E-Book, Deutsch, 124 Seiten
Franke Verborgene Welten oder Die Reise zum verlorenen Ich
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99012-805-3
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 124 Seiten
ISBN: 978-3-99012-805-3
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Franke, geboren 1967, ist Schriftsteller und Inhaber einer Werbeagentur. Er lebt und arbeitet in Klosterneuburg. Zuletzt erschien die Erzählung 'Die Welt zwischen Null und Eins' (2017).
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DIE SUCHE
Frühmorgens machte ich mich auf den Weg. Nach langem Suchen fand ich den richtigen Eingang. Schnell ging ich die Treppe hoch und stand vor der Tür Nummer 12 – unschlüssig. Das Türschild zeigte keinen Namen. Ich nahm meinen Finger wieder von der Türglocke.
Angst. Schrecklich, sie zu überwinden.
Schließlich läutete ich doch. Unsicher. Nichts war zu hören. Vielleicht war Sveinsson nicht zu Hause. Aber das Licht im Vorraum. Es schimmerte durch die Ritzen. Endlich Schritte. Ich erinnere mich immer noch an das tiefe, wohlklingende »Herein!« Vor mir stand Einar Sveinsson. Er sah mich freundlich an, bat mich weiter und führte mich durch den Flur Richtung Wohnzimmer. Sveinsson wirkte für sein Alter erstaunlich jugendlich: ein großer, stattlicher Mann mit aristokratischem Auftreten. Sein Haar war lang und dicht und fiel ihm bis auf die Schultern. Unter herabgesunkenen Augenbrauen leuchteten mir blaue, sanfte Augen entgegen. Er trug einen langen Brokatmantel, der seinen Körper wie ein imaginärer Schutzschild umschloss. Die Tür des kleinen Arbeitszimmers war geöffnet, doch Sveinsson gab mir keine Gelegenheit, es näher zu inspizieren. Ich konnte nur einen kurzen Blick in das Zimmer werfen, mehr gestattete er mir nicht. Im Vorbeigehen schloss er die Tür. Im Wohnzimmer angekommen, zog er sogleich die Vorhänge zu, sodass es noch düsterer wurde, als es ohnehin schon war, und setzte sich in seinen Lehnstuhl. Nur neben seinem Stuhl glomm ein kleines Tischlämpchen. Sein Wohnraum war voll von den schönsten Gemälden, Möbelstücken und Büchern. Ein weißer Kater machte es sich auf einem Chippendale-Sofa gemütlich, blickte kurz auf und verschlief wohl den größten Teil des Tages. Dahinter stand ein stilvolles Bücherregal, das bis knapp unter die Decke reichte, es fiel mir sofort auf, da mir die edle James-Joyce-Jubiläumsausgabe, die ich auch in meiner Sammlung hatte, sofort entgegenleuchtete. Alle Bücher waren auf das Genaueste geschlichtet. Folgende Geistesgrößen hatte er – alphabetisch geordnet – in seiner Sammlung: Aristoteles, Descartes, Epikur, Fichte, Hegel, Hume, Husserl, Jaspers, Kant, Kierkegaard, Locke, Machiavelli, Montaigne, Nietzsche, Platon, Schopenhauer, Sokrates, Spinoza, Voltaire und Wittgenstein. Alle Werke von und über diese Philosophen waren in Sveinssons beeindruckender Bibliothek zu finden, die durch seine eigenen Aufzeichnungen und Abhandlungen über die Grundfragen der Philosophie noch ergänzt wurden. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, in dieser Wohnung einige Monate von Sveinsson festgehalten zu werden – zugegebenermaßen ein abwegiger Gedanke –, um mich in aller Ruhe mit diesen Geistesmenschen vertraut zu machen und die grundlegenden Problemstellungen mit ihren Methoden und der Weise ihrer Beantwortung wirklich kennenzulernen, zu studieren, um dann in das Reich des Wissens einzutauchen. Dass die Frage nach dem Wesen aller Dinge, nach der Stellung des Menschen in der Welt, nach dem Sinn des Seins, die Grundlage unseres Denkens, eigentlich unser Fundament ist und sich nur die wenigsten dafür interessieren, war mir schon immer völlig klar gewesen.
