Fossum | Stumme Schreie | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 361 Seiten

Fossum Stumme Schreie

Thriller | Kommissar Konrad Sejer 5 | Die Abgründe einer kleinen norwegischen Gemeinde
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-69076-036-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Thriller | Kommissar Konrad Sejer 5 | Die Abgründe einer kleinen norwegischen Gemeinde

E-Book, Deutsch, 361 Seiten

ISBN: 978-3-69076-036-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



»Eine spannende, aufwühlende Milieustudie. Ein Meisterwerk.« Freundin Kommissar Konrad Sejer hat in seiner Laufbahn schon vieles gesehen, doch der Anblick der jungen Inderin, die nun im Gras vor ihm liegt, erschüttert ihn bis ins Mark: keine Stelle ihres schönen Kleides, die nicht von Blut durchtränkt ist. Nicht einmal zwölf Stunden vor ihrem Tod, hat die Inderin Poona zum ersten Mal Norwegen betreten. Wie kam sie ausgerechnet in das abgelegene Fleckchen Elvestad? Niemand hier scheint sie zu kennen. Niemand will etwas gesehen haben. Doch Konrad Sejer ahnt, dass er nur abwarten muss, bis in dieser eingeschworenen Gemeinde jemand die Nerven verliert und den ersten Fehler macht?... Der fünfte Fall in der skandinavischen Thrillerreihe um Konrad Sejer, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann, und die Fans von Jo Nesbø und Henning Mankell mitreißen wird. 

Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe. Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Krimireihe um Eddie Feber mit den Romanen »Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind. Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«, die als Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind.
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Kapitel 2


Gunder wohnte in einem Ort namens Elvestad. Elvestad hatte zweitausenddreihundertsiebenundvierzig Einwohner. Eine Holzkirche aus dem Mittelalter, restauriert 1970. Eine Tankstelle, eine Schule, ein Postamt und eine Kneipe. Die Kneipe war eine unschöne Mischung aus Baracke und Scheune auf vier Pfählen. Eine breite Holztreppe führte zur Eingangstür. Beim Hineingehen stand man sofort vor der Musikbox. Einer Wurlitzer, die noch immer funktionierte. Das Dach zeigte ein rotweißes Schild mit der Aufschrift »Einars Kro«. Abends leuchtete das Schild in grellen Neonfarben.

Einar Sunde hatte die Kneipe schon seit siebzehn Jahren. Außerdem hatte er Frau und Kind und Schulden bis über beide Ohren, woran ein protziges Schweizer Chalet außerhalb des Ortskerns schuld war. Inzwischen aber konnte er seine Schulden abtragen, weil er nun auch Bier ausschenken durfte. Aus diesem schlichten Grund war Einars Kro immer gut besucht. Er kannte die Leute aus dem Ort und führte seinen Laden mit eiserner Hand. Immer machte er die Geburtsjahre der jungen Leute ausfindig und hielt die Hand vor den Zapfhahn, wenn sie noch zu jung für Alkohol waren. Der Ort besaß auch ein Bürgerhaus, wo Hochzeiten und Konfirmationen gefeiert wurden. In der Umgebung lebten überwiegend Bauern. Dazu kamen einige Zugezogene, die mit dem schwärmerischen Traum vom friedlichen Landleben aus der ein Stück weiter gelegenen Stadt geflohen waren. Das ruhige Leben hatten sie jetzt. Das Meer war nur eine halbe Stunde entfernt, die salzige Luft jedoch drang nicht bis hierher vor, im Frühjahr roch es nach Zwiebeln und Porree oder beißend nach Dünger, im Herbst nach süßen Äpfeln. Einar kam aus der Hauptstadt, hatte aber kein Heimweh. Er betrieb die Kneipe ganz allein. Solange er sie hatte, würde es niemand wagen, im Umkreis von zwanzig Kilometern eine weitere aufzumachen. Er wollte seine Kneipe betreiben, solange er aufrecht stehen konnte. Und weil er Suff und Streitereien verhindern konnte, trauten sich alle herein. Die Hausfrauen verlangten Kaffee und Kuchen, die Kinder Würstchen und Cola, die Jugendlichen ein Bier. Er lüftete sorgfältig, machte gewissenhaft sauber, leerte die Aschenbecher und erneuerte die abgebrannten Teelichter. Seine Frau wusch die rotweißkarierten Tischdecken zu Hause in der Waschmaschine. Seiner Kneipe fehlte es zwar an Stil, dafür aber erlaubte er auch keinen richtigen Kitsch. Vasen mit Plastikblumen gab es bei ihm nicht. Erst vor kurzem hatte er sich eine größere Spülmaschine für die Gläser geleistet. Die Gesundheitsbehörde könnte seine Küche gern inspizieren, die war in Bezug auf Ausrüstung und Sauberkeit absolut zufriedenstellend.

