E-Book, Deutsch, Band 2, 351 Seiten
Reihe: Konrad Sejer
Fossum Fremde Blicke
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-466-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller | Kommissar Konrad Sejer 2 | »Niemand kann das Blut in den Adern so sehr gefrieren lassen.« Los Angeles Times
E-Book, Deutsch, Band 2, 351 Seiten
Reihe: Konrad Sejer
ISBN: 978-3-98952-466-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe. Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Krimireihe um Eddie Feber mit den Romanen »Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind. Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«, die als Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind.
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Kapitel 6
Torbjørn machte sich an seinem Funktelefon zu schaffen. Er war um die Sechzehn und hatte dunkle, halblange, leicht gewellte Haare, die er mit einem gemusterten Tuch bändigte. Die Zipfel ragten wie rote Federn aus dem Knoten auf, weshalb er wie ein bleicher Indianer aussah. Er schaute Ragnhilds Mutter nicht in die Augen, sondern starrte Sejer an und leckte sich immer wieder die Lippen.
»Du hast da wirklich eine wichtige Entdeckung gemacht«, sagte Sejer. »Bitte, schreib hier die Adresse auf. Weißt du noch, wie die Frau hieß?«
»Helga Moen. Nummer eins. Graues Haus mit Hundehütte.«
Er flüsterte das fast und schrieb die Adresse mit großen Buchstaben auf den Block, den Sejer ihm gereicht hatte.
»Ihr wart fast überall?« fragte Sejer.
»Wir waren zuerst auf der Kuppe, dann sind wir um den Schlangenweiher herumgegangen und haben uns auf den Waldwegen ein bißchen umgesehen. Wir waren auch an der Talsperre, beim Laden in Horgen und am Prestegårdsstrand. Und bei der Kirche. Und dann haben wir uns noch auf zwei Höfen, in Bjerkerud und im Pferdesportzentrum erkundigt. Ragnhild war, äh, ich meine, ist sehr an Pferden interessiert.«
Bei diesem Versprecher errötete er leicht. Sejer klopfte ihm auf die Schulter.
»Setz dich, Torbjørn.«
Er nickte zum Sofa hinüber, auf dem neben Frau Album noch Platz war. Jetzt hatte sie ein anderes Stadium erreicht, sie konzentrierte sich mit aller Gewalt auf die schwindelerregende Möglichkeit, daß Ragnhild vielleicht nie wieder nach Hause zurückkehrte und daß sie den Rest ihres Lebens ohne das kleine Mädchen mit den großen blauen Augen würde verbringen müssen. Diese Erkenntnis setzte wie kleine Stiche ein, mit denen sie sich behutsam vertraut machen mußte. Ihr Körper war wie erstarrt, so als habe sie eine Stahlschiene im Rücken. Die Beamtin, die bisher kaum ein Wort gesagt hatte, erhob sich langsam. Zum ersten Mal wagte sie, einen Vorschlag zu machen.
»Frau Album«, bat sie leise, »darf ich uns einen Kaffee kochen?«
Frau Album nickte kurz, stand dann auf und folgte der Beamtin in die Küche. Ein Wasserhahn wurde aufgedreht, Tassen klirrten. Sejer nickte unmerklich zu Karlsen hinüber und winkte ihn auf den Flur. Dort tuschelten sie miteinander. Torbjørn sah gerade noch Sejers Kopf und Karlsens schwarze, glänzende Schuhspitzen. Im Halbdunkel konnten sie unbemerkt auf die Uhr schauen. Das taten sie, dann nickten sie einander zu. Ragnhilds Verschwinden war blutiger Ernst, und der große Apparat mußte in Gang gesetzt werden. Sejer kratzte sich durch sein Hemd hindurch am Ellbogen.
»Ich kann die Vorstellung, sie in einem Graben zu finden, nicht ertragen.«
Er öffnete die Tür, um frische Luft zu schnappen. Und da stand sie. In rotem Trainingsanzug, auf der untersten Stufe, ein weißes Händchen lag auf dem Geländer.
»Ragnhild?« fragte er verwundert.
