E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Flyn / Schalansky Verlassene Orte
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-4010-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-7518-4010-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cal Flyn, in den schottischen Highlands aufgewachsen, ist Essayistin, Kritikerin u. a. für Granta, The Guardian, The Wall Street Journal. Bereits ihr erstes Buch Thicker than Water erregte große Aufmerksamkeit, Islands of Abandonment wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen. 2022 wurde sie als Young Writer of the Year geehrt.
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ANRUFUNG
Forth Islands — Schottland
In den Tunneln ist es kühl, nicht kalt wie draußen. Und dunkel, stockdunkel. Die Luft steht beinahe, aber nicht ganz – ein Hauch streift die Blätter, die in niedrigen Verwehungen am Rand liegen, wo Wände und Boden aufeinandertreffen. Vielleicht habe ich deshalb das nervenaufreibende Gefühl, nicht völlig allein zu sein.
Um zum Allerheiligsten vorzudringen, muss ich im äußeren Gang über die Kadaver von Möwen und Kaninchen steigen, die sich verirrt oder zum Sterben hierher verkrochen haben. Meine Schritte sind vorsichtig und ich versuche, möglichst nicht hinzusehen. Irgendwann, nachdem mir das vom Stein zurückgeworfene Aufblitzen der Taschenlampe einen Schrecken eingejagt hat, schalte ich sie aus und warte, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Durch die angelehnte Metalltür dringt gerade genug Licht, dass ich die breiten Steinstufen erkennen und tiefer ins Innere der Festung vordringen kann.
Die einst weiß verputzten Wände sind jetzt schmutzig marmoriert sowie hier und da von dunklem Schimmelgrün überzogen. Bald allerdings ist es zu düster, um etwas zu erkennen. Obwohl ich mich selbst zur Ruhe mahne, spüre ich, wie mein Puls sich beschleunigt. An jeder Ecke, wo das Unbekannte finster und bedrohlich lauert, muss ich mich zum Weitergehen zwingen – ich atme ein, strecke die Finger nach der Wand aus, betaste sie. Ich rieche nassen Stein, Erde, Moder – Gruftgeruch. Als nichts mehr hilft, schalte ich die Taschenlampe wieder an.
Also doch: Ich bin nicht allein. Zumindest nicht ganz. Neben den grob behauenen Wänden erfasst der Lichtkegel zunächst einen dunklen Körper, dann noch einen. Ich finde drei, dicht gedrängt am Boden, die Flügel gefaltet wie Hände zum Gebet. Ich muss mich auf alle Viere in den Staub fallen lassen, um sie in allen Einzelheiten zu betrachten: die komplexe Musterung der Flügelunterseiten – eine Schnitzarbeit in Ebenholz und Tiefbraun, durchzogen von schwachem Kupferglanz. Ruhende Schmetterlinge. Bald werden sie wach.
Das hier ist Inchkeith, eine Insel im Meeresarm Firth of Forth, gut sechs Kilometer vor Edinburgh. Seinerzeit war Inchkeith alles Mögliche: abgelegener Standort für eine »Prophetenschule«, später Quarantäneinsel für Syphiliskranke (die man dorthin verbannte, »bis Gott ihnen Gesundheit schenkte«), dann Pestkrankenhaus und sogar Gefängnisinsel, auf der das Wasser die Mauern ersetzte.
So abgelegen war sie, und doch immer in Sichtweite der schottischen Hauptstadt – ein felsiges Trugbild am Horizont –, dass sie angeblich die Fantasie des schottischen Königs James IV beflügelte, der Inchkeith, so heißt es, für sein berüchtigtes Sprachentzugsexperiment auserkor. Als Universalgelehrter mit rastlosem Geist setzte er sich intensiv mit den Wissenschaften der Renaissance auseinander, praktizierte sowohl Aderlass als auch Zähneziehen und versenkte riesige Summen in die Erforschung von Alchemie, dem menschlichen Flugvermögen und laut einem Chronisten aus dem 16. Jahrhundert auch in das Unternehmen, zwei Neugeborene und eine taube Amme nach Inchkeith zu bringen, in der Hoffnung, dass die Kinder abseits der schädlichen gesellschaftlichen Einflüsse die »göttliche Sprache« aus der Zeit vor dem Sündenfall zu sprechen lernen würden.
Aufgrund der extremen Isolation und unumkehrbaren sozialen Fehlprägung, denen die Kinder ausgesetzt waren, ging der Versuch als »das verbotene Experiment« in die Geschichte ein. Die Ergebnisse waren uneindeutig. »Manche sagen, sie sprachen gut Hebräisch«, berichtet der Chronist verschmitzt, »ich weiß ja nicht.« Andere erzählten von einem »viehischen Gestammel«. Die Auslegung hing wahrscheinlich davon ab, nach welchem Gott man Ausschau hielt.
Mit der Zeit wurde aus Inchkeith eine Inselfestung, die zu Kriegszeiten sporadisch von den Engländern gehalten wurde, und schließlich – nach großem Blutvergießen – von den Franzosen. Im Zweiten Weltkrieg waren über tausend Soldaten auf der nicht einmal einen Kilometer langen Insel stationiert, und Geschützstellungen wachten angespannt über die Forth-Mündung. Nach dem Waffenstillstandsabkommen wurde Inchkeith, das zu klein, zu schwer beschädigt und zu unzugänglich war, um in Friedenszeiten Beachtung zu erfahren, erneut verlassen.
