E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Reihe: Edition Blau
Flükiger Gloria. Mohammed.
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03973-060-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Reihe: Edition Blau
ISBN: 978-3-03973-060-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Isabelle Flükiger wurde 1979 im westschweizerischen Freiburg geboren. Nach ihrem Studium der Politik- und Literaturwissenschaft und einem längeren Berlin-Aufenthalt lebt sie heute in Bern. Von ihren in der Romandie vielfach ausgezeichneten fünf Romanen liegt auf Deutsch Bestseller vor (Rotpunktverlag, 2013), dessen 'Pfiffigkeit und Scharfsinn' (NZZ) von der Presse einhellig gelobt wurde.
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Ich rief Gloria an.
Ich schreibe ihren Namen, und sofort höre ich ihre Stimme. Eine samtene Stimme, wie gemacht für Wiegenlieder und Freundlichkeit, mit einem singenden Akzent. Meine Freundin hatte ihr von mir erzählt, Gloria war gerne bereit, mich zu treffen. Wir verabredeten uns bei ihr zu Hause, in Lausanne.
Eine kleine, dünne, braunhäutige, hübsche und adrette Frau öffnete mir die Tür. Ich folgte ihr ins Innere einer gemütlichen Zweizimmerwohnung, hier und da Lampen, die schön aussehen und kein Licht geben, und aufgehängte Tücher mit dem einzigen Zweck, Balsam für die Augen zu sein. Gloria wies mir einen Platz am Tisch ihrer kleinen Küche zu. Sie wusste viel besser als ich, wohin unser Gespräch führen und wie es dorthin gelangen sollte. Vielleicht war es das, was sie so viel Selbstsicherheit ausstrahlen ließ. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, dieses sichere Auftreten, das ist sie. Das ist, was die Schweiz aus ihr gemacht hat.
Sie bot mir einen Kaffee an. Während sie in der Küche beschäftigt war, legte ich meinen Laptop auf den Tisch, neben einen Bundesordner, in dem die Mappen »Zeugnisse«, »Versicherungen« und »Arbeitgeber« abgelegt waren. Das war ihre ganze Geschichte in der Schweiz, wie sie mir erklärte. Und das war der Weg, den wir zusammen gehen würden, während der paar Stunden ihrer Erzählung, entlang den ausgedruckten Dokumenten voller Zahlen in Franken und unleserlicher Unterschriften.
Dieser Ordner widerspiegelte Glorias Wesen. Strukturiert, präzise, jedes Papier an seinem Platz, damit sich die Erinnerungen in Reih und Glied verfolgen ließen, ohne das Verschwommene und Unklare, das normalerweise den Fluss des Gedächtnisses begleitet. Während sie sprach, schaute ich auf ihre kleinen Hände mit den kurz geschnittenen Nägeln, die systematisch einteilten, ordneten, zählten, ihre Hände, die Kekse und Tassen auf den Tisch stellten mit der gleichen Sicherheit und Präzision, mit der sie die Erzählung unterstrichen. Diese Hände vermochten eine ganze Welt zu halten.
Wie die meisten Geschichten beginnt die ihre mit einer Begegnung. Es handelt sich um den Vater ihrer Kinder, einen Mann, den sie »Gott sei Dank« nie geheiratet hat. »Ich war Mittelschülerin, als ich ihn kennenlernte. Er war Direktor einer Schuhfabrik in Yaoundé. Er stellte mich frisch vom Abitur für Sekretariatsarbeiten ein. Er war ständig unterwegs, von einem Geschäftstreffen zum anderen. Dazwischen warf er immer einen Blick in mein Büro. Er fragte, wie es gehe, ob ich gut mit meinen Kolleginnen auskomme, ob die Arbeit interessant sei. Ich fand ihn aufmerksam und charmant.«
Mit seiner stetigen Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gewann der Chef das Herz der kleinen Schulabgängerin. Das Herz und den ganzen Rest. Schon war sie schwanger. Der Mann war eine gute Partie. Er hatte eine Firma, eine Residenz, in der sie sich einrichtete. Es sah ganz nach einer schönen Geschichte aus, und dann fingen die Schläge an.
