E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Florineth-Baatsch / Katz-Bernstein / Muchenberger-Gebauer Das stille Kind ist das vergessene Kind
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-456-76321-7
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selektiven Mutismus interdisziplinär überwinden
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-456-76321-7
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Logopäd*innen, Sprach- und
Sprechtherapeut*innen, Ärzt*innen,
Erzieher*innen, Lehrkräfte und
Heilpädagog*innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|11|Vorwort
„Wenn du die Diagnose des Kindes genau kennst, der Therapieplan schon klar und vorstrukturiert ist und du vorhast, dich genau daran zu halten, dann hast du das Kind verlassen“. (Heinz Stefan Herzka1, persönliche Mitteilung) Wie dieses Buch entstanden ist Das Buch „Mut zum Sprechen finden – Therapeutische Wege mit selektiv mutistischen Kindern“ (Katz-Bernstein et al., 2007), ging kürzlich in seine 5., aktualisierte Auflage. Es stellt geglückte und auch weniger geglückte Therapieverläufe aus Psychotherapie und Sprachtherapie ungeschönt vor. Eine Alltagsrealität, die wir in der Arbeit mit diesen Kindern immer wieder erleben. Das Interesse der Leserschaft an der Kasuistik scheint ungebrochen zu sein. Aus Weiterbildungen, Beratungen und Supervisionen wissen wir, dass Fachpersonen daran interessiert sind, wie die konkrete therapeutische Arbeit nach der individuellen Prägung und Ätiologie der Betroffenen strukturiert wird, welche Prozesse und Verläufe dabei erlebt werden und wo dabei Hürden und Schwierigkeiten entstehen können. Wertvoll und gewinnbringend für die eigene Arbeit ist auch die Reflexion der Verläufe. Wir sind motiviert, neben neuen Falldarstellungen auch aktuelle Zugänge und innovative Methoden für die Therapie des selektiven Mutismus vorzustellen sowie unsere Erfahrungen und wichtigen Erkenntnisse aus dem Praxisalltag weiterzugeben. Dies mit dem Ziel, die Leser*innen zu ermutigen und zu befähigen, ihre Neugier und ihr Interesse für die Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern und Jugendlichen zu wecken. Leitend ist dabei für uns die Methodenvielfalt sowie die interdisziplinäre Vernetzung. Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Berufsgruppen, die sich mit selektivem Mutismus befassen, wozu Psychotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ärzt*innen, Erzieher*innen, Lehrende und Heilpädagog*innen zählen. Es wird aber sicherlich auch für weitere verwandte Berufsfelder von Interesse sein. Hilfesuchende Eltern wie auch Selbstbetroffene werden in diesem Buch ebenfalls fündig und erhalten Anregungen für Unterstützungsmöglichkeiten. Nach wie vor müssen wir in unserer täglichen Arbeit feststellen, dass dieses Störungsbild leider immer noch (zu) wenig bekannt ist oder nicht erkannt wird. Das stille, passive und angepasste Verhalten im Unterrichtskontext entspricht überhaupt nicht dem mitteilsamen, aktiven, oft dominanten Verhalten zu Hause. Selektiver Mutismus löst verständlicherweise große Irritationen aus – auf |12|Seiten der Schule durch das beharrliche Schweigen des Kindes – auf Seiten der Eltern, die ein völlig anderes Kind zu Hause erleben. Wir sehen uns in diesem Dreieck und auch in anderen Settings als Verständnis-Vermittlerinnen und Aufklärerinnen. Es ist uns ein großes Herzensanliegen, selektiven Mutismus mit all seinen faszinierenden Facetten und Ausprägungen noch publiker zu machen. Aus Studien und auch aus der eigenen langjährigen Erfahrung wissen wir, dass Schul- und Lebenskarrieren von unerkannt gebliebenen oder spät erkannten mutistischen Menschen einen dramatischen und schwierigen Verlauf nehmen können. Einige wenige können sich aus eigener Kraft irgendwann aus dem engen Korsett des selektiven Mutismus befreien, mussten dafür aber viele Umwege, Hürden und seelische Schmerzen in Kauf nehmen. Der Beitrag über Tilda Niemeyer (Kapitel 8.4) zeigt dies eindrücklich auf, ebenso weitere Darstellungen von ehemals selbst Betroffenen (Kapitel 4.2, 8.3, 8.5). Es ist uns ein großes Anliegen und auch unsere Hoffnung, dass wir mit den folgenden Beiträgen und Erläuterungen ein Stück weit dazu beitragen können, dass folgenschwere Biografien verhindert werden und das Leben nicht zu einer Sackgasse wird. Das vorliegende Buch gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der theoretische