Franzobel | Das Floß der Medusa | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 592 Seiten

Franzobel Das Floß der Medusa

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-552-05843-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 592 Seiten

ISBN: 978-3-552-05843-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen ... Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Wie hoch ist der Preis des Überlebens?

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021), »Einsteins Hirn« (2023) und »Hundert Wörter für Schnee« (2025).
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Ein fetter Morgen


Dreimal neun ist Donnerstag, und der 18. Juli des Jahres 1816 war ein herrlicher Donnerstag. Kein Wölkchen trübte den azurblauen Himmel, die Sonne blendete, und selbst die Luft, sonst dunstig, war klar wie ein Kristall. Etwa dreißig Seemeilen vor der Küste Westafrikas glitt die Brigg Argus durch die glatte See. Tümmler und Delphine sprangen neben ihr her, Möwen umkreisten das Kielwasser, zogen Bögen, hoben und senkten sich, berührten mit den Federspitzen fast das Wasser. Die Bewegungen an Bord griffen so harmonisch ineinander wie bei einem komplizierten Räderwerk. Keine Anstrengung war zu spüren.

Dann geriet ein Sandkorn ins Getriebe. Es war elf Uhr vormittags, die Argus war einige Meilen über Nouakchott, mittlerweile Hauptstadt von Mauretanien, ungefähr auf Höhe von Portendick, da meldete der Toppsmatrose zwei Strich Steuerbord ein seltsames Objekt. Niemand ahnte, was das bedeutete. Am wenigsten wir, doch werden wir es bald erfahren.

Was für ein Objekt? Der Kapitän, Léon Parnajon, zog an seiner Pfeife, ließ sich das Fernrohr reichen und konnte nichts entdecken – weder ein Schiff noch eine Insel. Treibgut? Erst Minuten später geriet etwas in die kleine Fernrohrwelt, sah der Kommandant eine schwimmende Plattform mit einem Zelt darauf. Mauren? Berber? Andere Kameltreiber? Eine abgetriebene Behausung der Wüstenbewohner? Geflohene Sklaven? Es kam zu jener Zeit ständig vor, dass Schwarze ihre Aufseher überwältigten und absurd anmutende Fluchtversuche unternahmen. Als der Kapitän noch nach einer Erklärung suchte, sah er eine taumelnde Gestalt. Sie stellte sich an den Rand der Plattform, bog den Kopf nach hinten und … ja, kein Zweifel, der Mann urinierte – so, wie es aussah, in die Hand und … ja, das gibt’s doch nicht, er trank das Zeug. Sobald der Pisskopp aufblickte und die Segel der Argus sah, begann er wild zu hüpfen und zu winken. Jetzt kletterte er gar auf den Mast, schwenkte ein Tuch.

Immer mit der Ruhe, Pisskopp. Wir haben dich bereits gesehen.

Der Kerl konnte sich nicht lange halten, glitt den Mast hinunter und verschwand im Zelt. Jetzt kamen andere heraus, winkten ebenfalls. Als sie sahen, dass die Argus näher kam, sie entdeckt waren, fielen sie einander um den Hals, umarmten sich.

Nein, das sind keine geflohenen Sklaven. Keine Darkies. Vielleicht Schiffbrüchige? Von der Medusa? Unmöglich! Die Medusa ist vor zwei Wochen gestrandet, jetzt kann man mit Glück Überlebende an der Küste finden, vielleicht das Wrack.

Eine halbe Stunde später hatte die Argus das seltsame Gefährt erreicht. Offensichtlich ein Floß. Oder die Zugbrücke einer Burg? Jedenfalls hatte das Vehikel, da hatte sich der Kapitän nicht getäuscht, einen kleinen Mast und ein Sonnenzelt. Der Schiffsjunge zählte dreizehn, vierzehn, fünfzehn ausgemergelte Gestalten. Die meisten waren nackt, trugen aber Stiefel, die an den dünnen Beinen komisch wirkten – wie Kinderfüße in zu großen Schuhen. Wandelnde Skelette! Einer hatte eine Flachsperücke auf, gelbe Uniformjacke und einen Säbel umgebunden. Sein Dreispitz wies ihn als Angehörigen der Armee aus. Franzosen? Oder Piraten? Nur fünf konnten sich auf ihren Beinen halten, die anderen lagen oder kauerten. Man ließ das Beiboot zu Wasser und ruderte zu ihnen hin.

