E-Book, Deutsch, 1570 Seiten
France Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-80-268-2561-6
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
47 Titel in einem Buch: Die Rote Lilie + Die Götter dürsten + Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérôme Coignard + Der fliegende Händler + Das Hemd eines Glücklichen...
E-Book, Deutsch, 1570 Seiten
ISBN: 978-80-268-2561-6
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Anatole France (1844 - 1924) war ein französischer Schriftsteller. Am berühmtesten wurden die Romane Die Insel der Pinguine und Die Götter dürsten. 1921 erhielt er den Literaturnobelpreis. Von heutigen Lesern wird Anatole France vor allem als Romancier wertgeschätzt. Inhalt: Romane: Die Götter dürsten (Les dieux ont soif) Die Rote Lilie (Le Lys Rouge) Thais Erzählungen: Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen: Crainquebille Putois Riquet Die Krawatte Die großen Manöver von Montil Der verkannte Patriot Das doppelte Gesicht Der Siegelring Die Signora Chiara Die rechtschaffenen Richter Der Christ des Ozeans Ein Traum Sancta Justitia Hausdiebstahl Der kleine Schornsteinfeger oder Wohlangebrachte Mildtätigkeit Das Hemd eines Glücklichen: König Christoph, seine Regierung, seine Sitten und seine Krankheit Das Heilmittel des Doktors Rodrigo Die Herren von Vierblatt und von Waldteufel suchen einen Glücklichen im Königlichen Schloß Jeronimo Die Königliche Bibliothek Der Marschall Herzog von Volmar Von den Beziehungen zwischen Glück und Reichtum Die Salons der Hauptstadt Das Glück, geliebt zu werden Wenn das Glück darin liegt, nicht mehr zu fühlen ... Sigismund Dux Ob das Laster eine Tugend ist ... Der Pfarrer Handschuh Ein Glücklicher Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérôme Coignard: Der Abbé Jérôme Coignard Die Staatsminister Der heilige Abraham Der Mississippiskandal Die Ostereier Das neue Ministerium Die Stadtväter Die Wissenschaft Das Heer Die Akademiker Die Empörer Die Staatsstreiche Die Historie Der Tugendbund Die Justiz
Weitere Infos & Material
Drittes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Am selben Nachmittag ging Evarist zu dem Kupferstichhändler, dem Bürger Jean Blaise, der auch Tuschkästen, Papierwaren und allerlei Spiele verkaufte. Sein Laden in der Rue St. Honoré, gegenüber dem Oratorium, trug das Firmenschild »Amor als Maler«. Es lag im Erdgeschoß eines Hauses, das etwa sechzig Jahre alt war. Die Türwölbung trug als Schlußstein eine gehörnte Satyrfratze. Im Bogen unter der Wölbung prangte ein Ölbild, das den »Sizilianer oder Amor als Maler« nach einem Gemälde von Boucher darstellte. Jean Blaises Vater hatte es im Jahre 1770 anbringen lassen, und seitdem war es durch Sonne und Regen verblichen. Rechts und links von der Tür öffnete sich je ein gleichfalls gewölbtes Fenster mit einem Nymphenkopf als Schlußstein. Hinter riesigen Spiegelscheiben prangten Modekupfer und die letzten Novitäten in bunten Stichen. Heute waren galante Szenen von Billy, etwas nüchterne Arbeiten, ausgestellt: »Die Schule der ehelichen Liebe« und »Sanfter Widerstand«, die bei den Jakobinern Anstoß erregten, und die die Puritaner bei der Kunstgesellschaft denunziert hatten. Ferner eine »Promenade« von Debucourt mit einem Stutzer in gelbem Beinkleid, der sich auf drei Stühlen rekelte, Pferdebilder von dem jungen Karl Vernet, Luftballons, »das Rad der Virginia« und Figuren nach der Antike. In dem Schwarme der Bürger, der an dem Laden vorbeikam, waren es just die Zerlumptesten, die am längsten vor den beiden schönen Schaufenstern verweilten. Sie waren zerstreuungslustig, begierig auf Bilder und wollten ihren Anteil an den Gütern der Welt wenigstens mit den Augen besitzen. Offenen Mundes standen sie davor, während die Aristokraten nur einen Blick hinwarfen, die Stirn runzelten und vorübergingen. Sobald Evarist den Laden von fern erblickte, schaute