Teil baut auf aktuellen, evidenten Befunden und Forschungen auf. Hier werden Grundlagen, Erkenntnisse und Aspekte des selektiven Mutismus diskutiert. Kinder mit selektivem Mutismus brauchen viel Sicherheit, um verbal in Interaktion treten zu können, weil sie bestimmte Kontexte als sehr unsicher wahrnehmen. Die aktuellen diesbezüglichen Forschungen werden in dem aufschlussreichen Beitrag von Melfsen & Walitza (Kapitel 2.2) abgebildet, die in ihrem „Unsafe-World“-Modell auf dieses eindrückliche Phänomen eingehen und gut verständlich erklären. In dem Artikel wird zudem einmal mehr das Thema der Klassifizierung des selektiven Mutismus als Angststörung valide diskutiert. Aus dem „Unsafe-World“-Modell leitet sich die zentrale Bedeutung des „Safe Place“ (Kapitel 2.1) in der Therapie und im Umgang mit dem selektiven Mutismus ab. Besonders eindrücklich sind diesbezüglich die Ergebnisse der Befragung nach Wirkfaktoren (Kapitel 4.2), sowie die Darstellungen der Betroffenen. Die Erklärungen zu den Besonderheiten bei selektivem Mutismus in der Elternberatung (Kapitel 3.1) und in der Supervision (Kapitel 3.2) finden ebenso ihre Erwähnung, wie eine Untersuchung zu den Wirkfaktoren (Kapitel 4.2). Mittels Fragebogen wurden ehemals Betroffene, Lehrenden, Fachpersonen und Eltern nach wirkungsvollen Interventionen befragt, die aus dem Schweigen geholfen haben. Die Ergebnisse sind hochinteressant, für alle Berufsgruppen relevant und für die Praxis sehr bedeutsam. Teil 2 im theoretischen Teil geht auf verschiedene Methoden in der Therapie des selektiven Mutismus ein (Kapitel 5). Da selektiver Mutismus sehr facettenreich ist, verlangt er nach einer großen Methodenvielfalt, nach Innovation und Kreativität. Neben einem Phasenmodell zur Steuerung des Therapieprozesses (Kapitel 5.1) wird das lösungsfokussierte Konzept „Ich schaff’s“ (Kapitel 5.2) für die Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern vorgestellt, dann ein Konzept für die Gruppentherapie (Kapitel 5.3), sowie ein innovatives Online-Coaching von Fachpersonen und Lehrenden, für Fälle, in denen keine Mutismusspezialist*in vor Ort ist (Kapitel 5.4). Im praktischen Teil 3 werden durch Falldarstellungen verschiedene methodische Herangehensweisen abgebildet unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte wie Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Migration – auf Grund der unruhigen politischen Weltlage ein sehr aktuelles Thema. Selektiver Mutismus im Setting Schule ist ebenfalls ein bedeutungsvolles Thema, insbesondere, da dort die Weichen für die weitere persönliche wie berufliche Laufbahn gestellt werden. In drei Beiträgen stellen wir verschiedene Ideen und konkrete Zugänge vor (Kapitel 6). Die Fallgeschichten, |13|in denen teilweise auch Angehörige und Betroffene zu Wort kommen, sind repräsentativ, veranschaulichen die Vielfalt der Symptome bei selektivem Mutismus und betonen die Bedeutung maßgeschneiderter Interventionen. Wie beim Lesen der Beiträge zu erkennen ist, ist selektiver Mutismus komplex und vielschichtig. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, Blicke aus verschiedenen Perspektiven, ein enges, tragfähiges Netz sind daher besonders relevant, um diesem Phänomen in seiner Vielfalt gerecht zu werden. Je besser alle Beteiligten im System transparent zusammenarbeiten, auf Augenhöhe agieren und von einer hohen Motivation geleitet werden, desto höher ist die Chance, dass die betroffenen Kinder oder Jugendlichen das selektiv mutistische Verhalten überwinden können. Die in diesem Buch beschriebenen Vorgehensweisen haben sich in unserer langjährigen Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern und Jugendlichen, deren Familien und in der Zusammenarbeit mit den pädagogischen und therapeutischen Fachkräften sehr bewährt. Manche Konzepte sind immer noch „work in progress“ und entwickeln sich weiter. Bei manchen Beiträgen kann die Weiterentwicklung auch mitverfolgt werden. Das ermöglicht uns eine zukünftige Flexibilität, die erwiesenermaßen und laut aktuellen Befunden bei der Arbeit mit diesem Störungsbild gerechtfertigt ist. Die Herausgeberinnen wie die meisten Verfasser*innen der hier vorgestellten Beiträge gehören dem schweizerischen, interdisziplinären Zusammenschluss InterMut an. Dort sind Fachpersonen vereinigt, die auf selektiven Mutismus in Therapie, Beratung, Supervision und Lehre spezialisiert sind (www.mutismus-schweiz.ch). Mit...