Eine glückliche halbe Stunde später, als der Wagen Skiferbakken hinunterglitt, fuhr er sich zufrieden mit den Fingern durchs Haar. Karlsen fand, daß es, so frischgeschnitten und kürzer als sonst, einer Stahlbürste ähnelte. So einer, mit der alte Farbe weggekratzt wird. Das scharfgeschnittene Gesicht sah friedlich aus, nicht verschlossen und ernst wie sonst. Auf halber Höhe des Hangs kamen sie an dem grauen Haus vorbei. Sie sahen die Hundehütte und ein Gesicht im Fenster. Wenn Helga Moen auf Besuch von der Polizei gehofft hatte, dann würde sie enttäuscht werden. Ragnhild saß wohlgeborgen auf dem Schoß ihrer Mutter und hielt ein dickes Butterbrot in der Hand.
Den Augenblick, als die Kleine das Haus betreten hatte, würden die beiden nie vergessen. Die Mutter, die das leise Sümmchen gehört hatte, stürzte aus der Küche und riß sie an sich, blitzschnell, wie ein Raubtier seine Beute packt, die es nie, nie wieder loslassen will. Ragnhild saß fest wie in einem Fuchseisen. Ihre dünnen Glieder und der weiße Haarbüschel lugten zwischen den kräftigen Armen der Mutter hervor. Und so blieben sie stehen. Nichts war zu hören, außer dem leisen Schluchzen von einer der beiden. Torbjørn machte sich wütend an seinem Telefon zu schaffen, die Beamtin klapperte mit den Tassen, Karlsen zwirbelte und zwirbelte seinen Schnurrbart, ein glückseliges Grinsen breitete sich aus. Im Zimmer wurde es heller, so als treffe die Sonne plötzlich voll auf die Fensterscheibe. Und dann rief die Mutter, lachend und schluchzend zugleich: »DU SCHRECKLICHES KIND!«
»Ich spiele mit dem Gedanken«, sagte Sejer und räusperte sich, »eine Woche Urlaub zu nehmen. Ich habe noch allerhand abzustottern.«
Karlsen ließ den Wagen über eine Rampe schaukeln.
»Was willst du in der Zeit machen? Fallschirm springen in Florida?«
»Ich will das Ferienhaus klarmachen.«
»Das ist doch in der Nähe von Brevik, oder?«
»Sandøya.«
Sie bogen auf die Hauptstraße ab und fuhren schneller.
»Ich muß dieses Jahr nach Legoland«, murmelte Karlsen. »Ich kann mich nicht länger daran vorbeimogeln. Die Kleine quengelt schon die ganze Zeit.«
»Das klingt ja wie eine Strafe«, sagte Sejer. »Legoland ist Klasse. Am Ende des Besuchs bist du garantiert überladen mit Legosteinen und absolut bekehrt. Du solltest unbedingt hinfahren. Du wirst es nicht bereuen.«
»Du warst also schon mal da?«
»Ja, mit Matteus. Weißt du, daß die nur aus Legosteinen eine Statue von Sitting Bull gemacht haben? Eins Komma vier Millionen ganz besonders gefärbte Legosteine. Es ist unvorstellbar!«
Er verstummte, entdeckte auf der linken Seite die Kirche, eine kleine weiße Holzkirche, ein Stück von der Straße entfernt, zwischen grünen und gelben Ackerzipfeln, umstanden von üppigen Bäumen. Ein hübsches Kirchlein, dachte er, hier hätte ich Elise begraben sollen. Auch wenn der Weg dann weiter wäre. Jetzt war es natürlich zu spät. Sie war seit über acht Jahren tot und begraben in der Innenstadt, gleich bei einer vielbefahrenen Hauptstraße, umgeben von Auspuffgasen und Lärm.