– Seid vorsichtig, rief Parnajon. Vielleicht ist es eine Falle. Vielleicht …

Nein, keine Falle. Als man nahe genug war, sah man hohle Augen, das Gestrüpp stacheliger Bärte, ausgedörrte Lippen, trocken wie Pergamentpapier. Verbrannte Schultern, abgeschälte Haut, alles voller Wunden, Blasen. Nein, das waren keine Sklaven, keine Berber und auch keine Piraten, sondern Europäer. Pissköpp! Aber was für welche! Skelette mit hervorstehenden Brustkörben, harfenförmigen Beckenknochen und fladenartigen, nur noch aus Hautlappen bestehenden Arschbacken. Ihr Haupthaar, starr vom Salz, glich alten Polstersesselfüllungen. Und die Augen? Düster verschleiert, wahnsinnig. Was waren das für welche? Wandelnde Leichen? Was hatten die erlebt? Wir wissen es noch nicht, aber gemach, wir werden es erfahren.

Ein jämmerliches Bild. Totengesichter, kraftlose dünne Arme, zerschlissene Kleider, Fetzen. Ein erbärmlicher, abstoßender Anblick. Dagegen sieht sogar das Lumpengesindel von Paris noch nobel aus. Der Kapitän, selbst nur eine Randfigur in unserer Geschichte, ließ sie an Bord bringen und befahl, ihnen Fleischbrühe und Wein zu reichen. Außerdem Cognac mit verrührten Eiern.

Kapitän Parnajon wie alle anderen an Bord der Argus wussten, diese ausgemergelten Gestalten, diese wandelnden Leichen waren die Schiffbrüchigen, die Überlebenden des Floßes der Medusa. Die Totgeglaubten, die letzten fünfzehn von ursprünglich hundertsiebenundvierzig Menschen, die dreizehn Tage auf diesem Floß überlebt hatten. Dreizehn Tage! Er zog an seiner Pfeife und sah auf die dilettantische Bretterkonstruktion, auf das zeltähnliche Segel. Unglaublich, wie sich dieses Ding so lange über Wasser halten konnte. Was er dann sah, ließ ihm das Blut gefrieren, es war ein Fuß, der zwischen zwei Brettern steckte, abgeschlagen oberhalb des Knöchels. Das Fleisch war graugelb, aufgedunsen, die ganze Form verschwommen, schwammig, doch der Fuß war zu erkennen. Und Parnajon, wir können seinen Namen bald wieder vergessen, sah noch etwas, kleine graue Streifen, die an Seilen hingen. Getrockneter Fisch? Alter Frühstücksspeck? Nein, der Kapitän wusste, das war Menschenfleisch! Wie sonst hätten diese fünfzehn fast zwei Wochen überleben können? Die Pissköpp hatten nicht nur ihren Urin getrunken, sondern sich auch gegenseitig aufgefressen. Parnajon, von dessen Existenz wir ohne diese Überlebenden nichts mehr wüssten, verschluckte sich am Pfeifenrauch und hustete. Ob er ahnte, dass es dieser Tag war, dieses Floß, diese grauen Fleischstreifen, die ihm eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern sicherten? Einen Platz bei den Fußnoten im Buch Unsterblichkeit.

Kannibalismus war unter Seeleuten nichts völlig Abwegiges, solange die Regeln eingehalten wurden. Sogar die allerheiligste katholische Kirche duldete den Verzehr von Menschenfleisch in Extremsituationen. Aber fünfzehn Überlebende von hundertsiebenundvierzig? Waren hier die Regeln eingehalten worden? Oder hatte man nur eine Regel gekannt, die des Stärkeren? Hatte man sich gegenseitig abgeschlachtet und dann aufgefressen?

