E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Franzos Die Juden von Barnow
1. Auflage 2015
ISBN: 978-80-268-4137-1
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichten aus der Welt des osteuropäischen Judentums
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
ISBN: 978-80-268-4137-1
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Die Juden von Barnow' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. In der Novellensammlung Die Juden von Barnow (1877), die jüdische Stetlgeschichten vereint, setzte Franzos seinem Heimatort Czortkow (dem fiktiven Barnow seiner Schriften) ein literarisches Denkmal. Diese Werke schufen die materielle Grundlage dafür, dass er sich mehr und mehr vom Tagesjournalismus abwenden und sich der Schriftstellerei im Hauptberuf widmen konnte. Karl Emil Franzos (1848-1904) war ein zu seiner Zeit sehr populärer österreichischer Schriftsteller und Publizist. Seine Erzählungen und Romane reflektieren die Welt des osteuropäischen Judentums und die Spannungen, denen er als Jude und Deutscher in Galizien und der Bukowina ausgesetzt war. Inhalt: Der Shylock von Barnow Nach dem höheren Gesetz Zwei Retter Der wilde Starost und die schöne Jütta Das 'Kind der Sühne' Esterka Regina 'Baron Schmule' Das Christusbild Ohne Inschrift
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Nach dem höheren Gesetz
Es sind nun viele Jahre her, seit die arme Esther zu ihres Vaters Füßen verschieden ist, und auch Moses Freudenthal ist lange tot. Aber das große weiße Haus an der Heerstraße, das nun dem Rabbi von Sadagóra zugehört, steht noch heute so stolz und stattlich da, wie zur Zeit, da der harte, unglückliche Mann darin hauste. Über dem Thore hängt jetzt ein eirundes Blechschild, da ist auf gelbem Grund ein schwarzer Adler gemalt und rings steht die Umschrift: “K.K. Bezirksgericht.” Denn da, wo einst Moses um seine Tochter getrauert, werden jetzt die ruthenischen Diebe verhört, die polnischen Betrüger und die jüdischen Wucherer. Das ist im Erdgeschosse zur Rechten, zur Linken aber besteht noch der Laden, den Moses geführt, nur zeigt das Schild einen andern Namen: “Nathan Silberstein's Spezereiwaren- und Weinhandlung.” Das “W” in “Wein” ist klein, und in “Spezerei” steht statt des “z” ein “s”, – das ist aber nur die Schuld des kleinen, buckeligen Janko, der das Schild gemalt hat.
Im ersten Stockwerk hat sich unter dem neuen Besitzer fast gar nichts geändert, da wohnen, wie bei Moses, der Bezirksarzt zur Miete und der Bezirksrichter. Nur daß der Bezirksrichter ein anderer geworden ist, nicht mehr der gelbe, magere Herr Hippolyt Lozinski, sondern Herr Julko von Negrusz. Er ist der Amtsnachfolger des Herrn von Lozinski, aber in allen Stücken anders als dieser. Herrn Lozinski's ewige Zielscheibe waren die Juden, arm und reich – nicht ihre Herzen, aber ihre Geldbeutel. Und was er von den reichen Juden erpreßte, dafür fütterte er die armen Christen: die Adeligen, die Beamten, die Lieutenants. Seine Frau Kasimira, aus dem hochadeligen Hause Derer von Cybulski, was zu deutsch “von Zwiebel” bedeutet, glänzte auf fünf Meilen in der Runde vor allen anderen Frauen durch drei treffliche Eigenschaften des Herzens: durch die meisten Schulden, die glänzendste Toilette, die rasendste Tanzsucht. Und Hörner setzte sie ihrem Eheherrn auf, so groß, daß man kaum begriff, wie er darüber den Cylinder stülpen konnte auf seinen gelben, mageren Kopf.
Aber das ist nun Alles anders geworden.