»Du meinst, daß mit der Kleinen alles in Ordnung war?«
»Hat so ausgesehen. Ich habe die Mutter gebeten anzurufen, wenn sie sich ein wenig beruhigt haben. Sie wird nach und nach sicher ein wenig gesprächiger werden. Sechs Stunden«, sagte er nachdenklich. »Das ist ziemlich lange. Muß ein charmanter Eigenbrötler gewesen sein.«
»Er hatte ja offenbar einen Führerschein. So ganz außen vor kann er also nicht sein.«
»Das wissen wir doch nicht, ob er einen Führerschein hat.«
»Nein, verdammt, da hast du recht«, mußte Karlsen zugeben. Er bremste abrupt und hielt bei der Tankstelle, im sogenannten Zentrum, wo es außerdem noch Post, Bank und Friseur gab. Ein Plakat mit der Mitteilung »Medikamentenausgabe« war ans Fenster des Lebensmittelladens geklebt worden, und der Friseur lockte mit einer neuen Sonnenbank.
»Ich brauche einen Schokoriegel. Kommst du mit rein?«
Sie gingen in den Laden, und Sejer kaufte Zeitung und Schokolade. Er schaute aus dem Fenster auf den Fjord hinab.
»Entschuldigung«, sagte die junge Frau hinter dem Tresen, »aber Ragnhild ist doch hoffentlich nichts passiert?«
Nervös starrte sie Karlsens Uniform an.
»Kennen Sie sie?« Sejer legte Geld auf den Tresen.
»Nein, kennen ist zuviel gesagt, aber ich weiß, wer sie ist. Ihre Mutter hat sie heute morgen hier gesucht.«
»Ragnhild geht es gut. Sie ist wieder zu Hause.«
Sie lächelte erleichtert und reichte ihm das Wechselgeld.
»Sind Sie von hier?« fragte Sejer. »Kennen Sie die meisten Leute?«
»Ich glaube schon. So viele wohnen hier ja nicht.«
»Wenn ich frage, ob Sie einen Mann kennen, der möglicherweise ein wenig eigen ist und der einen Kastenwagen fährt, einen alten, häßlichen und fleckigen Kastenwagen, klingelt es dann bei Ihnen irgendwo?«
»Hört sich an wie Raymond.« Sie nickte. »Raymond Låke.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Er arbeitet in der Behindertenwerkstätte. Wohnt mit seinem Vater in der Bruchbude auf der anderen Seite der Kuppe. Raymond ist mongoloid. Dreißig Jahre alt vielleicht und sehr lieb. Sein Vater hatte übrigens früher diese Tankstelle. Ehe er in Rente ging.«
»Hat er einen Führerschein?«
»Nein, aber er fährt trotzdem. Mit dem Auto seines Vaters. Der Alte ist bettlägerig, er kann nichts dagegen machen. Der Lensmann weiß Bescheid und staucht ihn ab und zu zusammen, aber das hilft nicht viel. Er ist sehr komisch, fährt immer im zweiten Gang. Hat er Ragnhild mitgenommen?«
»Ja«
»Dann konnte ihr wirklich nichts passieren.« Sie lächelte. »Raymond würde sogar anhalten, um einen Marienkäfer über die Straße zu lassen.«
Mit immer breiter werdendem Lächeln gingen sie wieder zu ihrem Auto. Karlsen biß in seinen Schokoriegel und schaute auf die Uhr.
»Nett hier«, sagte er kauend.
Sejer, der sich ein altmodisches Marzipanbrot gekauft hatte, folgte seinem Blick. »Der Fjord ist tief, über dreihundert Meter. Wird nie wärmer als siebzehn Grad.«
»Kennst du hier Leute?«
»Ich nicht, aber meine Tochter, Ingrid. Sie war hier auf einer heimatkundlichen Wanderung von der Sorte, wie sie im Herbst arrangiert werden. ›Lern dein Dorf besser kennen.‹ So was liebt sie.« Er wickelte das Silberpapier zu einem dünnen Röllchen auf und schob es in seine Hemdentasche. »Können Mongoloide gute Autofahrer werden, was meinst du?«
»Keine Ahnung«, sagte Karlsen. »Aber denen fehlt ja nichts, nur haben sie eben ein Chromosom zuviel. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist ihr größtes Problem, daß sie langsamer lernen als andere. Und ihr Herz ist schwach. Deshalb werden sie nicht alt. Und dann ist da noch irgendetwas mit ihren...