Franzobel | Wiener Wunder | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Franzobel Wiener Wunder

Kriminalroman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-552-05705-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-552-05705-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anonyme E-Mails bringen Falt Groschen, 45, Kommissar im Morddezernat der Wiener Polizei, üblicherweise nicht mehr aus der Ruhe. Erst als er erfährt, dass der Sportler und 400-Meter-Rekordhalter Edgar Wenninger wirklich in den Tod gestürzt ist, beginnt er zu ermitteln. Noch am Tatort erscheint der zwielichtige Doping-Fahnder Hanns Hallux. Groschen scheucht korrupte Sportartikelvertreter auf und den windigen Journalisten Walter Maria Schmierer; Wenningers Frau Marion übt mit dessen ehemaligem Trainer nicht nur für den Triathlon, und Wenningers Manager taucht unter. Als auch er tot aufgefunden wird, nimmt der Fall eine verblüffende Wendung.

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021), »Einsteins Hirn« (2023) und »Hundert Wörter für Schnee« (2025).
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WETTER RIECHEN


Es war ein regnerischer Oktobertag. Auf den Straßen Wiens standen Wasserlachen, und wenn man nicht nahe an der Hauswand ging, wurde man von rücksichtslosen Autofahrern nassgespritzt. Ein kalter Wind pfiff durch die Gassen, so stark und böig, dass es Hüte und kleine Hunde davonwehte, Schirme umbog und fahrende Motorräder um einen halben Meter versetzte. In einem Außenbezirk war ein Baugerüst umgestürzt und hatte drei Arbeiter in den Tod gerissen. Die letzten Gastgärten waren seit Tagen geschlossen.

Trotz dieses miesen Wetters hatte sich Kriminalkommissar Groschen nicht wie seine Inspektoren vom Turko-Italiener etwas bringen lassen, sondern war zum Chinesen gegangen, um sein Lieblingsmenü, Nummer zehn, zu speisen. In dem Lokal hingen jede Menge feuchter Mäntel und Hüte, die Fenster waren beschlagen, und es roch schon winterlich. Heute waren es besonders wenig Meeresfrüchte und besonders viele Chilischoten, dafür wurde die Frühlingsrolle aus Unachtsamkeit erst nach der Hauptspeise gebracht. Auf dem Bier fehlte der Schaum, und beim Zahlen hatte ihm die kleine, immer lächelnde Chinesin glatt um dreißig Euro zu wenig rausgegeben. Wenn er sie nicht seit Jahren gekannt hätte, wäre ihm dieses zerstreute Verhalten verdächtig vorgekommen. So aber trank er den lauwarmen Pflaumenwein, der hier als Digestif gereicht wurde, und begab sich zurück in die Vorlaufstraße, in das Hauptquartier der Wiener Kriminalpolizei.

Auf seinem Schreibtisch warteten Berge von Akten. Schreiben von Gerichten, Anfragen, Bewilligungen, Beschwerden, Interviewgesuche von angehenden Soziologen – lauter Dinge, die Kommissar Groschen nicht interessierten. Die unteren Enden seiner Hosenbeine waren nass, und er spürte ein paar Lauchreste zwischen den Zähnen, als ihm Inspektor Gordon Zwilling wortlos einen Zettel überreichte. Eine ausgedruckte E-Mail. Absender: Ein Fan. Betreff: Mord.

Groschen, der in letzter Zeit immer wieder das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, lief ein Frösteln über den Rücken, als er die folgenden Zeilen las. Es war, als ob ihm eine Hand durch die Gedärme fuhr, sein Herz packte und zudrückte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wieso, stand da doch nur:

»Sehr geehrte Kriminalpolizei, in den nächsten Tagen wird ein hierzulande bekannter Sportler einen vermeintlichen Selbstmord begehen. Dabei wird es sich um eine geschickte Inszenierung handeln, die ein Verbrechen verschleiern soll. Mord! Lassen Sie sich bloß nicht täuschen und den Täter ungestraft davonkommen. Seien Sie wachsam! Hochachtungsvoll, ein Fan.«

Groschen sah Zwilling an, der mit den Achseln zuckte.

