Ford | Unabhängigkeitstag | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 558 Seiten

Ford Unabhängigkeitstag


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25106-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 558 Seiten

ISBN: 978-3-446-25106-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
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Frank Bascombe, ehemals Sportreporter, jetzt Makler, plant zum Unabhängigkeitstag in Amerika am 4. Juli 1988 einen Ausflug mit seinem Sohn. Er setzt alle Hoffnung in dieses Wochenende, an dem er die Sorgen der letzten Zeit - Scheidung, Berufswechsel, eine neue Freundin, von der er nicht sicher ist, ob er sie liebt - hinter sich lassen und sich seinem seltsam verschlossenen Sohn wieder annähern kann. Franks Versuch, sein Leben nach einigen Katastrophen wieder zu ordnen, wird ausgerechnet an diesen Tagen von mehreren Seiten torpediert. Ein meisterhaft erzählter, komischer und kluger Roman über ein Ringen um Halt und Kontrolle.

Richard Ford wurde 1944 in Jackson, Mississippi, geboren und lebt heute in Maine. 1996 erhielt er für seinen Roman Unabhängigkeitstag den Pulitzer Prize und den PEN/Faulkner Award, 2019 den Library of Congress Prize for American Fiction. Bei Hanser Berlin erschienen zuletzt das Porträt seiner Eltern Zwischen ihnen (2017), der Erzählungsband Irische Passagiere (2020) und sein Roman Valentinstag (2023).
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1


In Haddam treibt der Sommer durch baumverschattete Straßen wie süßer Balsam eines achtlosen, träumerischen Gottes, und die Welt fällt in ihre eigenen geheimnisvollen Hymnen ein. Schattige Rasenflächen liegen still und feucht. Draußen, auf der friedlich-frühmorgendlichen Cleveland Street, höre ich die Schritte eines einsamen Joggers, der erst am Haus vorbeitrabt und dann den Hügel hinunter in Richtung Taft Lane und weiter zum Choir College, um dort auf dem feuchten Gras zu laufen. Im Schwarzenviertel sitzen Männer auf Türschwellen, die Hosenbeine über den Socken hochgekrempelt, und trinken in der zunehmenden trägen Hitze ihren Kaffee. Der Eheberatungskurs (4.00-6.00) in der High School entläßt seine Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die benommen und mit schläfrigen Augen wieder zurück ins Bett wollen. Während die High School-Kapelle auf ihrem Übungsplatz mit den zweimal täglich stattfindenden Proben beginnt und sich für den Vierten Juli in Stimmung bringt: »Buum-Haddam, buum-Haddam, buum-buum-babuum. Haddam-Haddam, auf denn, auf denn! Buum-buum-babuum!«

Anderswo an der Küste nennt der Wetterbericht den Himmel, wie ich gehört habe, verhangen. Die Hitze wird drückender, ein metallischer Geruch pulsiert durch die Nasenlöcher. Schon drohen die ersten Wolken eines sommerlichen Hitzegewitters am Horizont der Berge, und da, wo die leben, ist es heißer als da, wo wir leben. Der Wind steht so, daß man weit draußen auf der Strecke den Amtrak »Merchants Special« mit Kurs auf Philly vorbeijagen hört. Salziger Meeresgeruch treibt mit diesem Wind von weit her und mischt sich mit dämmrigen Rhododendron-Düften und den letzten standhaften Sommerazaleen.

Aber in meiner Straße, im laubbeschatteten ersten Block der Cleveland Street, herrscht wohltätige Stille. Einen Block weiter wirft jemand geduldig auf den Basketballkorb in seiner Auffahrt: ein Quietschen der Schuhe … ein Keuchen … ein Lachen, ein Husten … »Seehr schön, so ist’s guuut.« Alles gedämpft. Vor dem Haus der Zumbros, zwei Häuser weiter, rauchen die Straßenbauarbeiter in aller Ruhe eine Zigarette zu Ende, bevor sie ihre Maschinen anwerfen und den Staub wieder aufwirbeln. Dieses Jahr pflastern wir die Straßen neu, verlegen neue Kabel, säen am Straßenrand neuen Rasen, erneuern die Bordsteinkanten, geben unsere stolzen neuen Steuerdollar aus – die Arbeiter allesamt Kapverdianer und gerissene Honduraner aus den ärmeren Städten nördlich von hier. Sergeantsville und Little York. Sie sitzen, still vor sich hin starrend, neben ihren gelben Lastwagen, Planierraupen und Schaufelbaggern, während ihre schnittigen Wagen – Camaros und tief gelegte Chevys – um die Ecke geparkt sind, wo sie nicht so viel Staub abbekommen und es später schattig sein wird.

