E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Freitas Einvernehmlich
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-26136-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Er war ihr Mentor, Professor und Priester – und überschritt jede Grenze
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
            ISBN: 978-3-641-26136-8 
            Verlag: btb
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Donna Freitas ist jung, talentiert und scheint am Ziel ihrer Träume: Sie ist Doktorandin an einer renommierten Universität, ihr Betreuer, ein katholischer Priester, scheint der ideale Gesprächspartner für ihre Arbeit. In seinem Büro trinken sie Kaffee, führen lange Gespräche, diskutieren über Theorien. Er ruft sie immer häufiger an, schickt ihr Briefe und schließlich einen Artikel – einen Artikel, in dem es nicht um Wissenschaft geht, sondern der eine Liebeserklärung ist. Der Mann bombardiert sie mit Anrufen und Briefen, taucht unaufgefordert bei ihr auf, schreckt nicht einmal davor zurück, Freitas‘ krebskranke Mutter zu kontaktieren. Als sie sich schließlich an die Universitätsleitung wendet, bleibt die erhoffte Hilfe jedoch aus. Die wahre Geschichte einer jungen Frau, die zutiefst verunsichert ist, Scham und Schuldgefühle für etwas empfindet, an dem sie keine Schuld trägt – die 20 Jahre zurückliegenden Ereignisse verfolgen Donna Freitas bis heute.
Donna Freitas, Jahrgang 1972, ist Wissenschaftlerin, Professorin und Schriftstellerin. Sie ist Autorin erfolgreicher Kinder- und Jugendbücher und eines Memoirs. Ihre journalistischen Arbeiten erschienen u.a. in The New York Times, The Washington Post und The Boston Globe, zahlreiche Auftritte in Radio und Fernsehen, Vorträge an über 200 US-Colleges zum Thema sexuelle Gewalt. Freitas hat an verschiedenen renommierten US-Universitäten gelehrt und unterrichtet heute Creative Writing an der Fairleigh Dickinson University. »Die neun Leben der Rose Napolitano« ist ihr Debütroman für Erwachsene. Donna Freitas lebt in Brooklyn.
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DAS MONSTER IM HAUS
Das Päckchen lag ungeöffnet auf dem Couchtisch.
Es wartete dort bereits seit Tagen. Durch Sonne, Regen und Sommergewitter hindurch. Neben ihm befanden sich eine dicke Kerze von Pottery Barn, die ich im Ausverkauf ergattert hatte, und ein Stapel Bücher, die ich für die Graduate School las. Vor dem Tisch stand eine alte Couch mit einem Holzgestell. Ich hatte eine breite Decke darüber geworfen, um die billigen Polster zu kaschieren, die voller Flecken waren von den früheren Bewohnern meines Uni-Apartments. Die Betonwände und hohen, lichten Fenster liebte ich von ganzem Herzen. Es war die erste Wohnung, die ich ganz für mich allein hatte. Hinter dem Tisch stand der gewaltige Fernseher, den ich in meinem ersten Studienjahr gewonnen und seither mit mir herumgeschleppt hatte. Er stammte aus dem Aufenthaltsraum meines Studentenwohnheims, und die Resident Assistants – die sogenannten RAs, die sich damals um uns Studenten in den Wohnheimen kümmerten – hatten ihn am Ende des Semesters verlost. Mich zogen sie als die glückliche Gewinnerin aus dem Hut.
Das Päckchen war dünn, eher ein rechteckiger Umschlag, auf dessen Vorderseite meine Adresse in sorgfältiger Schrift geschrieben stand. Es hätte alles Mögliche drin sein können. Gute-Laune-Fotos von Freunden oder Bilder von einer Hochzeit. Aber dieser blassgelbe Umschlag enthielt einen Essay. Den Entwurf eines Essays.
Ich wusste das, weil der Autor, der auch mein Mentor war, es mir gesagt und mich angewiesen hatte, ich solle den Entwurf lesen, er mich als Leserin. Ich wäre ein schlechter Mensch, eine schlechte Studentin, eine schlechte Freundin, wenn ich diese Pflicht ignorieren würde, so wie ich in letzter Zeit so viele andere Bedürfnisse und Bitten von ihm ignoriert hatte.
