E-Book, Deutsch, 456 Seiten
Frings Ein makelloser Abstieg
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8412-1580-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 456 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1580-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik und übertrug u. a. Stephen Fry, Kate White sowie David MacNeil ins Deutsche.
Autoren/Hrsg.
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1
Dabei hatte es so gut angefangen. Mit dem letzten Flugzeug war er schon am Mittwochabend aus Köln eingeflogen, weil tags drauf Christi Himmelfahrt war und er den Freitag zum Moderationsschreiben benötigte. Also schwänzte. Keine Konferenzen, keine Studioproduktion. Keine Interviews, Auftritte, Fotosessions. Vier Tage Freiheit. Über so viel Planlosigkeit hatte er lange nicht verfügt.
In Unterhemd und Shorts, zufrieden wie ein Dreijähriger, saß er vor dem, was Vivian einen »Haufen bunter Knete« nannte: einer Schüssellandschaft vorwiegend orientalischer Speisen, bestehend aus mariniertem Gemüse, Couscous, Oliven, dünn geschnittenem Schinken, Dips und Pasten, dazu warmes Oreganobrot. Zur Feier des Feiertags hatte sie einen Sauvignon Blanc aus Südafrika geöffnet. »Zum Niederknien gut«, bemerkte sie mit theatralischer Ironie.
Simon aß und träumte. Er liebte diese gelenkschwere Müdigkeit, die jede Schweigsamkeit entschuldigte. Sie saßen nebeneinander, tunkten ihr Brot in Auberginen- und Sesampaste, tauschten spärlich Neuigkeiten aus: In einem ihrer Cafés hatte die Spülmaschine einen Stromausfall im gesamten Parterre ausgelöst, und ihm war eine Großmoderation in Feindesland angetragen worden.
Der Abend hatte flauschig geendet. Zwar hatten sie nicht miteinander geschlafen, aber seit langer Zeit mal wieder geschmust wie ein junges Pärchen. Er war es sogar gewesen, dem zuerst die Augen zufielen. »Geh ins Bett«, hatte sie gesagt und ihm zärtlich auf den Hintern geklopft. »Du bist ja todmüde.«
Im Bett – sie verfügten über getrennte Schlafzimmer – schaffte er es nicht einmal, das Licht zu löschen. Er registrierte es, als er mitten in der Nacht aufwachte. Sein Herz raste. Er stemmte sich hoch, versuchte noch einen Zipfel des Traums zu fangen. Es war um Füße gegangen, formvollendete Füße, so makellos olivfarben, dass man sie für Hände halten konnte. Dabei hatten sie ihre Form verändert, waren zu Greifgliedern gewuchert, zu Klauen.
Er schlug das Laken beiseite und setzte sich auf. Die Schlafzimmerluft war verbraucht. Verdrossen erhob er sich und öffnete ein Fenster. Draußen war die Luft kaum besser, klebrig, Ergebnis staubiger Frühsommertage. Von fern hörte er den Klatschrhythmus eines Schlagers. Irgendwer nahm das Wort Feiertag wörtlich und grölte alkoholbefeuert.
Simon, der nicht vollends aufwachen wollte, stand mit geschlossenen Augen am Fenster. Kurz breitete er die Arme aus, um Abkühlung herbeizuzwingen, aber kein Lüftchen wollte sich für ihn regen. Was hatte ihn so bang gemacht, dass sein Blut immer noch im Habacht-Modus pulste? Er versuchte ruhig zu atmen, war aber zu ungeduldig und müde, um es lange durchzuhalten. Seufzend legte er sich wieder ins Bett, doch nicht wie üblich auf den Bauch, sondern halbhoch gebettet auf den Rücken.
Dann passierte es.
