E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Fromm TraumZeitRisse
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-9825916-1-2
Verlag: Primero
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurzgeschichten
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-9825916-1-2
Verlag: Primero
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Drei Finger
Nadine Schmidt
Er hatte schöne Hände: den ganzen Tag hätte sie ihm beim Bleistiftanspitzen zuschauen können. Seine Knöchel arbeiteten wie Zahnräder unter seiner Haut. Und wie spitz er die Stifte machte! Als schärfe er ein Florett. Die Mine so dünn, dass sie kurz vor dem Abbrechen war. Manchmal riss die jähe Präzision seiner Linien Narben in die Notenblätter. Aber selbst die Kringel aus abgeschabtem Holz, die beim Spitzen zu Boden fielen, sahen ästhetisch aus. »Da«, sagte er und bohrte den Stift ins Papier. »Crescendo. Nicht: Ich lasse eine Spinne auf die Tasten fallen und Polka tanzen. Und Sechzehntel, Fräulein, keine Achtel. Wenn du mich schon einschläfern willst mit deinem Geklimper, dann solltest du zumindest die Töne treffen.« Sie stellte die Finger zurück auf das vergilbte Elfenbein, die letzten beiden Fingerglieder aufrecht wie ein Regiment Soldaten. Wenn er sie quälen wollte, ließ er sie Mandarinen in der Handfläche halten, während sie übte. »Um die Fingerstellung zu verbessern«, behauptete er. Fielen sie runter, was sie meistens taten, musste sie von vorn beginnen, wieder und wieder, bis alle Muskeln und Sehnen in ihren Händen schmerzten oder er vorzeitig die Geduld verlor. Auch diesmal unterbrach er sie nach zwei Takten. »Fingersatz«, schnarrte er und klopfte ihr mit dem Stift aufs Handgelenk, nicht fest, aber so, dass sie’s spürte. »Eins-fünfdrei-fünf-zwo-vier-drei-fünf. Los. Von Anfang an.« Die Tür zum Garten stand offen; mit jedem Windhauch ergoss sich der zitronenhelle Mainachmittag von draußen ins Zimmer, streute weißen Knöterich aufs Parkett. Sie drehte eine Haarsträhne um den Daumen und seufzte tief. Für ihn spielte sie gern den Tölpel; er merkte es nie. »Können Sie’s mir nicht nochmal zeigen? Sie wissen doch, ich lerne so schlecht, wenn ich’s direkt allein versuchen soll.« »Weil du lieber mit den Wimpern klimperst als auf dem Klavier.« Schnaubend scheuchte er sie von der Bank, so wie ein Gerfalke eine Taube verjagt, und ließ sich dann selbst darauf nieder, ordnete seine Federn. Er war ein Freund ihres Vaters: die neueste Errungenschaft. »Musiker«, pflegte ihre Mutter zu sagen, wenn man sie auf den Gast ansprach. Dazu spitzte sie die Lippen, was gleichbedeutend war mit: Hält sich für was Besseres. Ihr Mann war einer der führenden Fabrikanten in der Rüstungsindustrie, hatte dem Kaiser höchstselbst die Hand geschüttelt: So sah Erfolg aus! Wenn er dabei nur nicht weichherzig gewesen wäre wie ein zahnloses Mütterchen. In Künstlerkreisen lachte man über ihn, diesen Pinguin in Dreiteiler und gestärktem Kragen, der sich als Mäzen versuchte. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Aber der Mensch muss schließlich jemanden finden, den er anbeten kann. Maximilian Lerchenfeldt. Bevor er eines Abends vor der Tür gestanden hatte, war es ihr ein Zeitvertreib gewesen, den Namen dutzendfach in ihre Notizhefte zu schreiben. Von den Lippen ihres Vaters hatte er verheißungsvoll geklungen – versprach jemanden, den man Max rufen konnte, sobald man ihn besser kannte, die knappe Silbe grünblauschwarz wie ein Tannenwald in einem zu trockenen Sommer. Sie war entzückt, als sich herausstellte, dass er genauso aussah: lang und linkisch und rappeldürr, mit rußfarbenen Augen und einem Schopf wie ein struppiger Hund. »Hoffentlich haart er nicht auch wie einer«, knirschte ihre Mutter, die den Streuner von jetzt an füttern musste. Haaren tat er nicht, jedenfalls nicht im Übermaß, doch er lag recht oft untätig auf dem alten Biedermeiersofa in der Stube, klagte über missglückte Kompositionen und verlangte nach verbalen Streicheleinheiten. Aus gutem Hause kam er nicht; dass er es überhaupt so weit gebracht hatte, Konzertsäle zu füllen, verdankte er einzig und allein seinem Talent sowie der Fähigkeit, sich bei denen lieb Kind zu machen, die ihm dienlich sein konnten. Das war keine einfache Sache für einen wie ihn: Er war es gewohnt, bewundert zu werden. Siebenundzwanzig Knochen zählte die menschliche Hand; sie hatte es nachgelesen. Da gab es nicht nur Phalangen und Metakarpale, sondern auch kleinere, wie mit dem Meißel herausgebrochene Knöchelchen, die Hakenbein oder Mondbein hießen. Wenn sie ihn spielen hörte, so wie jetzt – Max, korrigierte sie sich, in Gedanken nannte sie ihn immer Max – dann stellte sie sich vor, wie all die winzigen Knochen ineinandergriffen, auf ihn übergriffen, als seien sie von einer inneren Harmonie beseelt: effizient, zwanglos. Sein Skelett bestand sicher aus Elfenbein – ihres Vaters liebster Witz. Doch was sonst hätte eine solche Affinität zwischen Mann und Instrument hinreichend erklären können? Ein Misston brach den Fluss der Musik. Über ihnen sprang das elektrische Licht an, spülte den kühlen graugrünen Schimmer, der im Nachgang des Nachmittags ins Zimmer gesickert war, zurück in den tauatmenden Garten. Sie rieb sich die Augen wie eine Fliege, die mit klebrigen Flügeln aus einem Glas Limonade gefischt wird, und streckte faul die Glieder. Max hingegen war aufgesprungen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. In der Tür stand ihr Vater. »Ich dachte schon, das ist meine Tochter, die da spielt.