E-Book, Deutsch, Band 4, 296 Seiten
Reihe: Konrad Sejer
Fossum Dunkler Schlaf
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-987-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller | Kommissar Konrad Sejer 4 | Psychologische Spannung für Fans von Håkan Nesser
E-Book, Deutsch, Band 4, 296 Seiten
Reihe: Konrad Sejer
ISBN: 978-3-98952-987-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe. Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Krimireihe um Eddie Feber mit den Romanen »Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind. Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«, die als Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind.
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Kapitel 1
Wer hat Andreas gesehen?
Diese Frage stand in der meistgelesenen Zeitung der Stadt, fett gedruckt. Das ist der Stil der Zeitungen, locker, sie sprechen uns an, als seien wir alte Bekannte und auf du und du. Wir sollen die formellen Barrieren einreißen und einen direkten jugendlichen Ton anschlagen in dieser frischen, vorwärtsstrebenden Gesellschaft. Obwohl nur wenige ihn wirklich gekannt und beim Vornamen genannt haben, wollen wir den Anfang machen und fragen: Wer hat Andreas gesehen?
Und dann sein Bild. Ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, mit schmalem Gesicht und widerspenstiger Mähne. Ich sage hübsch, so großzügig bin ich immerhin. So hübsch, daß er es zu leicht hatte. Er stolzierte mit seinem schönen Gesicht durch die Welt und hielt alles für selbstverständlich. Das ist ein altbekanntes Muster. Es tut keinem Menschen gut, so auszusehen. Zeitlos gewissermaßen, unbestimmbar. Ein betörender Junge. Es fällt mir nicht leicht, dieses Wort zu benutzen, aber sei’s drum. Betörend.
Am 1. September verließ er nachmittags das Haus in der Cappelens gate. Er sagte nicht, was er vorhatte. Wohin willst du? In die Stadt. So antwortet man in dem Alter. Ist sozusagen von grenzenlosem Geiz. Man hält sich für etwas ganz Außergewöhnliches. Und die Mutter war nicht gescheit genug, ihn zu bedrängen. Vielleicht hat sie an seinem Unwillen ihr Martyrium genährt. Der Sohn war im Begriff, sie zu verlassen, und sie fand das grauenhaft. Aber eigentlich geht es um Respekt. Sie hätte den Jungen so erziehen sollen, daß es für ihn undenkbar gewesen wäre, nicht klar und respektvoll zu antworten. Ich werde ausgehen, ja, mit X oder Y. Wir wollen in die Stadt. Bis Mitternacht bin ich wieder zu Hause. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt? Aber sie hat versagt, wie so viele andere. So geht es, wenn man alle Kräfte für sich selbst braucht, für das eigene Leben, die eigene Trauer. Ich weiß, wovon ich rede. Und die Trauer sollte noch größer werden. Er kehrte nie nach Hause zurück.
Ja, ich habe Andreas gesehen. Ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Viele werden staunen, wenn er endlich gefunden wird. Und natürlich werden sie spekulieren und rätseln, werden Berichte schreiben, diskutieren und archivieren. Lauter Theorien haben. Und sich irren natürlich. Die Menschen heulen mit vielen Stimmen. In diesem Lärm lebe ich seit fast sechzig Jahren stumm. Ich heiße Irma. Und jetzt rede endlich ich. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und ich behaupte nicht, daß ich die Wahrheit sage. Was Sie hier lesen, ist meine Version.