Ein Klingeln an der Wohnungstür, gefolgt von ungeduldigem Klopfen. Blitzschnell saß er aufrecht. Während er vergeblich nach seinen Hausschuhen tastete, warf er sich den grauen Bademantel über und sah zur Uhr: halb vier – eine Zeit für Wasserrohrbruch, Diebstahl oder Feuer. Barfuß riss er die Wohnungstür auf, blinzelte in die Flurbeleuchtung und wollte seinen Augen nicht trauen: Eine attraktive dunkelhaarige Frau im fadenscheinigen Kleidchen schubberte sich am Treppengeländer: »Hallo, ich bin die Carmen! Ich glaube, ich kann dir noch eine Menge beibringen!«
Fassungslos starrte er die Frau an, deren Lächeln leicht in Schieflage geraten war. Dann blickte er auf seine nackten Füße, in ihrer Verletzbarkeit fast obszön zur Schau gestellt. Eindeutige Angebote von weiblichen Fans waren an der Tagesordnung. Von männlichen auch. Sogar parfümierte Höschen hatte man in seiner Post gefunden, aber eine so eindeutige Akquise war ihm noch nie untergekommen. Später würde er die Geschichte als Anekdote zum Besten geben, aber was wäre gewesen, hätte die rassige Carmen andere als die Waffen der Frau zum Einsatz gebracht? Panisch knallte er die Tür zu.
Vor einigen Wochen erst waren in der Redaktion Morddrohungen eingetroffen. Nicht zum ersten Mal. »Du linke Sau, dir werden wir die dreckige Zunge rausreißen oder abschneiden!!!« Zum wiederholten Mal hatte ihn ein geschulter Polizist aufgesucht, ihm die Broschüre für gefährdete Personen des öffentlichen Lebens überreicht und gute Ratschläge erteilt. Immer auf verschiedenen Wegen das Haus verlassen beispielsweise. Na super, hatte Simon gedacht. Wenn ich aus der Haustür trete, kann ich mir also überlegen, ob ich linksrum oder rechtsrum gehe. Das wird helfen!
»Vier Tage sind viel zu wenig! Ich will da nicht wieder hin!« Simon fröstelte. Am Wetter konnte es nicht liegen, das Thermometer zeigte selbst nach Mitternacht noch zwanzig Grad an. In Berlin war Mitte Mai der Sommer ausgebrochen, aber ihm saß noch der nächtliche Besuch von Carmen in den Knochen.
»Köln ist doch eine gute Stadt, und die Rheinländer sind nett!«, versuchte Vivian ihn aufzumuntern.
»Nett!« Simon ließ das Wort mit Abscheu von der Zunge rollen. »Die Hauptstadt der blonden Strähnchen und originellen Socken. Zwangshumoristen in Schnellfickerschühchen!«
»Ich weiß nicht, ich finde Köln toll.«
»Die einzige Stadt der Welt, wo man Versace für einen angesagten Designer hält!«
Sie waren an den innerstädtischen Lietzensee gefahren und hatten in einem nicht sonderlich guten, aber lauschigen Gartenlokal zu Abend gegessen. Anschließend waren sie mit der letzten U-Bahn Richtung Neukölln gefahren und kurz vorher an der Station Südstern ausgestiegen, um noch einen Gang durch den Jahnpark zu machen, den alle nur Hasenheide nannten. Simon mochte den Park, weil er auf pittoreske Art heruntergekommen war. Vivian teilte diese Sichtweise nicht unbedingt, wusste aber, dass die Nacht eine der wenigen Gelegenheiten war, wo er ungestört spazieren gehen konnte. Parks waren normalerweise tabu. Die Besucher schlenderten, ließen ihre Blicke schweifen und erkannten ihn dabei mit hundertprozentiger Sicherheit. Dann war es mit der Privatheit vorbei. Sie verlangten Autogramme, wollten ein Foto oder einfach nur mal mit jemandem vom Fernsehen quatschen, auch wenn sie nicht immer genau wussten, wer er war und was genau er moderierte. Hauptsache prominent. Heute schien es Simon besonders wichtig, sein Quäntchen Privatheit auszukosten. Ein gestohlener Spaziergang im Dunkeln. Er legte den Arm um ihre Schulter, aber sie duckte sich weg. »Zu warm«, sagte sie. Sowieso erstaunlich, dass er sich nach dem Vorfall so schnell wieder im Griff hatte.