Hier, in Einars Kro, erfuhren die Leute, was im Ort so passierte. Wer mit wem zusammen war, wer sich gerade getrennt hatte, welcher Bauer jeden Moment Haus und Hof verlieren konnte. Ein einziges Taxi stand den Dörfern zur Verfügung. Kalle Moe fuhr einen weißen Mercedes und war fast immer telefonisch zu erreichen, war immer nüchtern und immer zu Diensten. Und wenn nicht, dann besorgte er aus der Stadt Ersatz. Solange Kalle im Dorf Taxi fuhr, war kein Platz für ein zweites. Er war über sechzig. Mögliche Nachfolger standen schon in den Startlöchern.

Einar Sunde stand sechs Tage die Woche in seiner Kneipe, an allen Werktagen bis zehn Uhr abends. Samstags hatte er bis Mitternacht geöffnet, sonntags geschlossen. Er war ein langer dünner Mann, mit langen dünnen Armen und rötlichen Haaren. Immer steckte ein Geschirrtuch in seinem Hosenbund, das beim ersten Fleck gewechselt wurde. Seine Frau Lillian, die ihn außer in der Nacht fast nie sah, lebte ihr eigenes Leben, und die beiden hatten keine Gemeinsamkeiten mehr. Sie brachten es nicht einmal mehr über sich, miteinander zu streiten. Einar hatte keine Zeit, um von einem besseren Leben zu träumen, er mußte arbeiten. Das Chalet hatte, inklusive Sauna und Fitnessraum, den er nie benutzen konnte, glatte eins Komma sechs Millionen verschlungen. In der Kneipe versammelte sich der harte Kern des Dorfes. Er bestand aus jungen Männern zwischen achtzehn und dreißig, mit oder ohne Freundinnen. Weil sie Einars Kro hatten, wo Bier ausgeschenkt wurde, kamen sie nie in die Stadt und lernten deshalb auch keine Mädchen von außerhalb kennen. Alle konnten zu Fuß in die Kneipe gehen, so klein war das Dorf. Lieber tranken sie ein paar Bier mehr, als aus der Stadt ein teures Taxi zu nehmen. Und deshalb heirateten sie Frauen aus dem Ort und blieben dort wohnen. Doch ehe es so weit kam, wurden die Kandidatinnen durchprobiert. Das sorgte für eine seltsame Gemeinschaft mit vielen ungeschriebenen Gesetzen.

Nach allerlei Debatten im Gemeinderat hatte Elvestad ein Einkaufszentrum erhalten, und jetzt staubte der Dorfladen neben der Tankstelle vor sich hin. Im Einkaufszentrum hatte eine unternehmungslustige Seele zwei Sonnenbänke installiert, eine zweite einen Blumenladen eröffnet, die dritte eine kleine Parfümerie. Im ersten Stock lagen Arzt- und Zahnarztpraxis und Annes Frisiersalon. Die jungen Leute aus dem Dorf gingen nicht dorthin. Sie ließen sich die Haare in der Stadt schneiden. Perlen und Ringe für Nabel und Nase besorgten sie sich ebenfalls dort. Anne kannte ihre Mütter und Väter und war imstande, besondere Wünsche zurückzuweisen. Die Alten immerhin kauften weiterhin treu im Dorfladen von Ole Gunwald ein. Sie wanderten mit karierten Einkaufswagen und alten grauen Rucksäcken dorthin und kauften Lungenhaschee und Blutpudding und Stinkkäse. Ole Gunwald war das nur recht. Er hatte schon längst alle Schulden abbezahlt.

Gunder ging nie in die Kneipe, aber Einar wußte, wer er war. Ein seltenes Mal schaute Gunder herein und kaufte sich ein Erdbeereis, das er, bei gutem Wetter, am Plastiktisch vor dem Eingang verzehrte. Einar kannte Gunders Haus, wußte, daß es an die vier Kilometer vom Ortskern entfernt an der Straße nach Randskog lag. Und es gab im ganzen Umkreis keinen Bauern, der seine Geräte nicht von Gunder gekauft hätte. Jetzt kam er gerade zur Tür herein und hatte die Hand schon in die Innentasche geschoben.