Das Philosophieren muss man sich leisten können! Glücklicherweise war ich dazu in der Lage, da mein Erspartes für ein paar Monate ausreichte. Wiewohl ich wusste, dass meine Zeit auf Island begrenzt war, verschwendete ich kaum einen Gedanken an meine Rückkehr. Ich verdrängte, dass ich einen Rückflug gebucht hatte. Irgendwann werde ich zurückkehren, zurück in eine andere Welt, zurück in ein erbärmliches Leben. Eine unumstößliche Tatsache, ohne Frage. Aber ich war nun einmal hier, und ich fühlte mich heimisch wie nie zuvor. Also versuchte ich zu genießen, was zu genießen war.
Einige wissenschaftliche Zeitschriften lagen auf einer kleinen Kommode, einem soliden Empiremöbel mit schweren Metallgriffen, andere waren fein säuberlich in einer Kiste geschlichtet. Daneben stand eine kleine Bronzeplastik. Nach Sveinssons Schätzung war sie an die tausend Jahre alt. Woher er dieses Stück hatte, wusste Sveinsson nicht mehr genau zu sagen. Eine Pfeife, eine Zündholzschachtel, eine alte Füllfeder sowie einige Blätter Papier lagen auf einem Schreibschrank, der mitten im Raum stand und in einer Durchschnittswohnung völlig fehl am Platz gewesen wäre, sich aber in dieser Wohnung harmonisch einordnete. Ich stand lange vor einem Bild, das einen Menschen zeigte, der sich an einer Schiefertafel über dem Abgrund festklammerte und diese mit äußerster Kraftanstrengung zu überwinden suchte.
»Ein großartiges Bild«, sagte ich.
»Faszinierend, nicht wahr?«, antwortete Sveinsson.
»Wie heißt der Künstler?«, fragte ich neugierig.
»John Martin.«
»Hat er dem Bild auch einen Titel gegeben?«
Sveinsson nickte.
Nach einer Pause sagte er: »Sadak auf der Suche nach dem Wasser des Vergessens.«
Gedankenverloren wiederholte ich den Satz. Auch ich war auf der Suche, ich wusste zwar noch nicht, was ich suchte, aber das Wasser des Vergessens war es mit Sicherheit nicht, nein, ich wollte nur einige Dinge verstehen und etwas klarer sehen. Neben dem Bild von John Martin hing ein düsteres Bild von Francis Danby, das ich schon in London gesehen hatte.
»Leider keine Originale …«, sagte Sveinsson und lachte.
Mir fiel auf, dass Sveinsson kaum gealtert, fast faltenlos war und noch immer eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Foto hatte, das ich immer bei mir trug und das einen jungen Mann zeigte; als ob die Zeit angehalten worden wäre. Vor mir stand eindeutig der junge Sveinsson. So eine Ähnlichkeit gab es kein zweites Mal. Ich habe ihn gefunden, dachte ich. Aber was nun?
»… außer dem Bild Femme fatale von Erró«, fuhr Sveinsson fort. Die Bilder von den namhaften Malern habe ein befreundeter Künstler für ihn nachgemalt, erklärte er. Einige großformatige Bilder, von Malern, die mir gänzlich unbekannt und keine Kopien waren, hingen in seinem Vorzimmer. Sie seien noch nichts wert, so Sveinsson, aber dennoch schön.
Ein weiteres großes, auch sehr düsteres Bild zeigte viele blutbeschmierte Felsbrocken. »Und wie heißt dieses Bild?«, wollte ich alles ganz genau wissen.
»Hiadningawig«, antwortete Sveinsson.