Und plötzlich setzt das Glockenspiel von St. Leo the Great ein: Gong, gong, gong, gong, gong, gong, gong, gefolgt von einem hellen, mahnenden Choral aus der Feder des alten Wesley höchstpersönlich: »Wachet auf, wachet auf, die Ihr gerettet werden wollt, wachet auf, wachet auf, und läutert Eure Seelen.«

Obwohl nicht alles hier ganz koscher ist, trotz des guten Anfangs. (Wann ist irgendwas schon ganz koscher?)

Ich selbst, Frank Bascombe, wurde Ende April auf der Coolidge Street, nur eine Straße weiter, überfallen, als ich nach einem guten Abschluß in der frühen Abenddämmerung zu Fuß nach Hause trabte, erfüllt vom Gefühl, etwas geleistet zu haben, in der Hoffnung, die Nachrichten noch zu erwischen, eine Flasche Roederer – das Geschenk eines dankbaren Verkäufers, für den ich einen guten Preis rausgeholt hatte – unter dem Arm. Drei Jungs, von denen ich einen, wie ich meinte, schon mal gesehen hatte – einen Asiaten, dessen Name mir aber später nicht mehr einfiel –, kamen auf ihren BMX-Rädern den Bürgersteig heruntergekurvt, zogen mir eine große Pepsiflasche über den Schädel und fuhren johlend weiter. Mir kam nichts abhanden, und mein Schädel blieb heil, obwohl ich wie ein Baum umkippte und zehn Minuten lang mit Sternen vor den Augen im Gras saß, ohne daß jemand etwas mitgekriegt hätte.

Später, Anfang Mai, wurde zweimal innerhalb derselben Woche in das Haus der Zumbros und ein weiteres eingebrochen. Offenbar hatten sie beim ersten Mal etwas übersehen und kamen zurück, um es sich zu holen.

Und dann wurde im Mai, zu unser aller Bestürzung, Clair Devane ermordet, unsere einzige schwarze Maklerin, eine Frau, mit der ich vor zwei Jahren eine kurze, aber intensive Affäre gehabt hatte. Tatort war eine Eigentumswohnung an der Great Woods Road in der Nähe von Hightstown, die sie einem Kunden zeigen wollte: Sie wurde gefesselt, vergewaltigt und erstochen. Keine verwertbaren Indizien – nur eine rosa Telefonnotiz auf dem Parkett der Diele, geschrieben in ihrer weit ausholenden Schrift: »Familie Luther. Suchen erst seit kurzem. Um die 90 Tsd. 15.00 Uhr. Schlüssel besorgen. Abendessen mit Eddy.« Eddy war ihr Verlobter.

Außerdem ziehen fallende Immobilienpreise wie ein böser Wind durch die Bäume. Alle spüren sie, obwohl unsere neuen bürgerlichen Errungenschaften – die neuen Streifenwagen, die neuen Fußgängerüberwege, die gestutzten Bäume, die in die Erde verlegten Stromkabel, die instandgesetzte Konzertmuschel und die Pläne für die Parade am Vierten Juli – dazu beitragen, um uns von unseren Sorgen abzulenken und davon zu überzeugen, daß unsere Sorgen keine Sorgen sind, oder wenigstens nicht allein unsere Sorgen, sondern die Sorgen von allen – also von niemandem. Und daß es in diesem Land immer darum ging, den Kurs zu halten, keinen Millimeter zurückzuweichen und sich von der zyklischen Natur der Dinge tragen zu lassen. Und daß jeder, der anders denkt, unseren Optimismus untergräbt, paranoid ist und sich jenseits der Staatsgrenzen einer kostspieligen »Behandlung« unterziehen sollte.

