stunden. Manchmal ein paar Tage. Selten länger.«
Mika war fassungslos. »Wir müssen vielleicht noch ein paar Tage warten?!«
»Möglich«, sagte die Chauffeurin. »Man weiß es nicht.«
»Das ist zu lang. Oma MUSS zum Doktor!!!«
»Das müssen alle, Kind. Aber gerade geht’s nicht.«
Wenn Oma noch TAGE hier im Ballon liegen würde … Mika traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Selbst Stunden wären zu lang. Sie mussten landen. So schnell wie möglich. Aber Lady Ronin sah nicht so aus, als hätte sie den Ernst der Situation begriffen. Im Gegenteil. Sie hatte eine Wurststulle ausgepackt und saß, die Beine hochgelegt, rauchend und schmatzend hinterm Steuerrad. »Jetzt noch ein Gläschen Rotwein …«
Oma hustete. Der Zigarettenrauch bekam ihr nicht. Mika überlegte fieberhaft, was er tun konnte. Vielleicht war es doch keine so clevere Idee gewesen, in dieses Luftschiff zu steigen. Vielleicht hätte er es drauf ankommen lassen sollen, dass der Rover einigermaßen sanft im Acker gelandet wäre. Er hätte an der Straße Autostopp machen können, und jemand hätte sie mitgenommen. Oder niemand hätte sie mitgenommen, und er hätte Oma auf dem Rücken in die nächste Stadt getragen. Alles wäre schneller gewesen. Jetzt saß er in diesem Korb mit dummen Hühnern und einer Chauffeurin, die nicht chauffierte. Und Oma ging es von Minute zu Minute schlechter. Was sollte er machen?
Mika sah ein, dass er keine Ahnung hatte, wie man ein Luftschiff landete. Die Beschriftung des Höhenmessgeräts war abgenutzt, sodass er nur raten konnte, wie hoch sie sich befanden. Aber da der Zeiger knapp vor dem roten Bereich stand, war Mika sicher, dass sie sehr hoch waren. Springen kam nicht infrage. Fallschirme gab es auch keine. Die Chauffeurin hatte eine arg zerfledderte Zeitung hervorgeholt und sich eine weitere Zigarette angesteckt. Wenn er nichts unternahm, würden er und Oma hier bis zum Abend festsitzen. Da entdeckte Mika, dass ganz hinten am Schaltpult ein Messingknopf war, der von einem Metalldeckel geschützt wurde. Daneben war das Wort ›Notlanden‹ graviert. Mikas Augen leuchteten auf. Das war die Lösung.
Mika ging unauffällig etwas näher an das Pult heran. Er beobachtete Lady Ronin, die vertieft darin war, die Rätselseite zu lösen. »›Dauerhafter Ruhezustand mit drei Buchstaben.‹ Hmmm …« Und dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, klappte Mika den Deckel beiseite und drückte auf den Messingknopf.
Eine Warnglocke schrillte. Sämtliche Apparate des Luftschiffs begannen umgehend, mit Hochdruck zu arbeiten. Der Korb vibrierte. Die Chauffeurin fiel vom Sitz und begriff sofort, was passiert war. Was sie nicht davon abhielt, panisch zu schreien: »Was hast du getan, Kind?«
Die Schläuche saugten die heiße Luft aus der Stoffhülle des Ballons. Innerhalb weniger Augenblicke wurde aus dem majestätischen Luftwal ein handliches Paket. Schlagartig verlor der Korb all seine Stabilität und sauste in die Tiefe. Oma schnaufte. Mika knallte gegen die Wand des Korbes. Und die gesamte Fracht wirbelte durcheinander. Lady Ronin versuchte hektisch, den Hebel zu finden, der das ganze Manöver stoppte. Doch keiner machte es. Das Luftschiff fiel einem Backstein gleich senkrecht durch alle Wolkenschichten.
Mika musste an die Schulschwimmstunde neulich denken, in der Osman ihn vom Dreimeterturm ins Becken geschubst hatte. Der Fall war genauso furchtbar gewesen. Nur war jetzt der Fall noch länger. Sehr viel länger.
Die Luft wurde immer wärmer, und der schwefelige Geruch nahm mit jedem Sekundenbruchteil zu. Als schließlich die Wolken aufrissen, hatte Mika einen guten Blick auf das, was unter ihnen lag. Da war keine Stadt. Sondern eine Insel. Sie bestand hauptsächlich aus einem bedrohlich wirkenden Berg mit abgeflachter Spitze. Die Spitze hatte ein riesiges, kreisrundes Loch, aus dem Rauch aufstieg. Der Berg lag da wie ein hungriges Tier mit schlechtem Atem, das seit Jahrhunderten nur auf sie gewartet hatte.
»Ich will nicht kleinlich rüberkommen, aber das sieht mir da unten nicht sehr bewohnt aus«, brüllte Mika.
»Stimmt!«, brüllte die Chauffeurin zurück, die mit einem Schraubenschlüssel versuchte, den Rückwärtsgang zu aktivieren.
»Sagten Sie nicht, da unten wäre eine Stadt?«
»Sagte ich. Aber ich sehe gerade nicht, wie wir sie heil erreichen sollen, Kind!«
Das »Warum?« sparte sich Mika, denn je näher sie dem Loch kamen, desto besser konnte er hineingucken. Und dass es da unten orangerot glühte, war leider eindeutig. Jetzt begriff Mika. Der Berg war ein Vulkan, der kurz davor war, auszubrechen. Wenn sie auch nur den Hauch einer...