– Bis jetzt hat sich kein Sportler umgebracht. Ich denke, wir müssen das nicht ernst nehmen. Bestimmt irgendein Spinner, der sich wichtigmacht.

– Bevor du zu viel denkst, überprüfe lieber die Herkunft, brummte Groschen.

– Haben wir bereits gemacht, sagte Zwilling nicht ohne Stolz. Die Mailadresse war extra für diese Mail errichtet und weder davor noch danach verwendet worden.

– Und wer hat geschrieben?

– Daran arbeiten wir, sagte der Inspektor und verließ das Zimmer. Er war ein bisschen missmutig, weil der Kommissar gar nicht gefragt hatte, wieso das mit der Mailadresse bereits bekannt war. Normalerweise musste man eine Eingabe machen, einen langwierigen Behördenweg beschreiten, um einen meist in Übersee sitzenden E-Mail-Dienst dazu zu bringen, sensible Kundendaten freizugeben. Das konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern und eine Ermittlung völlig zum Erliegen bringen. Gordon Zwilling, ein cholerisch aufbrausender Typ, hatte es diesmal mit Charme und Beziehungen innerhalb eines Vormittags geschafft. Aber wurde er dafür gelobt?

Wie sein Inspektor dachte auch ein Großteil in Kriminalkommissar Groschen, dass es sich bei dieser Mail entweder um einen schlechten Scherz oder um das Produkt eines Spinners handelte. Die Kriminalpolizei wurde oft mit derartigem Zeug belästigt. Briefe, E-Mails und Anrufe, bei denen man von vornherein ahnte, sie enthielten nur Unsinn. Manche kündigten den Weltuntergang oder eine Verschwörung an, andere fühlten sich verfolgt, und wieder andere wollten einen Mord beobachtet haben. Siebzig Prozent Spinner und fünfundzwanzig Prozent Verwechslungen und Phantasie. Aber ganz abtun konnte man das trotzdem nicht, weil schließlich gab es auch noch jene fünf Prozent, die zur Aufklärung eines Verbrechens beitrugen. Und genau zu diesen fünf Prozent, das spürte der andere, kleinere Teil in Groschen, gehörte diese Mail. Das Gefühl des Beobachtetwerdens und das Frösteln, das ihm beim Lesen über den Rücken gelaufen war, gehörten ebenfalls dazu. Es war nicht mehr als eine dunkle Ahnung, die ihm das verriet, ein diffuses Bauchgefühl. Trotzdem befahl der Kommissar, sonst ein kühler Denker, dass man ihm in nächster Zeit die Akten aller Selbstmorde übermitteln müsse.

Anders als vor nunmehr beinahe dreißig Jahren, als Groschen hierhergezogen war, war das einst graue und missmutige Wien mittlerweile eine fröhliche, bunte Stadt. Überall moderne Restaurants, in denen internationale Küche serviert wurde (Experimental-Sushi oder Walfischburger), Szenelokale, Ausstellungsräume, offene Bücherschränke, Radwege, Montessori-Kindergärten und vieles andere zeigte, die Stadt war im Aufbruch. Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb?, brachten sich um nichts weniger Menschen um als vor zwanzig, dreißig Jahren, als Wien noch mit der verdrucksten Lebens- und Lustfeindlichkeit der Nachkriegszeit getränkt gewesen war. Die einen jagten sich eine Kugel in den Kopf, die anderen sprangen wo runter oder hängten sich am Türstock auf. Manche vergifteten sich mit Medikamenten, andere öffneten sich in der Badewanne eines Hotelzimmers die Hauptschlagader, warfen sich vor die U-Bahn, in die niemals blaue Donau oder rammten sich ein Küchenmesser in den Bauch. Um niemanden zur Nachahmung zu animieren, durften die Zeitungen darüber nur dann berichten, wenn es sich um Prominente handelte, also selten, dennoch geschahen diese Suizide beinahe täglich. Mehr als zweihundert Menschen brachten sich in Wien jährlich um. Mehr Selbstmörder als Verkehrstote. Österreich kam in der Suizid-Statistik gleich hinter Litauen, Ungarn und Slowenien. Und wenn Groschen beim Fenster rausblickte, konnte er auch verstehen, warum. Der Herbst war wie ein Winken mit dem Partezettel, der den eigenen Tod verkündete. Die Tage wurden kürzer, und die braunen Blätter am Boden zeigten an, es gab kein Entrinnen vor der eigenen Vergänglichkeit. Vorbei war die Zeit, in der man barfuß durch Wiesen laufen konnte, vorbei die Zeit, in der man mit nacktem Oberkörper an einem See saß und Eis schleckte. Vorbei die Zeit.