Und praktisch gesprochen und ohne zu vergessen, daß ein Ereignis nur sehr selten ein anderes einfach so nach sich zieht, muß es für eine Stadt, für ihren Lokalesprit, ja auch etwas bedeuten, wenn ihr Wert auf dem freien Markt fällt. (Warum sonst wären die Immobilienpreise ein Index für das nationale Wohlergehen?) Wenn die Aktien einer ansonsten gesunden Holzkohlenfirma plötzlich abstürzten, würde die Firma umgehend reagieren. Ihre Leute würden nach Einbruch der Dunkelheit eine Stunde länger an ihren Schreibtischen sitzen (wenn sie nicht auf der Stelle gefeuert würden); Männer würden noch müder als sonst nach Hause kommen, und zwar ohne Blumen mitzubringen, würden in den violetten Abendstunden länger einfach nur dastehen und die Bäume anstarren, die dringend gestutzt werden müßten, würden weniger freundlich mit ihren Kindern reden, würden vor dem Dinner noch einen Pimms mit ihrer Frau trinken und dann gegen vier Uhr morgens aufwachen, ohne daß ihnen viel, aber auf jeden Fall nichts Gutes im Kopf herumginge. Einfach eine Unruhe.

So ist es auch in Haddam, wo sich trotz unserer Sommerträgheit das bisher unbekannte Gefühl breitmacht, daß jenseits der engen Grenzen unserer Welt der Dschungel liegt. Eine Undefinierte dunkle Vorahnung unter unseren Einwohnern, an die sie sich, wie ich glaube, nie gewöhnen werden. Eher würden sie sterben, als sich damit abzufinden.

Zu den traurigen Tatsachen des Erwachsenenlebens gehört aber nun einmal, daß man genau die Dinge, an die man sich nie gewöhnen wird, am Horizont auf sich zukommen sieht. Man erkennt sie als Problem, man zerbricht sich den Kopf, man trifft Vorbereitungen und Vorkehrungen und überlegt sich Anpassungsmaßnahmen; man sagt sich, daß man die Art, wie man die Dinge anpackt, ändern muß. Bloß tut man es nicht. Man kann nicht. Irgendwie ist es schon zu spät. Und vielleicht ist es sogar noch schlimmer: Vielleicht ist das, was man von weitem auf sich zukommen sieht, gar nicht das, was einem solche Angst macht, sondern schon sein Nachspiel. Und das, was man fürchtet, ist schon passiert. Das Ganze ähnelt der Erkenntnis, daß all die großen Neuerungen der Medizin uns überhaupt nichts nutzen werden, obwohl wir sie bejubeln, obwohl wir hoffen, daß der neue Impfstoff rechtzeitig bereitstehen wird, obwohl wir denken, daß die Dinge doch noch besser werden könnten. Nur daß es auch hier zu spät ist. Und auf die Weise ist unser Leben vorbei, bevor wir es merken. Wir verpassen es. Wie der Dichter sagt: »Was man im Leben verpaßt, ist das Leben.«

Heute morgen bin ich früh auf den Beinen, in meinem Arbeitszimmer oben unter dem Dach, und gehe ein Angebot durch, das gestern abend kurz vor Feierabend »exklusiv« bei uns eingegangen ist und für das ich vielleicht jetzt schon Käufer habe. Angebote gehen häufig so unerwartet ein, als hätte die Vorsehung sie geschickt: Ein Hausbesitzer kippt ein paar Manhattans, dreht eine nachmittägliche Runde durch den Garten, um die Papierschnipsel einzufangen, die vom Müll der Nachbarn herübergeweht worden sind, harkt die letzten modrigen Blätter des Winters unter dem Forsythienstrauch hervor, wo sein alter Dalmatiner Pepper begraben liegt, begutachtet die Schierlingstannen, die er zusammen mit seiner Frau gepflanzt hat, als sie frisch verheiratet waren, vor langer, langer Zeit, wandert in Erinnerungen versunken durch Zimmer, die er selbst gestrichen, Bäder, die er lange nach Mitternacht gefugt hat, genehmigt sich unterwegs noch zwei steife Drinks, und plötzlich ist da dieser aufwallende und unterdrückte Schrei aus der Tiefe seines Herzens nach einem längst verlorenen Leben, das wir alle (wenn wir weiterleben wollen) loslassen müssen … Und peng: schon steht er am Telefon, stört einen Immobilienmakler bei seinem wohlverdienten Abendessen, und zehn Minuten später ist die Sache perfekt. (Durch einen glücklichen Zufall sind meine...


Ford, Richard
Richard Ford wurde 1944 in Jackson, Mississippi, geboren und lebt heute in Maine. 1996 erhielt er für seinen Roman Unabhängigkeitstag den Pulitzer Prize und den PEN/Faulkner Award, 2019 den Library of Congress Prize for American Fiction. Bei Hanser Berlin erschienen zuletzt das Porträt seiner Eltern Zwischen ihnen (2017), der Erzählungsband Irische Passagiere (2020) und sein Roman Valentinstag (2023).



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