Inchmickery, eine Insel im Meeresarm Firth of Forth (Schottland), ist ein wichtiger Brutplatz für Robben.Doch während die Insel in Vergessenheit geriet, stieg ihre ökologische Bedeutung. Bis in die Vierzigerjahre hinein war nur eine einzige dort nistende Seevogelart bekannt: die Eiderente. In den darauffolgenden Jahrzehnten jedoch ist die Insel zur Brutstätte von einem Dutzend weiterer Arten geworden, und noch mehr nutzen die Insel als Rastplatz. Im Frühsommer wimmelt die Felsküste nur so von Leben und ist vom Vogelkot kalkweiß, auf jedem Vorsprung drängen sich struppige Nester aus verrotteten Algen und gesprenkelte, direkt auf dem Fels abgelegte Eier, jede Spezies richtet sich im Relief des Lebens ein: Krähenscharben ruhen auf den gischtumtosten Felsen unten im Wasser, die glänzenden, schwarzweißen Lummen auf den unteren Stufen der Klippen, ein Stockwerk höher die gnomenhaften Tordalken mit ihren gebogenen Schnäbeln, im Penthouse residieren die in elegantes Grau gekleideten Dreizehenmöwen – und permanent beschweren sie alle sich lauthals kreischend über ihre Nachbarn.
Wo einst das Weideland des Leuchtturmwärters war, nehmen dralle Papageientaucher mit ihren knallbunt gestreiften Schnäbeln leere Kaninchenbauten in Beschlag. Winterzaunkönige und Rauchschwalben haben die ehemaligen Militärbauwerke eingenommen, die zusammensacken und aufplatzen wie fauliges Obst. Holunderdickicht wuchert aus den dachlosen Gebäuden, dicht gedrängt, wie um den bitterkalten Windstößen von der Nordsee zu trotzen.
Verfallene Offiziersunterkünfte auf der nahegelegenen Festungsinsel Inchkeith.Wenn das Wetter kühler wird, hieven sich Kegelrobben auf die algenüberwucherten Bootsrampen, um sich in der schwachen Sonne zu wärmen – Tausende von ihnen finden hier, mitten in der Fahrrinne, ausreichend Zuflucht, um Junge zu bekommen. Ihr rehäugiger Nachwuchs verbringt den Winter damit, im büscheligen Gras zu lümmeln, die Pfade entlang zu robben und die Ruinen zu erkunden. Ungefähr zur selben Zeit ziehen die Schmetterlinge und Motten, die wie Rauch über der Insel wabern, sich in die dunklen Tunnel zurück, die die Hänge durchziehen, um dort zu überwintern – blau schillernde Tagpfauenaugen, glänzende, wie gepanzert aussehende Zimteulen, oder Kleine Füchse, deren schartige Silhouetten an Muscheln erinnern. Einer zuckt mit dem Bein. Ich lasse sie in Frieden.
Ich spüre einen Luftzug, einen Hauch, der mir den Weg nach oben weist. Weit über mir erkenne ich einen Schimmer von Tageslicht. Ein schwaches, alkalisches Aroma nach Guano hängt in der Luft. Ich finde eine Tür, die halb zugerostet ist, sich aber noch öffnen lässt, und dann bin ich draußen, stehe wie eine Galionsfigur allein am äußersten Bug der Insel, und vom kreisrunden Krater der Geschützstellung, Überrest eines letzten verzweifelten Abwehrversuchs in einem längst vergangenen Krieg, blicke ich aufs Meer hinaus.
Der Wind fährt schnell durch leeren Raum: Mächtige Luftströme saugen mir den Atem aus den Lungen. Und in einer einzigen großen Woge, als wirbelnde Masse steigen die Vögel auf. Schreiend, kreischend, rasend auf der Suche nach mir, hier, auf dieser Insel, diesem verlassenen Ort.
* * *
In diesem Buch bereisen wir einige der unheimlichsten und menschenleersten Orte auf Erden. Ein Niemandsland zwischen NATO-Drahtzäunen, wo Passagiermaschinen nach vier Jahrzehnten der Verwahrlosung auf dem Rollfeld vor sich hin rosten. Eine arsenvergiftete Lichtung, auf der kein Baum mehr wachsen kann. Die um einen schwelenden Kernreaktor errichtete Sperrzone. Einen sterbenden Salzsee, an dessen verödeter Küste sich ein Strand aus den Skeletten von Fischen gebildet hat, die einst darin schwammen.
Diesen ungleichen Orten ist gemein, dass der Mensch sie verlassen hat, sei es aufgrund von Krieg oder Katastrophen, Krankheit oder wirtschaftlichem Niedergang. Die Natur hatte freien Lauf – und beschert uns unschätzbare Erkenntnisse über Lebensumwelten im stetigen Wandel.
Dies ist ein Buch über die Natur, jedoch keines, das vom Reiz des Ursprünglichen schwärmt. Das ist gewissermaßen der Not geschuldet. Weltweit können immer weniger Orte die Bezeichnung »unberührt« für sich beanspruchen. Jüngste Untersuchungen konnten Mikroplastik sowie gefährliche menschengemachte Chemikalien sogar im Eis der Antarktis oder auf dem Boden der Tiefsee nachweisen. Luftaufnahmen des Amazonasbeckens zeigen tief im Wald verborgene Erdwälle, die letzte Überreste ganzer...