« Er wollte, dass etwas aus ihr wurde: kein schnöder Zahlenmensch, wie er einer war. Kumpelhaft klopfte er Max auf die Schulter. »Wart ihr denn fleißig?« Manchmal, wenn ihre Mutter Besorgungen machte, überredete sie Max, die Klavierstunde ein wenig auszudehnen. Dann taten sie es in ihrem Zimmer unter der Dachschräge; nur dann durfte sie Max zu ihm sagen. Sie lag in seiner kantigen Umarmung, räkelte sich im Glanz seiner ruppigen Freundlichkeiten und starrte an die Decke. Da waren Gesichter im Holz; sie konnte sie durch den Anstrich schimmern sehen, ganz deutlich. Knorrige Altherrenfratzen, deren Augen und Stirnen konzentrische Falten warfen; die langen, trägen Visagen hutbewehrter Damen, die gewohnheitsmäßig über ennui klagten, und mondgesichtige Kinder, die Köpfe rund wie ein Käserad. Sie alle waren da, lagen im Holz wie Mücken in Bernstein, und jedes einzelne befahl ihr: Schau mich an. Das war es also, was ihr blühte. Sie hob die Hand und schob sie in Max’ schilfbraunes Haar, packte fest zu. Der sollte sie auch ansehen, jetzt, wenn er es sonst schon versäumte. »Louise«, sagte er über ihr, »Louise«, und waren Männer nicht lächerlich, so unendlich lächerlich? Zur Strafe kniff sie ihn heftig in die knochige Hüfte. Sie hatte ihm verboten, sie beim Namen zu nennen. Von seinen Lippen klang Louise violettweißgrün wie eine geblümte Gardine: runzlig, altbacken, falsch. Besser, er nannte sie Fräulein – ach was, besser, er nannte sie überhaupt nichts. Er hatte kluge Finger, aber sobald er den Mund aufmachte, bekleckerte er sich selten mit Ruhm. »Sie hört nicht«, beschwerte er sich eines Abends bei ihrem Vater. Die beiden saßen bei Zigarren und Cognac im Salon; sie kauerte auf dem Treppenabsatz darüber und lauschte, die Zehen unter das Nachthemd gezogen. Es war so dunkel, wenn man aus dem Fenster sah. »Hört nicht?« Der Vater lachte polternd. »Na, das Problem kennen meine Frau und ich auch.« Sie konnte von ihm und Max nur die Schatten sehen, die im ockerfarbenen Zirkel der Lampe flackerten: Abbilder der Menschen, die sie kannte, nicht die Menschen selbst. Max fiel nicht in das Gelächter ihres Vaters ein. Stattdessen hörte sie ihn husten; er war das Rauchen nicht gewöhnt. »Das Fräulein kann ein störrisches Biest sein, ja«, räumte er ein. »Aber das meine ich nicht.« Durch die fein gedrechselten Stäbe des Treppengeländers beobachtete sie, wie das Abbild seines Fußes ungeduldig auf-und ab wippte. Er war ein nervöser Mensch, voller zu stark gespannter Saiten; obwohl sie seine Hände nicht sehen konnte, wusste sie, dass sie ruhelos umherflatterten wie lose Oktavblättchen. Stillstand war ihnen fremd. »Ich will dir ja glauben, dass du die Töne hörst, in deinem Kopf«, sagte er manchmal zu ihr. »Aber mein Ohr erreichen sie nicht.« Vielleicht war es das, was er an jenem Abend zu ihrem Vater sagte, vielleicht etwas gänzlich anderes. Später konnte sie sich nicht erinnern. Sie sah nur, wie der Lichtkreis, den die Lampe auf den Teppich warf, bis auf einen Nadelpunkt zusammenschrumpfte; fransige blaue Schatten sammelten sich auf den Treppenstufen. Vor ihren Augen erhob sich ein Faden aus gleißender Helligkeit, stieg auf wie eine Rauchsäule und verlosch. Sie spürte die Furcht in sich wachsen wie jemand, der einen Kiesel in einen finsteren Brunnen wirft und auf einen Aufprall horcht, der nie kommen wird. »Ich verbitte mir diese Attitüde.« Der Vater war aufgestanden; sie erkannte es am Strömen der Schatten auf der Tapete. Einer ragte auf, breit wie eine Wolkenwand, während der andere – Max – unter ihm zu welken schien, als fürchte er den Regen. Hätte er sich erhoben, wäre er größer als ihr Vater gewesen, und warum bloß kam er denn nicht aus dem Sessel hoch? Doch zu spät: Schon fuhr ein Zeigefinger hinab auf sein Brustbein. »Meine Tochter besitzt Talent. Sie werden es aus ihr herauskitzeln, Herr Lerchenfeldt, oder Sie sind die längste Zeit Gast in diesem Haus gewesen.« Da wurden aus der täglichen Klavierstunde fünf und aus ihrem Körper ein Klangraum, in dem jeden Morgen beim Aufwachen jemand dumpf eine Stimmgabel anschlug, dass es ihr nur so in...