Sie lebte bei ihm. Sie hatte aufgehört zu arbeiten, hatte keine Familie in der Nähe und trug sein Kind im Bauch. Sie war ihm ausgeliefert.
Als das Kind dann auf der Welt war, hielt ihn nichts mehr zurück. Der zweite Junge wurde zu früh geboren, nach einer weiteren »verdienten Abreibung«, wie er es nannte.
Er jagte sie einige Monate nach jener zweiten Geburt zum Teufel. Er wollte sie loswerden. Er stellte sich vor, alleine mit den Kindern zu bleiben, »mit meinen Söhnen«, wie er mit dem idiotischen Stolz der Männer sagte, die sich einbilden, eine Verlängerung ihrer selbst erschaffen zu haben, dabei wusste er nichts von ihnen. Nichts über ihre Eigenschaften, ihre Lieblingsspiele, ihre Abendrituale vor dem Einschlafen. Er versetzte sie in Angst und Schrecken. Nachdem sie drei Tage geweint und geschrien hatten, überließ er sie ihrer Mutter, die er beschuldigte, sie habe die Kinder zu Waschlappen gemacht.
Die Schläge hatte sie ertragen. Sie würde es nicht ertragen, von den Kindern getrennt zu sein. Wer weiß, was geschehen könnte, wenn er es erneut versuchte.
Also gab sie an einem ganz normalen Tag vor, mit den Kleinen einkaufen zu gehen. Sie setzte sie in einen Bus und fuhr zu ihrer Schwester am anderen Ende Kameruns, um nie wiederzukommen.
Kaum zwei Tage später kreuzte er auf – die Fährte war nicht schwer zu finden. Vielleicht hätte er Gloria so weit bringen können, mit ihm nach Hause zurückzukehren, aber er reagierte spontan, als er sie auf sich zukommen sah, hübsch, stark für ihre Söhne, fähig, sich ihm zu entziehen: Er ohrfeigte sie. Und er genoss es so sehr, sie zu bestrafen, dass er sich vergaß. Er packte ihren Kopf mit einer Hand und schlug ihn wiederholt gegen den Türrahmen. Er war es so gewohnt, sie zu verprügeln, dass er nicht einmal realisierte, diesmal ein Publikum zu haben, dem das Stück eventuell nicht gefallen könnte.
Man mag denken, was man will über die Beziehungen zwischen einem Mann und einer Frau. Man mag sich sogar vorstellen, ein bisschen Haue dann und wann sei nicht so schlimm. Aber etwas denken und die Umsetzung sehen, die nackte Gewalt gegen eine Mutter vor ihren weinenden Kindern, ist etwas ganz anderes. Der Mann ihrer Schwester reagierte seinerseits spontan. Er rannte zum Schwager und schlug ebenfalls zu. Er schlug so lange, bis der andere mit tränenden Augen auf dem Boden lag.
Dann stieß der Schwager keuchend aus: »Wenn du noch einmal hierherkommst, bist du tot.« Er sagte es mit der Überzeugung seiner Seele im besten Mannesalter und verkörperte so auf einen Schlag und ganz gegen seinen Willen die banalen, verbrauchten Worte: seine Familie beschützen.
Glorias Gefährte erhob sich. Er wischte sich die blutige Nase ab. Er schaute Gloria verstört an, belämmert. Er zögerte. Es ging immerhin darum, von dieser Frau, seinem Besitz, und seinen Kindern abzulassen. Aber der Schwager hob die Hand. Da winselte er wie ein Hund und gab Fersengeld. Und ward nie mehr gesehen.
Wenn sie geheiratet hätten, wäre die Geschichte anders verlaufen. Aber sie waren nur Lebenspartner – dieser Freiheit vor Gott verdankt Gloria die ihre.