Fragend schaute ich ihn an. »Existieren diese Felsbrocken tatsächlich?«, erkundigte ich mich schließlich.
»Merken Sie sich eines, mein Freund, nichts existiert, und selbst wenn doch etwas existiert, ist es nicht erkennbar, und sollte es doch erkennbar sein, so ist es nicht mitteilbar.« Dann fragte er mich, ob mir die isländische Literatur bekannt sei.
Ich verneinte.
Ich fügte jedoch hinzu, dass ich mich ein wenig mit der Edda auseinandergesetzt hätte. Aus der Gegenwartsliteratur sei mir nichts außer Laxness, Gudmundsson und Sveinsson bekannt.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir«, sagte er und deutete auf das Sofa. »Ich möchte Ihnen gern etwas erzählen, damit Sie verstehen.«
Ich setzte mich und Sveinsson begann zu erzählen: »Einst machte ein König namens Hedin viele Kriegsgefangene. Unter anderem auch Hilde, die Tochter von König Högni. Als dies Högni erfuhr, war er verständlicherweise nicht sehr erfreut und segelte mit seinem Heer an die Küste Norwegens, wo er Hedin vermutete. Als er aber nach Norwegen kam, erfuhr er, dass Hedin sich westlich fortbewegt hatte. Da segelte ihm Högni so lange nach, bis sich ihre Wege kreuzten. Endlich sah König Högni seine Tochter wieder. Hilde bot ihrem Vater in Hedins Namen ein Halsband zum Vergleich an. Der König lehnte jedoch ab. Beide waren schnell zum Kampf bereit und ordneten ihre Heere. Hedin startete sogar noch einen letzten Versuch und bot König Högni Vergleich und viel Gold. Doch Högni antwortete mit dem Schwert. Somit begann die Schlacht Hiadningawig. Es gab ein großes Blutbad. In der Nacht, als alle schliefen, weckte Hilde durch Zauberkunst die Toten, die am nächsten Tage wieder mit ihren Kameraden in die Schlacht zogen. Der Kampf fand kein Ende. Also mussten alle, die da fielen, alle Schwerter und alle Schilde zu Stein werden, um dem grausigen Spiel ein Ende zu bereiten. Nur: Sobald es tagte, standen alle wieder auf und kämpften weiter bis zur Götterdämmerung.«
Sveinsson zog das Wort »Götterdämmerung« besonders in die Länge und schaute mich dabei interessiert an. »Ein fremdes, aber reizvolles Weltbild, das diese Geschichte vermittelt. Finden Sie nicht?«
Ich schwieg.
»Eine Schlichtung von Konflikten gibt es nicht, alles ist festgelegt, alles hat seine Ordnung«, sagte Sveinsson ruhig.
»Es wird alles hingenommen?«, fragte ich verwundert.
»Es wird hingenommen, ein finsterer Fatalismus, mein Freund.«
Sveinsson sprach jetzt seit einer gefühlten Stunde, und seine Worte verformten sich in meinem Geist zu monumentalen Bildern.
Wie spät war es eigentlich?
Ich wagte nicht auf die Uhr zu sehen, nein, das wäre nicht angebracht gewesen. Ich ärgerte mich ein wenig, da mir keine weitere Frage oder passende Anmerkung einfiel, ich spürte, dass Sveinsson darauf wartete.
Langes Schweigen war die Folge.
Schrill klingelte das Telefon, wodurch ich die für mich etwas peinliche Situation gerettet sah.
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, sagte Sveinsson zu mir und verließ rasch das Zimmer.
Wie wörtlich ich seine Aufforderung nehmen würde, konnte er beim besten Willen nicht ahnen. Nach einer kurzen Zeit des Abwartens betrat ich das kleine Arbeitszimmer, schloss hinter mir ab, sah mich kurz um und durchwühlte – wie von Sinnen – die Kästen, in der Hoffnung, etwas zu finden, das mir bei meiner Suche...