Herr von Negrusz erpreßt nichts von den Juden und verpaßt nichts mit den Christen. Er lebt nur seinem Amt und seiner Familie, zwei lieben Bübchen und seiner schönen jungen Gattin. Diese Frau ist schön, sehr schön. Die Gestalt schlank und doch üppig, biegsam und doch königlich stolz, das Antlitz blaß, edel, scharf geschnitten, die Augen dunkel und träumerisch und tief, abgrundtief. Aber das Merkwürdigste an all dieser Schönheit ist die Farbe der Haut, das mattmilde, gelbliche Weiß, Bernsteinweiß könnte man es nennen, über dem die Röte der Gesundheit nur wie ein leiser Hauch liegt. Die Gestalt und dieses Antlitz – sie mahnen an die Sulamith und Suleika, an die holden Schönheitszauber des Orients. Aber die Frau Bezirksrichter trägt ein Kreuzchen am Halse und auf ihren Visitenkarten steht: “Christine von Negrusz.”
Es ist eigentlich rätselhaft und sonderbar, aber durch diese Karten allein verkehrt diese Frau mit den übrigen Menschen. Sie empfängt keine Besuche, sie macht keine; zwischen ihr und den verehrlichen Honoratioren von Barnow ist eine Schranke aufgerichtet, die keiner der beiden Teile überschreitet. Wird ein verheirateter Beamter nach Barnow versetzt, so wird er von seinen Kollegen sorgsam instruiert: er leiht sich vom Herrn von Wolanski die alte Karosse mit den alten Schimmeln und fährt mit seiner Ehehälfte vor das große, weiße Haus. Da schickt er die beiden Karten in den ersten Stock und empfängt die Antwort: die Herrschaften bedauerten, aber der Herr Bezirksrichter sei verhindert und die gnädige Frau unwohl. Und eine Woche später kommt Herr von Negrusz in ganz demselben Wagen mit seiner Frau vor die Wohnung des neuen Amtsgenossen gefahren und dann vollzieht sich dieselbe Komödie mit vertauschten Rollen. Damit schließt zugleich jeder weitere Verkehr. Das ist so der Gebrauch, der schließlich zum Gesetz geworden ist.
Und dann noch etwas. Frau Christine geht nie allein aus, sie verläßt das Haus nur einige Male in der Woche zu einem Spaziergang an der Seite ihres Gatten. Alle übrigen Leute im Städtchen machen ihre Promenade im neuen, gräflichen Park, im Park um das Schloß der Gräfin Jadwiga Bortynska, geborenen Polanska. Aber der Bezirksrichter und seine Gattin gehen regelmäßig in den einsamen, schlecht erhaltenen Anlagen spazieren, die – jenseits des Flusses – um das alte Schloß liegen. Der gerade Weg dahin führt durch die Judenstadt, aber den vermeidet dieses menschenscheue Paar. Sie gehen rings um das Städtchen herum. Man könnte glauben, das geschehe darum, um den Staub und die Gerüche der Judengasse zu vermeiden. Aber nein! – als sie einmal ein Gewitter überraschte, machten sie im strömenden Regen gleichfalls den großen Umweg. Warum? Herr von Negrusz sieht Jedermann frank und frei ins Auge und vermeidet Niemandes Begegnung, wenn er allein ist. Welcher Bann scheidet also gerade seine schöne Frau von den übrigen Menschen?
Ihr braucht nur den Neuigkeitenanzeiger von Barnow und Umgegend zu fragen, die hübsche, üppige Frau Emilie, die Gattin des neuen Aktuars. Er ist schon zehn Jahre im Städtchen, aber er heißt noch immer der “neue” Aktuar, im Gegensatze zu seinem Kollegen, der schon zwanzig Jahre in Barnow ist. Nun, Frau Emilie wird euch eine Visitenkarte zeigen und dazu sagen: “Ich bitte Sie, wie kann man mit einer solchen Frau Umgang haben? Sehen Sie sich nur die Karte an – warum hat sie nicht auch darauf setzen lassen, was für eine ›Geborene‹ sie ist? Weil es sich sehr schlecht machen würde: ›Christine von Negrusz, geborene Bilkes, geschiedene Silberstein‹. Denn sie heißt eigentlich Chane, und der Nathan Bilkes in dem kleinen Hüttchen neben der Judenschule ist ihr Vater und ein anderer Nathan, der Nathan Silberstein, ihr erster Mann. Dieser Negrusz ist nämlich ein ganz überspannter Mensch. Zuerst hat er die Tochter eines Millionärs heiraten wollen, eines armenischen Barons, und als man ihm die natürlich nicht gegeben hat, ist er plötzlich sehr genügsam geworden und hat sich in das passabel hübsche Judenweib verliebt und hat sie ihrem Mann abgekauft.”