Es waren trostlose Akten von Hoffnungslosen und Gescheiterten, die Groschen in den folgenden Tagen auf den Tisch bekam. Menschen mit unheilbaren Krankheiten oder unbezahlbaren Schulden. Andere waren gekündigt oder vom Ehepartner verlassen worden, wieder andere waren depressiv, mit der Familie zerstritten oder von Schicksalsschlägen gebeutelt, und bei manchen gab es gar keinen ersichtlichen Grund. Und obwohl sich im Herbst, wie man Groschen versicherte, weniger Menschen umbrachten als im Sommer, der Hochzeit für Selbstmörder, trugen die Bilder, die ihm der Erkennungsdienst jetzt täglich auf den Schreibtisch legte, nicht gerade zur Aufhellung seiner Stimmung bei. Zumal der Himmel immer noch bleiern war und einem der Wind ins Gesicht peitschte, sobald man sich auf die Straße wagte. Ein Wetter, bei dem man jede Lebenslust verlor. Ein, wie Groschens kleine Nichte sagte, saures Wetter. Mitverantwortlich dafür, dass in Wien kaum jemand elegante Schuhe trug. Wien speiste sich seit Jahrhunderten von Menschen, die vor ein, zwei Generationen noch auf dem Land gelebt hatten, in unwirtlichen, von Murenabgängen und Überschwemmungen bedrohten Gegenden, in denen man nur Gummistiefel oder feste Schnürschuhe tragen konnte. War das der Grund, weshalb in Wien kaum jemand richtig gehen konnte? Die meisten fühlten sich in leichten Halbschuhen unwohl, und ihr trippelnder, nur die Fußballen belastender Schritt glich dem einer Chinesin, der man jahrelang die Füße abgeschnürt hatte.

Mittlerweile waren zehn Tage seit Erhalt der ominösen Mail vergangen, zehn Tage, in denen er sich mittags ausschließlich vom Menü Nummer zehn ernährt hatte, zehn Tage, in denen er sich immer wieder beobachtet fühlte, und zehn Tage, in denen sich unter den Selbstmördern kein Sportler fand, zumindest kein bekannter. Abgesehen von einem erfolglosen Kabarettisten und einem krebskranken Liedermacher kannte der Kommissar überhaupt niemanden.

Groschen wollte den Fall bereits abhaken, als man ihn zu einem Tatort rief. Ein bekannter Sportler sollte aus einer Wohnung gesprungen sein. Zwilling, der ihn angerufen hatte, war schon dort. Sechster Bezirk, Proschkogasse. Es war Montag, der 22. Oktober, 10 Uhr 45.

Der Kommissar, ein leicht korpulenter Mittvierziger, war von einer seltsamen Unruhe erfasst. Er schlüpfte in seine Jacke, ging von der Vorlaufstraße zum Donaukanal, der wie mattes Silber glänzte. Dort winkte er einem Taxi und ließ sich nach Mariahilf bringen. Aber Beeilung! Für die Prachtbauten an der Ringstraße hatte er ebenso wenig ein Auge wie für die Secession oder den Naschmarkt. Diese Sehenswürdigkeiten waren ihm so selbstverständlich, dass er sie höchstens dann wahrnahm, wenn ihm ein fotografierender Tourist den Weg verstellte. Waren es auf der Ringstraße die Kutschen und Fiaker, die ein zügiges Vorankommen unmöglich machten, so stockte der Verkehr in der Wienzeile neuerdings scheinbar grundlos. Trotz des schlechten Wetters querten Touristengruppen auf dem Weg zum Naschmarkt die Straße. Lieferwagen von Händlern hatten eine ganze Spur verparkt, und der ständig stadtauswärts drängende...


Franzobel
Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021), »Einsteins Hirn« (2023) und »Hundert Wörter für Schnee« (2025).



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