er zu einem Fenster im ersten Stock auf, und zwar zu dem linker Hand, hinter dessen gebauchtem eisernem Balkon ein Topf roter Nelken stand. Es war das Fenster von Elodies Zimmer, der Tochter des Kupferstichhändlers, denn Jean Blaise wohnte mit seinem einzigen Kinde im ersten Stockwerk des Hauses. Einen Augenblick blieb Evarist vor dem »Amor als Maler« stehen, wie um Atem zu holen, dann drückte er auf die Türklinke. Im Laden fand er die Bürgerin Elodie. Sie hatte Stiche verkauft, zwei Arbeiten von Fragonard Sohn und Naigeon, die aus einem Stoß andrer sorgfältig ausgesucht waren; und bevor sie die Assignate, die sie erhalten hatte, in die Kasse einschloß, hielt sie eins nach dem andern achtsam gegen das Licht, um ihre Wasserzeichen zu prüfen, denn es gab so viel falsches wie echtes Papiergeld, und der Handel wurde dadurch schwer geschädigt. Wie früher die Fälscher des Königsnamens, so bestrafte man jetzt die Papiergeldfälscher mit dem Tode: trotzdem gab es in allen Kellern Platten für Assignate; die Schweizer führten Millionen falschen Papiergeldes ein, man warf es bündelweise in die Gasthäuser; die Engländer luden täglich ganze Ballen davon an den französischen Küsten aus, um die Republik in Mißkredit zu bringen und die Patrioten ins Elend zu stürzen. Elodie fürchtete nicht nur, falsches Papiergeld zu bekommen, sondern noch mehr, welches in Umlauf zu setzen und dann als Komplizin von Pitt behandelt zu werden. Gleichwohl verließ sie sich auf ihr Glück in dem sicheren Gefühl, allen Lebenslagen gewachsen zu sein. Evarist schaute sie mit jenem düsteren Blick an, der besser als alles Lächeln die Liebe verrät. Sie erwiderte diesen Blick mit einem spöttischen Mäulchen, wobei sie ihre schönen schwarzen Augen verdrehte. Sie tat es, weil sie sich geliebt wußte und nicht böse darüber war, und auch, weil solche Frätzchen einen Liebenden reizen, ihn zu Klagen verleiten und ihn zur Erklärung seiner Liebe drängen, sofern er das noch nicht getan hat. Und das war bei Evarist der Fall. Als sie die Assignate in die Kasse gelegt hatte, zog sie aus ihrem Nähkörbchen einen weißen Schal, den sie zu sticken begonnen, und setzte ihre Arbeit fort. Sie war fleißig und gefallsüchtig und griff daher instinktiv zur Handarbeit, um Gefallen zu erregen und sich zugleich etwas Schmückendes zu machen. Auch stickte sie ganz verschieden, je nach dem, der ihr zusah. Wollte sie zarte Sehnsucht erwecken, so stickte sie nachlässig, wollte sie jemand zum Spaß in Verzweiflung treiben, so machte sie launische Nadelstiche. Als Evarist kam, arbeitete sie sorgfältig, weil sie ein ernstes Gefühl in ihm wachrufen wollte. Elodie war weder die Jüngste noch die Schönste. Auf den ersten Blick konnte man sie häßlich finden. Sie hatte dunkles Haar und gelblichen Teint; unter ihrem großen, weißen nachlässig geknoteten Kopftuche quollen rabenschwarze Haarlocken hervor, und ihre glühenden Augen schienen ihre Wimpern zu versengen. Ihr volles, lustiges Antlitz mit den leicht vorspringenden Backenknochen, dem Stumpfnäschen und dem ländlichen, üppigen Ausdruck gemahnten den Maler an den Kopf des borghesischen Fauns, dessen göttlichen Mutwillen er von einem Gipsabguß kannte und schätzte. Ein leichter schwarzer Flaum über dem Munde setzte seinen Akzent auf die brennenden Lippen. Ihr Busen, wie von Liebe geschwellt, hob das Brusttuch, das sie nach der Jahresmode geknotet trug. Ihre schlanke Taille, ihre flinken Beine, ihr ganzer kräftiger Körper bewegten sich mit ungestümer, köstlicher Grazie. Ihr Blick, ihr Atem, ihr Zusammenschaudern, alles an ihr wirkte aufs Herz und versprach Liebe. Hinter dem Ladentisch machte sie den Eindruck einer Ballettnymphe, einer Bacchantin vom Opernhause, die ihr Pantherfell, ihren Thyrsusstab und ihre Efeugirlanden abgelegt hatte und nun ehrbar und wie verzaubert in der bescheidenen Hülle einer Chardinschen Hausfrau dasaß. »Mein Vater ist nicht zu Hause«, sagte sie zu dem Maler. »Warten Sie ein Weilchen, er wird gleich wiederkommen.