Kaum waren die Geretteten an Bord, fielen welche auf die Knie und dankten Gott dem Herrn. Einer umarmte den Schiffsjungen, ein anderer den Kapitän, der ihn aber eingedenk der Urinszene leicht angeekelt auf Distanz hielt. Vier waren so schwach, dass sie getragen werden mussten, und ein anderer schrie etwas von seinem Geldbeutel, der noch an Bord des Floßes sei: Mein Geld! Meine Papiere! Nur mit Mühe konnte er davon abgehalten werden, ins Wasser zu springen. Ein Nächster bestellte Champagner, Austern, Langusten, Meringue-Kuchen und eine Serviette.

– Sagen Sie der Musikkapelle, sie darf ruhig lauter spielen. Und bitten Sie die Damen, sich zu gedulden. Ich werde bald mit ihnen tanzen. Kein Zweifel, er hatte den Verstand verloren. Ein weiterer, es war der Geologe Alexandre Corréard, auf den wir noch zurückkommen werden, meinte trocken:

– Meine Herren, ich bin außer mir, Sie kommen um ganze zehn Minuten zu spät. Nennen Sie das Pünktlichkeit? Schlamperei! Wenn das in Mode kommt … Er versuchte zu lächeln, und als niemand auf den Scherz, den er sich tagelang zurechtgelegt hatte, reagierte, brach er zusammen.

Es waren Scheintote mit stumpfen Augen. Augen, die zu viel gesehen hatten. Nur einer stach hervor, wirkte kräftiger, gesünder: der mit der gelben Uniformjacke, der Flachsperücke und dem Dreispitz, den er nun an seine Brust drückte. Er hatte einen dichten, stacheligen Bart, ein fleischiges, rosafarbenes Gesicht und stechend blaue Augen. Sah man genauer hin, erkannte man, dass auf seiner zerschlissenen Uniformjacke die Knöpfe fehlten und das Leder seiner Stiefel zerbissen war, mit Salzkrusten geädert.

– Jean Baptist Henri Savigny, Zweiter Schiffsarzt der Medusa. Mit einer tiefen Verbeugung stellte er sich vor, nicht nur Kapitän Parnajon, auch uns, der Welt. Dann holte er tief Luft und sagte mit erstaunlich kräftiger Stimme:

– Die Welt muss wissen, und sie wird erfahren, was wir erlebt haben … Wir sind am Leben, weil es unsere Pflicht gewesen ist zu überleben, der Menschheit unser Schicksal darzulegen … Er sprach von der Strandung der Medusa auf der Arguin-Sandbank, von Rettungsbooten, die sie verlassen hatten, einer Meuterei. Wie ein Wasserfall sprudelten die Wörter aus ihm heraus. Gekapptes Tau, Stürme, ein Schmetterling, fliegende Fische, Haie, eine zweite Meuterei, zerschlagene Wasserfässer, Weinrationen und so weiter.

– Sie müssen Josephine verständigen, meine Verlobte. Sagen Sie ihr, ich lebe, und sie soll Limonade machen. Eine große kalte Limonade. Ein Fass voll Limonade. Zwölf Scheffel! Und ein Cassoulet mit einer Gans. Ragout. Tarte Tatin – nein, die wird erst achtzig Jahre später erfunden werden, also Apfelkuchen. Crème brûlée, Profiteroles, Gefrorenes …

Erst als Parnajon die Hände hob und ihm bedeutete, er solle sich das für später aufbewahren, spürte auch er, wie ihm die Sinne schwanden. Er bat den Kapitän, einen Zug von der Pfeife nehmen zu dürfen, »darauf freue ich mich seit zwei Wochen«, dann, der Schiffsführer gab sie ihm widerwillig, sank er zusammen, musste gestützt werden, sprach aber immer noch von Josephine:

–...


Franzobel
Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021), »Einsteins Hirn« (2023) und »Hundert Wörter für Schnee« (2025).



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