Wie in jedem Restaurant war ihnen auch im Gartenlokal der beste Platz offeriert worden. Gleich am See hatten sie gesessen und waren, nachdem die übrigen Gäste lange genug geäugt und geflüstert hatten, unbehelligt geblieben. Zu Beginn von Simons Karriere hatte Vivian sich in solchen Situationen oft in den Nacken oder auf die Schulter geschlagen, weil sie dachte, ein Insekt hätte sie gestochen. In Wahrheit waren es die Blicke seiner Fans. Sie verabscheute das: Augen, die sich widerwillig vom Promi lösten und sie ins Visier nahmen. Gefräßige Augen, besonders in Frauengesichtern: Mal gucken, mit wem der Minkoff sich so abgibt. Stolz hatte sie sich früher aufgerichtet und ihr Gesicht trotzig in die Welt gehalten. Heute versuchte sie nur noch, ihre Begutachtung zu ignorieren, so gut es ging.
Auch der Kellner am Lietzensee war keine Ausnahme. Der asymmetrischen Frisur und seiner Ungeschicklichkeit nach handelte es sich um eine studentische Aushilfe, Universität der Künste oder Architektur. Er erkannte Simon sofort, gab sich aber cool, bemüht, kein Aufhebens zu machen. Trotzdem waren seine Fragen nur an Simon gerichtet. Jeder Blick erkundete, ob es ihm schmeckte und er sich wohlfühlte.
Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte Simon Kalbshaxe bestellt. »Gibt’s ja kaum noch!« Vivian nahm nur einen Salat mit Putenbruststreifen, gönnte sich dazu aber eine Flasche 98er Pouilly-Fumé.
Ein Rentnerehepaar trat an ihren Tisch. Besonders die Frau – zu braun, zu viele klirrende Armreifen – konnte sich der unausgesprochenen Übereinkunft, Simon in Ruhe zu lassen, nicht beugen. Mit offenem Mund hatte sie gestarrt und ihrem Mann hinter vorgehaltener Hand die Ergebnisse ihrer Observation mitgeteilt. »Wir wollen nicht stören«, setzte der alte Herr unsicher an, »aber könnten wir vielleicht ein Autogramm bekommen?«
Vivian wollte bitten, wenigstens bis nach dem Essen zu warten, doch Simon kam ihr zuvor: »Ich habe leider keine Autogrammkarten dabei!«
»Eine Serviette tut’s auch«, versicherte die Frau schnell und schubste ihren Mann nach vorn.
Es fiel Simon immer noch schwer, Autogrammwünsche abzulehnen. Außerdem hatte er gelernt, dass ein Autogramm schneller gegeben als seine Verweigerung erklärt ist. Doch weder Simon noch der Mann hatten einen Stift dabei. Also wurde der Kellner herangewinkt.
»Na, dann gibt’s wenigstens ein Autogramm auf ein Blöckchen und nicht nur auf eine schnöde Serviette«, lächelte Simon gezwungen und setzte seinen Namenszug unter Bitte ein Bit!
»Vielleicht noch ein Foto?«, drängelte die Frau.
»Bitte!«, sagte Simon zweideutig.
Die Frau nahm dies als Aufforderung. Während sie ihre Digitalkamera aus der Handtasche zog, setzte er sich mit Fotolächeln schon einmal in Position.
»Unser Essen wird kalt«, konnte Vivian sich nicht verkneifen.
»Na los!« Die Frau stieß erneut ihren Gatten an. Brav stellte er sich neben Simon auf, griff nach dessen rechtem Handgelenk, hob es...