« Ihre kleinen bräunlichen Hände zogen die Nadel flink durch den Stoff. »Gefällt Ihnen das Muster, Herr Gamelin?« Evarist besaß eine gerade Natur. Und die Liebe, die seinen Mut entflammte, übertrieb seine Aufrichtigkeit. »Sie sticken sehr geschickt, Bürgerin, aber, wenn Sie es hören wollen: das vorgezeichnete Muster ist nicht schlicht und einfach genug; man spürt den gekünstelten Geschmack, der in Frankreich in den dekorativen Künsten, in Stoffen, Möbeln, Wandverkleidungen nur zu lange geherrscht hat. Diese Schleifen und Girlanden erinnern an den kleinlichen, zopfigen Stil, der unter dem Tyrannen Mode war. Jetzt bekommt man wieder Geschmack! Ach! wir waren tief gesunken. Zur Zeit des verruchten Ludwig XV. hatte die Dekoration etwas Chinesisches. Man machte dickbäuchige Kommoden mit lächerlichen, geschweiften Griffen, die zu nichts taugen, als zum Ofenheizen und zur Erwärmung der Patrioten. Nur das Einfache ist schön. Wir müssen zur Antike zurück. David entwirft Betten und Lehnstühle nach etruskischen Vasen und den Wandgemälden von Herkulanum.« »Solche Betten und Lehnstühle habe ich gesehen«, nickte Elodie. »Das ist schön! Bald wird man nichts andres mehr wollen. Ich bewundere die Antike ganz wie Sie.« »Nun also, Bürgerin,« fuhr Evarist fort, »hätten Sie diese Stickerei mit einem Mäanderband, Efeuranken, Schlangen oder gekreuzten Pfeilen verziert, so wäre sie eines Spartaners würdig … und Ihrer selbst. Immerhin können Sie das Muster behalten und es nur vereinfachen, mehr gerade Linien hineinbringen.« Sie fragte, was sie fortlassen sollte. Er neigte sich auf die Arbeit herab; Elodies Locken streiften seine Haare. Beider Hände begegneten sich auf der Leinwand, und ihre Atemzüge vermischten sich. Evarist fühlte sich beseligt, doch als er Elodies Lippen dicht neben den seinen fühlte, fürchtete er, dem jungen Mädchen zu nahe zu treten, und zog den Kopf rasch zurück. Die Bürgerin Blaise liebte Gamelin; sie fand Gefallen an seinen großen glühenden Augen, seinem schönen, ovalen Gesicht, seiner Blässe und seinem dichten, schwarzen Haar, das in der Mitte gescheitelt war und in Locken auf seine Schultern herabfiel. Sie liebte sein gesetztes Benehmen, seine kalte Miene, sein herbes Wesen, seine feste, niemandem schmeichelnde Sprache. Und da sie in ihn verliebt war, so schrieb sie ihm einen stolzen Künstlergeist zu, der sich eines Tages in Meisterwerken entladen und seinen Namen berühmt machen würde; und darum liebte sie ihn doppelt. Die Bürgerin war zwar keine Verehrerin männlicher Sittsamkeit; sie war nicht moralisch entrüstet, wenn ein Mann seinen Leidenschaften, seinen Wünschen und Neigungen nachgab. Sie liebte den keuschen Evarist also nicht wegen seiner Keuschheit, sie fand diese nur vorteilhaft, weil sie ihr Eifersucht und Argwohn ersparte und jede Besorgnis vor Rivalinnen ausschloß. In diesem Moment schien ihr seine Zurückhaltung freilich zu groß. Wenn Racines Aricia den Hippolyt liebte und die herbe Tugend des jungen Helden bewunderte, so hoffte sie diese doch zu besiegen, und über eine Sittenstrenge, die zu ihren Gunsten sich nicht erweichte, hätte sie bald geklagt. Sobald sich also Gelegenheit bot, machte sie ihm eine halbe Liebeserklärung, um ihn zu zwingen, ihr sein Herz zu entdecken. Nach dem Vorbild der zärtlichen Aricia war auch die Bürgerin Blaise fest der Meinung, daß die Frau in der Liebe das erste Wort sprechen soll. »Die am stärksten lieben«, sagte sie sich, »sind die schüchternsten. Man muß ihnen nachhelfen und sie ermutigen. Ihre Herzensunschuld ist zudem so groß, daß eine Frau ihnen auf halbem Wege, ja noch weiter entgegenkommen kann, ohne daß sie es merken; so kann sie ihnen den Schein eines kühnen Angriffs und den Ruhm der Eroberung lassen.« Über den Ausgang dieses Liebeshandels war sie ohne...