“Abgekauft?” werdet ihr erstaunt fragen. “Um Geld, um bares Geld?”
“Natürlich – um was sonst?” wird der Anzeiger versichern. “Und das wundert Sie im Ernst? Ich bitte Sie, so einem Juden ist Alles feil, sogar sein Weib. Man sagt sogar, wie viel es den Negrusz gekostet hat: tausend Gulden. Wenn Sie übrigens mir allein nicht glauben wollen, so fragen Sie die ganze Stadt oder fragen Sie am besten den Silberstein selbst – er ist ein Weinhändler, und wenn er auch sonst das ganze Jahr herumreist, so ist er doch zu den großen Feiertagen immer hier. Er wird Ihnen bestätigen: ›Ich habe sie dem Bezirksrichter friedlich abgetreten‹. Nun, und da frage ich Sie: kann man mit einem solchen Weibe verkehren?!”
Die üppige Emilie hat Recht, sie hat in Allem Recht. Frau Christine hat wirklich früher Chane geheißen, zuerst Chane Bilkes, dann Chane Silberstein. Und der Weinhändler hat sie dem Bezirksrichter wirklich friedlich abgetreten. Auch darin hat sie Recht, daß sie, Emilie, mit einem solchen Weibe unmöglich verkehren kann. Aber bezüglich des Kaufpreises ist sie im Irrtum. Der Kaufpreis war nicht eine Geldnote, sondern ein Menschenherz.
Die alte Betschul' ist ein graues, verwittertes Gebäude, in fernen Zeiten erbaut, wohl gar im Mittelalter. Die Bauern nennen sie die “Judenburg”, weil sich hier einmal die Juden verborgen und verschanzt, als sie ein Fürst Czartoryski totschlagen und ausrauben wollte. Er wollte dies aus doppeltem Grunde: erstens war es gerade Jagdzeit, aber wenig Füchse und Eber auf der Haide, zweitens brauchte er Geld. Aber die Juden bargen ihr Gut und Blut hinter den Mauern und Eisenriegeln der Betschul' und hielten hier so lange aus, bis des jagellonischen Königs Mannen aus der nahen Veste Jagiellnica herbeieilten und die Geängstigten befreiten. Damals waren die Mauern stark und die Eisenriegel fest, jetzt ist von den Riegeln nichts mehr zu sehen, und halb geborsten, halb in die Erde gesunken sind die Mauern. Aber wie um die einstige Bedeutung dieses Gottes- und Schutzhauses anzudeuten, drängen sich hier an drei Seiten desselben am dichtesten die dürftigen Häuser und Hütten der Judenstadt.
An der vierten Seite hat der nahe Fluß, der träge, schleichende Sered, nur für zwei Häuser Raum gelassen, ein großes, neues Haus, das – eine Seltenheit in dieser Gegend – mit gelber Ölfarbe bemalt ist, und für ein schmutziges, baufälliges Hüttlein, das trübselig am Ufer klebt. Es ist, als dränge das gelbe Haus seinen ärmlichen Nachbar in den Fluß, so stark neigen sich die moderigen Wände der Hütte über die trüben, langsamen Wasser. Im gelben Hause wohnte einst der reiche Weinhändler Manasse Silberstein mit seinem Sohne Nathan und in dem Hüttlein wohnte und wohnt noch heute Nathan Bilkes, ein armer, sehr armer Mann.
Nathan war ein “Dorfgeher”, so lange seine Kräfte es erlaubten, und lebt jetzt, ein schwacher, einsamer Greis, von seinen sauer erworbenen Pfennigen und, wo diese nicht reichen, von der Unterstützung der Gemeinde. Er ist früh schwach und alt geworden, wie alle Leute seines Berufs. Denn es ist ein überaus harter, mühsamer Beruf. Ein “Dorfgeher” heißt in der Sprache seiner Glaubensgenossen derjenige Mann, der die Bauern in den umliegenden Dörfern mit dem Nötigen versieht und sich dabei sein Brot herausschlägt. Er zieht Sonntag am frühen Morgen aus dem Städtchen, den Rücken gebeugt von einem riesigen Pack Waren. Da drin ist Alles enthalten, wonach...