Funk | Winternähe | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Funk Winternähe

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403504-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-10-403504-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mirna Funk erzählt die Geschichte einer jungen deutschen Jüdin in Berlin und Tel Aviv. Ihr Name ist Lola. Sie ist Deutsche. Sie ist Jüdin. Und die einzige, der ihr ein Hitlerbärtchen ins Gesicht malen darf, ist sie selbst. Sie hat genug davon, dass andere darüber bestimmen wollen, wer sie ist und wer nicht. Sie entscheidet, wovon sie sich verletzt fühlt und wovon nicht. Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Unsere Herkunft, falsche Freunde, orthodoxe Rabbiner? Lola ist in Ost-Berlin geboren, ihr Vater macht rüber und geht in den australischen Dschungel. Sie wächst auf bei ihren jüdischen Großeltern und ist doch keine Jüdin im strengen Sinne. Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt, sie selber soll cool bleiben bei antisemitischen Sprüchen. Dagegen wehrt sie sich. Sie lebt in Berlin, sie reist nach Tel Aviv, wo im Sommer 2014 Krieg herrscht. Sie besucht ihren Großvater und ihren Geliebten, Shlomo, der vom Soldaten zum Linksradikalen wurde und seine wahre Geschichte vor ihr verbirgt. Lola verbringt Tage voller Angst und Glück, Traurigkeit und Euphorie. Dann wird sie weiterziehen müssen. Hartnäckig und eigenwillig, widersprüchlich und voller Enthusiasmus sucht Lola ihre Identität und ihr eigenes Leben.

Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für »Neon«, »L'Officiel Germany« und »Süddeutsche Magazin«, und schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. 2015 erschien ihr Debütroman ?Winternähe?, für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde. Literaturpreise: Uwe-Johnson-Förderpreis 2015
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Berlin


1


Dass es überhaupt zu einer Gerichtsverhandlung kommen musste, war Manuela Müller und Olaf Henninger zu verdanken. Manuela war eine kräftige Brünette, die immer einen Tick zu schnell und zu affektiert sprach, um von ihrem Umfeld so ernst genommen zu werden, wie sie es sich erhoffte. Manu arbeitete als Verkäuferin bei COS in der Neuen Schönhauser Straße und ging am liebsten ins Mittagessen. Olaf war für den Sales-Bereich der verantwortlich, einer Konferenz für neue digitale Medien, und ein schlaksiger Enddreißiger, der immer noch dreimal die Woche Koks zog.

Das zehnjährige Bestehen der wurde im Berliner Congress Center am Alexanderplatz ausgiebig gefeiert, doch Lola war an diesem Abend im Bett geblieben. Und als sie am Morgen nach der Veranstaltung aufwachte, hatte Manuela Müller, die mit ihr aus verqueren Gründen auf Facebook befreundet war, ein Foto von Lola getaggt. Auf diesem Foto war Lola zu sehen, oder vielmehr ein Selfie von ihr, das man ohne ihre Erlaubnis im Rahmen der Feierlichkeiten mit einigen anderen Selfies von einigen anderen Instagram-Größen aufgehängt hatte. Man konnte auf diesem Foto Lolas Selfie sehen und wie es an der Wand hing, aber insbesondere konnte man Olaf Henninger sehen, der einen schwarzen Edding in der Hand hielt und einen Hitlerbart über Lolas Oberlippe malte. Dabei machte Olaf Henninger nicht nur ein äußerst vergnügtes Gesicht, sondern auch den weltbekannten Terry-Richardson-Daumen. Das muss vor Ort so lustig ausgesehen haben, dass Manuela nicht widerstehen konnte, davon ein Foto zu machen, dieses dann auf Facebook hochzuladen und als Kommentar darüber »Olaf Henninger schminkt« zu schreiben. Das Foto hatte binnen weniger Minuten vierundsiebzig Likes und dreiundvierzig Kommentare. Diese dreiundvierzig Kommentare wechselten im Tonfall zwischen »Saulustig!« bis »Seid ihr völlig bescheuert?«, was so viel hieß wie Was-hab-ich-mit-dem-Holocaust-zu-tun und Wir-dürfen-den-Holocaust-niemals-vergessen.