Eine Kindheitserinnerung fällt mir ein. Ich kann sie abrufen, wann immer ich will. Ich stehe in der Diele und habe eine Hand auf die Türklinke gelegt. Es ist still im Haus, aber ich weiß, daß sie da sind. Trotzdem ist kein Laut zu hören. Leise öffne ich die Tür und gehe in die Küche. Mutter steht am Küchentisch und häutet eine gekochte Makrele. Ich habe noch immer den Geruch in der Nase, einen süßlichen, unangenehmen Geruch. Mutters schwerer Körper bewegt sich, sie gibt zu erkennen, daß sie mich bemerkt hat. Vater ist am Fenster beschäftigt. Er schmiert Kitt in die Spalten, um Durchzug zu verhindern. Das Haus ist alt. Der Kitt ist weiß und weich wie Ton, er hat einen trockenen, kalkigen Geruch. Meine Schwestern sitzen am Küchentisch. Beide sind mit Büchern und Papieren beschäftigt. Ich erinnere mich an das blasse, leichte Übelkeit erregende Licht, das entstand, wenn die Sonne gelb in die grüne Küche schien. Ich bin vielleicht sechs. Instinktiv habe ich Angst vor Lärm. Ich bleibe stehen, allein stehe ich da und sehe sie an. Alle sind beschäftigt. Ich komme mir plötzlich ungeheuer unnütz vor, überflüssig, wie zu spät geboren. Ich denke oft, daß ich vielleicht ein Versehen war, das sie nicht rückgängig machen konnten. Meine Schwestern sind zwei Jahre auseinander. Acht Jahre nach der jüngeren kam ich. Wie konnte meine Mutter sich nach so langer Zeit noch ein Kind wünschen? Doch die Vorstellung, möglicherweise eine unangenehme Pflicht zu sein, läßt mich nicht verzweifeln. Der Gedanke ist zu alt, ich denke ihn schon so lange.
So lebendig ist diese Erinnerung, daß ich spüre, wie mein Rocksaum mich über dem Knie kitzelt. Ich stehe im gelbgrünen Licht und merke, wie allein ich bin. Niemand begrüßt mich. Ich bin die Kleinste. Habe keine wichtige Beschäftigung. Ich meine nicht, daß mein Vater alles hätte hinschmeißen und mich vielleicht hochheben und durch die Luft schwenken sollen, ich war zu schwer für ihn. Er hatte Rheuma, und ich war mollig und hatte Knochen wie ein Pferd. Das sagte meine Mutter immer. Wie ein Pferd. Es war eben nur Irma, die da kam. Kein Grund zur Aufregung. Die Köpfe, die unmerklichen Bewegungen für den Fall, daß es etwas Wichtiges sein könnte, und dann die Entdeckung, daß es nur Irma war. Wir waren zuerst hier, sagten sie.
Die Gleichgültigkeit verschlug mir den Atem. Ich hatte dasselbe Gefühl wie damals, als ich Mutter überredete, von meiner Geburt zu erzählen. Sie hatte mit den Schultern gezuckt, aber schließlich zugegeben, daß es mitten in der Nacht gewesen war und daß ein schreckliches Gewitter gewütet hatte. Donner und Sturm. Die Vorstellung, daß ich mit Gepolter und Krach auf die Welt gekommen war, hatte mir gefallen. Aber dann hatte sie mit trockenem Lachen hinzugefügt, daß es nach wenigen Minuten vorbei gewesen sei. Du bist wie ein Kätzchen rausgerutscht, hatte sie gesagt, und das gute Gefühl war verflogen. Ich wartete noch immer, blieb stocksteif stehen. Ich war doch immerhin eine ganze Weile weg gewesen. Alles Mögliche hätte passieren können. Wir wohnten schließlich am Meer. In regelmäßigen Abständen legten Schiffe aus fremden Ländern an. Matrosen streunten durch die Straßen und glotzten alles an, was über zehn war. Ja, ich war erst sechs, aber ich war kräftig wie ein Pferd, wie gesagt. Oder ich hätte bei der Gartnerhalle zerschmettert auf dem Asphalt liegen können, wir spielten doch immer auf dem flachen Dach. Später hielten da oben drei Schäferhunde Wache, aber in der ersten Zeit spielten wir dort, und ich hätte herunterfallen können. Oder von den Rädern eines Lkws zerquetscht werden. Manche haben zwanzig Räder, und das hätten nicht einmal meine Pferdeknochen überstanden. Aber sie machten sich keine Sorgen. Nicht deshalb, sondern wegen anderer Dinge. Wenn ich einen Apfel in der Hand hatte – wer hatte mir den geschenkt, denn ich hatte ihn doch wohl nicht gestohlen? Und ich hatte mich doch sicher artig bedankt? Und waren mir vielleicht auch Grüße an meine Eltern aufgetragen worden?
Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, suchte nach einer Aufgabe. Um in der Gemeinschaft, die sie meiner Meinung nach bildeten, aufzugehen. Nicht, daß sie mich ausgesperrt hätten, aber sie luden mich auch nicht ein. Eins kann ich Ihnen sagen: Diese vier Menschen hatten eine gemeinsame Aura. Sie war stark und klar und rotbraun, und sie zitterte kaum, anders als bei anderen. Sie umschloß die vier straff wie Faßdauben. Und ich stand außerhalb, umgeben von einem farblosen Nebel. Die Lösung war, etwas zu tun. Wer beschäftigt ist, kann nicht angezweifelt werden. Mir fiel nichts ein, ich hatte keine Hausaufgaben zu machen, denn ich ging noch gar nicht in die Schule. Also blieb ich stehen und starrte. Ich starrte die gekochte Makrele an und die Bücher, die überall herumlagen. Meinen Vater, der still und sorgfältig arbeitete. Wenn ich doch nur ein Stück von dem weißen Kitt hätte haben können. Um ihn zwischen den Fingern hin und her zu drehen!
Für eine lähmende Sekunde überkam mich etwas, das ich für wichtig halte. Wichtig, wenn ich mir selbst und Ihnen erklären will, wie das passieren konnte. Das mit Andreas. Ich ahnte plötzlich das gewaltige Regelwerk, das diesen Raum erfüllte. Das in der Stille lag, in den arbeitenden Händen, den verschlossenen Gesichtern. Ein Regelwerk, dem ich mich anpassen und das ich bis aufs I-Tüpfelchen befolgen mußte. Ich stand reglos in der stillen Küche und spürte, wie sich das Regelwerk von der Decke her wie ein Netz über mich senkte. Und die Erkenntnis überkam mich mit Macht: Innerhalb des Regelwerks war ich unangreifbar! Innerhalb dieses klaren Rahmens von Fleiß und Ziemlichkeit konnte mir niemand etwas tun. »Innerhalb« bedeutete, den Menschen ohne scheele Blicke begegnen zu können, ohne Anstoß zu erregen, und zugleich eine Art Frieden zu empfinden, weil ich wie die anderen war. Weil ich dachte wie die anderen. Vor meinem inneren Auge sah ich eine enge Gasse mit hohen Mauern. So sollte mein Leben aussehen. Und mich überwältigte eine tiefe Traurigkeit. Bis dahin hatte ich vielleicht an die Freiheit geglaubt. Wie Kinder das so tun, sie halten ja alles für möglich. Aber ich hatte eine Wahl getroffen, obwohl ich klein war und vielleicht nicht alles begriff. Um zu überleben, folgte ich einem uralten Instinkt. Ich wollte nicht allein sein, ich wollte lieber wie die anderen sein und die Regeln befolgen. Doch in diesem Moment entglitt mir etwas, es hob ab, flog davon und war für immer verschwunden. Deshalb kann ich mich so gut an diesen Augenblick erinnern. Dort in der Küche, im grünen Licht, im Alter von sechs Jahren verlor ich meine Freiheit.
Ein stummes, wohlerzogenes Kind. Auf Bildern, die zu Weihnachten und an Geburtstagen aufgenommen worden sind, sitze ich auf Mutters Schoß und schaue mit bravem Lächeln in die Kamera. Jetzt habe ich einen eisernen Kiefer, so fest, daß es mir Schmerzen in die Schläfen jagt. Wie konnte es so weit kommen? Sicher gibt es viele und unterschiedliche Gründe, und sicher ist auch der Zufall schuld daran, daß unsere Wege sich gerade an diesem Abend gekreuzt haben. Aber was ist mit dem eigentlichen Verbrechen? Mit diesem Impuls, woher stammt der? Wann ist der Mord entstanden? In dem Moment? Dann...