»Wollte nur fragen«, sagte er verlegen und für seine Verhältnisse sogar ein wenig hektisch, »wie lange man wohl braucht, um von hier aus mit dem Auto zum Flughafen zu fahren.«

»Nach Gardermoen?«, fragte Einar. »Da mußt du mit anderthalb Stunden rechnen. Bei einem Auslandsflug mußt du eine Stunde vorher da sein. Also zweieinhalb. Und ich an deiner Stelle würde sicherheitshalber noch eine halbe Stunde dazugeben.«

Er wienerte gerade einen dreieckigen Aschenbecher. »Morgenflug?« fragt er neugierig.

Gunder fischte ein Cornetto aus der Gefriertruhe.

»Zehn fünfzehn.«

»Dann mußt du früh hoch.«

Er drehte sich um und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Sunde war nicht freundlich, er lächelte nicht, sondern spielte konsequent die beleidigte Leberwurst und wich Gunders Blick aus. »Ich an deiner Stelle würde um sieben losfahren.«

Gunder nickte und bezahlte. Er wollte lieber Einar fragen, als der Dame von der Fluggesellschaft seine Unwissenheit einzugestehen. Einar kannte Gunder und würde ihn niemals in Verlegenheit stürzen. Doch schon am selben Abend würde der Ort von seiner Reise erfahren.

»Soll’s weit gehen?«, fragte Einar so ganz nebenbei und machte sich an den nächsten Aschenbecher.

»Ungeheuer weit«, antwortete Gunder vage. Er riß das Papier vom Eis und ging. Aß, während er die letzten Kilometer zu seinem Haus fuhr. Jetzt hatte der Kneipier wirklich Grund zum Nachdenken. Und Gunder war das nur recht so.

Marie war außer sich. Sie wollte sich sofort ins Auto setzen und herkommen. Ihr Mann Karsten war auf Dienstreise, und sie langweilte sich und wollte alles wissen. Gunder zögerte, denn Marie hatte einen scharfen Blick, und die Vorstellung, von ihr entlarvt zu werden, sagte ihm gar nicht zu. Aber sie ließ sich nicht beirren. Eine Stunde später stand sie in der Tür. Gunder räumte gerade auf. Wenn er nicht allein aus Indien zurückkehrte, mußte im Haus alles in schönster Ordnung sein. Marie kochte Kaffee und wärmte Waffeln auf. Sauerrahm und Marmelade hatte sie in einer Plastikdose mitgebracht. Gunder war gerührt. Sie standen einander sehr nah, aber sie ließen sich nichts anmerken. Er wußte nicht, ob sie mit Karsten glücklich war, sie erwähnte ihn nie, er schien gar nicht zu existieren. Kinder hatten sie nie gehabt. Aber sie sah gut aus. Dunkel und hübsch, wie früher die Mutter. Klein und rundlich, aber munter und lebhaft. Gunder meinte, sie hätte jeden haben können, aber sie begnügte sich mit Karsten. Sie sah auf dem Tisch das Buch »Die Völker dieser Erde« und nahm es auf den Schoß. Es öffnete sich automatisch bei dem Bild der indischen Schönheit. Und Marie sah ihren Bruder an und lachte.

»Ja, jetzt begreife ich, was dich nach Indien zieht, Gunder. Aber dieses Buch ist alt. Die Frau ist jetzt sicher um die vierzig und runzlig und häßlich. Weißt du, daß Inderinnen wie fünfzehn aussehen, bis sie dreißig sind? Und dann sind sie plötzlich alt. Das kommt von der Sonne, verstehst du? Vielleicht solltest du dir eine suchen, die diesen Prozeß schon hinter sich hat. Dann weißt du, was du bekommst.«

Sie lachte so herzlich, daß auch Gunder kichern mußte. Er hatte keine Angst vor Runzeln. Vermutlich im Gegensatz zu Marie. Sie hatte keine einzige, und dabei war sie schon achtundvierzig. Er strich Sauerrahm auf eine Waffel.

»Mich interessieren vor allem Küche und Kultur«, sagte er. »Und Kunst. Musik. Das alles.«

»Ja, das kann ich mir denken«, lachte Marie. »Wenn ich in Zukunft zum Essen komme, dann wirst du mir sicher einen Eintopf servieren, der mir bis in die Zehen hinunterbrennt. Und an deinen Wänden werden lauter Drachen hängen.«

»Das kann ich nicht ausschließen«, sagte er...



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