Er schickte mir den Umschlag am Tag seines Aufbruchs zu einer einmonatigen Reise. Es war Ende Juli, es war heiß und schwül, der Asphalt vor meiner Wohnung dampfte förmlich vor Hitze. Er rief mich an, um mir mitzuteilen, dass ich Post von ihm erhalten würde und den ganzen Monat Zeit hätte, den Text zu lesen. Vielleicht glaubte er, dass Zeitmangel oder fehlende Vorwarnung die Gründe für mein Versäumnis waren, auch alles andere nicht zu lesen, was er mir in letzter Zeit geschickt hatte. Vielleicht hielt er diese Frist von einem Monat für eine Gefälligkeit.
Während seiner vierwöchigen Abwesenheit rief er an, um zu fragen, ob ich den Essay schon gelesen hätte. Er rief immer wieder an und schimpfte, wenn klar wurde, dass ich dieser einfachen Verpflichtung noch nicht nachgekommen war. Die Zeit drängte, der August würde bald vorbei sein, und ich hatte noch nicht einmal den Umschlag geöffnet.
»Don-« sagte er am Telefon in diesem Singsang, mit dem er meinen Namen immer intonierte. »Ich komme nach Hause. Ich will nach meiner Rückkehr wirklich darüber reden können.«
Warum, warum, fragte ich mich im Stillen, während ich ihm versprach – denn ich hatte es ihm versprochen –, dass ich dazu kommen würde, bald, vielleicht heute. Warum Ich war eine unbedeutende Studentin. Er war ein wichtiger Professor, berühmt in gewissen Kreisen. Hatte er keine Kollegen, deren Meinung er einholen konnte? Warum interessierte er sich für meine?
Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Antworten auf meine eigenen Fragen bereits. Die Verzweiflung in seiner Stimme war Beweis genug. Aber dennoch war dieses Wissen schwammig und nebulös, bange und argwöhnisch. Ich hatte es in den hintersten Winkel meines Gehirns geschoben und mich so sehr bemüht, es abzutöten. Ich verschloss die Augen vor der Wahrheit, und ich genoss diese Blindheit, die so unerschütterlich und stark war, geradezu überwältigend.
Als ich abends auf meiner Couch saß und fernsah, mit dem Briefumschlag auf meinem Tisch neben den Überresten meines letzten Take-away-Essens, hoffte ein Teil von mir immer noch, dass ich mich irrte; dass sich dieser bohrende Schmerz in meinem Bauch als ein Produkt meiner melodramatischen Fantasie herausstellen würde.
Morgen für Morgen erhob ich mich von meinem Bett, ging in mein Wohnzimmer und wünschte, der Umschlag wäre über Nacht verschwunden. Aber nein, da lag er, zwischen meinen Sachen, nur wenige Schritte von meiner hässlichen Pepto-Bismol-farbigen Küche entfernt, in der ich üppige Abendessen für Freunde, für meine RAs und für mich selbst kochte. Der Anblick des Umschlags, sobald ich zur Tür hereinkam, fühlte sich jedes Mal aufs Neue so an, als entdeckte ich, dass jemand eine tickende Zeitbombe in meiner Wohnung deponiert hätte, während ich unterwegs war, um mir Schmerztabletten zu besorgen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie sie in mein Zuhause und in mein Leben gekommen war, und gab mir alle Mühe, sie zu entschärfen.
Es war ein Essay. Harmlos. Ein paar Seiten Papier, geschrieben auf einer Tastatur, ausgedruckt und zusammengeheftet. Eine Aneinanderreihung von Wörtern, Schwarz auf Weiß. Wovor hatte ich Angst? Warum war das so eine große Sache? Ich war es gewohnt, Texte zu lesen. Ich war Doktorandin, eine unersättliche Leserin. Lesen war meine Berufung, mein Hauptanliegen, meine Freude.
drängte mein Verstand mich. zerrte er im nächsten Augenblick an mir. , ermahnte ich mich selbst.