Eine Freundin der Familie, die in der Schweiz lebte, verbrachte ihre Ferien bei der Schwester. Sie hatte die Szene miterlebt. So geht das im Leben. Eine Begegnung, ein Augenblick, ein paar Kippmomente lassen die Schicksalskugel rollen. Sie schlug Gloria sofort vor, ihr bei der Auswanderung zu helfen.
Gloria erklärt mir: »Die Überlegung ist einfach, wissen Sie. Alle, die einen der Ihren dazu drängen, die Reise bis nach Europa zu unternehmen, tun es aus dem gleichen Grund: Ein Einziger von uns kann dort mehrere am Leben erhalten. Ich hatte die Verantwortung für meine beiden Söhne und meine Schwester, die sich von nun an um sie kümmern würde. Welche Erleichterung, als ich endlich das Visum bekam …«
In der Schweiz war alles schon geplant – ohne sie zu fragen, denn von ihr erwartete man Dankbarkeit, keine eigene Meinung.
Man quartierte sie gleich bei einer Puffmutter ein. Sie sollte sich prostituieren, um Kost, Logis und das Recht auf die Benutzung eines Zimmers zu bezahlen. Die Puffmutter würde ihr Kleider leihen und sie in den Beruf einweisen … sie würde zum Anbeißen aussehen.
Während die Freundin der Schwester ihr mit falscher Fröhlichkeit in der Stimme erklärte, was die Abmachung sei, weinte Gloria in einem fort. Sie weinte, bis niemand mehr ihr zu erklären versuchte, welches Glück ihr zuteilwerde, bis die Puffmutter die Nerven verlor und schnappte: »Hör endlich auf, du wirst mir noch das Geschäft verderben mit deinem Geheul!«, bis man es endlich aufgab und eine andere Lösung suchte. Unvorstellbar, was der menschliche Körper an Tränen produzieren kann.
Safiatou hatte ein wenige Monate altes Baby und einen Jungen von vier Jahren, deren Vater sie soeben verlassen hatte. Ihre zwölfjährige Tochter stammte von einem anderen Mann, der seinerseits das Weite gesucht hatte. Mit Gloria als Kinderfrau konnte sie wieder für die Puffmutter arbeiten. Alle sagten sich: Das passt perfekt. Safiatou holte Gloria noch am gleichen Nachmittag ab.
Ihre neue Arbeitgeberin bezahlte Gloria Kost und Logis sowie 200 Franken im Monat für die Ausgaben. Sie kam sich schon sehr großzügig vor. Sollte denn nicht eigentlich Gloria an ihrer Stelle sein? Aus ihrer Sicht war ihre Angestellte ihr etwas schuldig, und nicht umgekehrt. Alles, was sie Nacht für Nacht, Kunde um Kunde erlitt, um Gloria und den eigenen Kindern ein Zuhause zu bieten, dafür stand Gloria in ihrer Schuld. »Tränen, lauter Tränen, und die anderen müssen ins Feuer des Gefechts. Heule ich etwa?«
Ihr Groll hatte die gleiche Farbe wie ihre Nächte: schwarz. Und wisst Ihr, was? Gloria gab ihr recht.
Also suchte sie den leichtesten Ausgang auf dem direktesten Weg: Sie veröffentlichte eine Annonce, um einen Mann zu finden.
»Wenn Ausländerinnen einen Mann suchen, denken die Leute, dass solche wie ich sich nur für die Papiere interessieren. Sie täuschen sich. Was wir suchen, ist zuallererst die Liebe. Man ist so allein, verstehen Sie? Man geht aus dem Haus in ständiger Furcht vor der Polizei. Unsere Arbeitgeber behandeln uns wie Hunde, nur, weil sie es können. Unsere Landsleute müssen selbst kämpfen. Sie haben keine Zeit. So wenig wie wir. Denn man arbeitet den ganzen Tag, von morgens bis abends, man tut nichts anderes. Nun ja, da fängt man eben zu träumen an. Das ist alles, was uns bleibt, verstehen Sie?«
Ohne Gloria und ihren Bericht hätte ich nie den wahren Sinn der Märchen verstanden. Dass die Liebe, von...