Das Gedankenkarussell drehte sich vor und zurück, vor und zurück. Während die Tage voranschritten, quälten mich die Fragen, wie ich in diese Lage geraten und wer daran schuld war. Wer war wirklich dafür verantwortlich? Ich? Er? Die Antwort darauf in ihre syntaktischen Bestandteile zu zerlegen, fiel mir schwer, aber ich ließ nicht locker, immer und immer wieder.
habe die Post aus dem Briefkasten geholt. (War das einvernehmlich?) legte den Umschlag auf den Couchtisch. (Einvernehmlich. Oder?) Ich ging ans Telefon, als er anrief und mich anflehte. (Einvernehmlich, rein technisch gesehen. Aber damals gab es noch keine Anruferkennung, also vielleicht doch nicht?) Ich habe ihm versprochen, dass ich den Essay lesen werde. (Liegt Einvernehmen vor, wenn Peinlichkeitsgefühle mit im Spiel sind? Wenn er bettelt?) Aber habe mich auch den gelben Umschlag anzufassen. (Ich nicht einvernehmlich handeln.) Ich habe ihn fast einen Monat lang nicht geöffnet. (Ein stummes Nein. Aber zählen stumme Neins?) Ich habe den Umschlag finster angestarrt. (Ausdruck meiner Zurückhaltung auf körperlicher Ebene. Aber es war ja nicht so, dass er im Raum war und sehen konnte, wie ich die Stirn runzelte. Gott sei Dank.) Ich tat mein Bestes, um das Vorhandensein des Umschlags, sein Verharren zu ignorieren, ich bewegte ihn nicht, berührte ihn nicht, zumindest nicht am Anfang. (Bedeutet das Ausbleiben einer Antwort stillschweigend ein Ja?)
Der bloße Anblick des Umschlags auf meinem Couchtisch erfüllte mich mit einem so abgrundtiefen Grauen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich sein Ausmaß je zum Ausdruck bringen kann. Worte reichen nicht aus. Andererseits, hätte ich nicht mein Sprachvermögen nutzen sollen? Hätte es nicht sein sollen, das Wort laut und deutlich, glasklar und glockenrein auszusprechen?
Ich wartete bis zum Vortag seiner Rückkehr von der Reise, um den Umschlag zu öffnen, die Seiten herauszunehmen und sie tatsächlich mit meinen Fingern zu berühren. Ich hielt sie in der Hand, als könnte es zu einer allergischen Reaktion auf das Papier kommen, und sah weg. Es war, als würde ich mich darauf vorbereiten, mir die ekelhafteste Medizin der Weltgeschichte einzuverleiben, eine Medizin, von der man schon weiß, dass einem davon schlecht wird, aber irgendwie muss man sie hinunterkriegen. Man muss tief einatmen, die Augen schließen und sie hinunterschlucken, und dann muss man sein Bestes geben, um sich von einem derart unerträglichen Ekel abzulenken, in dem Wissen, dass Würgen und Erbrechen sowieso unvermeidlich sind.
Ich schaltete den Fernseher ein, damit um mich herum Geräusche zu hören waren, damit ich das Gefühl hatte, dass andere Menschen in der Nähe waren. Ich wollte damit nicht allein sein, mit nichts davon, nicht mit dem Umschlag, dem Papier, dem Essay, nicht mit den Worten auf den Seiten.
Dann fing ich endlich an.
Nach so viel Widerstand ließ ich meinen Blick auf dem ersten Wort ruhen, dann auf dem zweiten und dem dritten, bis ich ihnen gestattete, in mein Gehirn, in meinen Körper einzudringen, wo sie sich zu Sätzen zusammenfügen würden, die eine Bedeutung annähmen. Ich redete mir ein, dass ich nach so viel Melodrama herausfinden würde, dass der Essay so harmlos war wie der Stapel Bücher, den ich für meine Vorlesungen las, dass ich bald darüber lachen würde, wie dumm ich gewesen war, so viel Wind um nichts zu machen, dass ich die Augen verdrehen würde über die Art und Weise, wie ich mich gewehrt hatte, die Seiten zu lesen. Ich würde erkennen, dass der Autor es wirklich gut gemeint hat, ohne jegliche Hintergedanken oder schändliche Absichten.
Ich wartete darauf, dass die Erleichterung mich erreichte, wie eine kühle Welle, die mich in der drückenden Augusthitze durchströmen würde.
Doch als diese Worte eines nach dem anderen in mich eindrangen und sich zu einer riesigen Halde aus Sätzen auftürmten, die zu Absätzen wurden, die zu Abschnitten wurden, stellte sich heraus, dass der Essay schließlich doch Gift war, dass sich mir der Magen...