Lola saß derweil in ihrem Bett, hatte den Rechner auf ihrem Schoß und fühlte nichts. Dann summte ihr Handy, und sie sah, dass Manuela aka Karla Minogue sie schon wieder getaggt hatte. Diesmal auf Instagram. Auch hier erschien das Foto von Lolas Selfie, das Olaf mit einem Hitlerbart versehen hatte. Und weil Lola weiterhin nichts fühlte, machte sie erst einmal Screenshots. Von allem: den Profilen von Manuela und Olaf, den geposteten Bildern, den Likes und den Kommentaren. Als sie damit fertig war, trafen die ersten Nachrichten auf ihrem Handy ein, die sich ausschließlich um das Foto drehten. Selbst Lolas Freunde reagierten auf völlig gegensätzliche Weise. Manche fanden ihre Selbstironie »geil«, andere, darunter ihre jüdischen Freunde, fragten, ob das von Lola so gewollt war. »Immer musst du so krass übertreiben«, schrieb Ari, und Rosa schickte eine WhatsApp-Nachricht: »Ich find’s ultra unangebracht.«

Es war 11:27 Uhr, als Max anrief. Sie fragte Lola in einer beunruhigenden Neutralität, ob sie das mit Manuela abgesprochen hätte. Lola legte auf, ohne zu antworten, löschte die Markierung auf Facebook und auf Instagram, wählte die Telefonnummer der PR-Abteilung der und brüllte drei Minuten Beschimpfungen ins Telefon. Dann rief sie ihre Freundin, die Musikerin Miri Eshkenazi, an, schrie auch hier wieder die meiste Zeit und schaffte es dennoch, die Nummer von Miris Anwalt, David Frenkel, zu notieren.

Obwohl maximal fünfzehn Minuten vergangen waren, fühlte sich Lola so erschöpft, als wäre es schon zwei Uhr nachts. Sie ging ins Bad, erinnerte sich daran, dass das Warmwasser an diesem Tag abgestellt war, drehte trotzdem den Hahn voll auf und duschte das erste Mal in ihrem Leben eine halbe Stunde kalt.

Danach fühlte Lola wieder nichts mehr. Sie druckte alle Screenshots aus, zog sich schnell etwas an, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr durch die mit nassen Blättern bedeckten Straßen zur Polizeidienststelle in der Brunnenstraße. Dort empfing sie ein ruppiger Polizeibeamter, der aber, nachdem er die Screenshots gesehen hatte, nicht nur sofort einen Kriminalbeamten anrief und ihm die Situation schilderte, sondern auch äußerst freundlich wurde. Dann bekam Lola ein Merkblatt in die Hand gedrückt und musste im Warteraum Platz nehmen.

Nach einer Dreiviertelstunde trat eine Polizeibeamtin aus einem muffigen Raum heraus, in den sie Lola hereinbat. Der Raum roch nach kaltem Rauch. Die alten, vergilbten Poster, die an der Wand hingen, waren an den Ecken eingerissen, und der runde Tisch aus Pressspan stand verloren auf dem braunen Linoleum. Lola breitete die Screenshots auf dem Tisch aus, weil die Polizeibeamtin aber zuvor noch nie von Facebook oder Instagram gehört hatte, musste Lola ihr erst einmal beides erklären. Auch die Funktionen Liken, Kommentieren und Taggen. Das führte dazu, dass sie sich sichtlich näherkamen, denn dafür hatte sich scheinbar bisher noch niemand Zeit genommen. Nachdem die Lernphase abgeschlossen war, zeigte Lola abwechselnd auf Likes, Kommentare, Tags, Profile sowie Fotos, und die Polizeibeamtin musste den Begriff dazu nennen. Das lief ausgesprochen gut, und als Lola das Gefühl hatte, dass die Polizeibeamtin jetzt mit Facebook und auch Instagram umgehen konnte, erzählte sie von Manuela Müller, die sie nur kannte, weil sie manchmal bei COS shoppte und weil Manuela Müller vor fünf Jahren eine Affäre mit Lolas Exfreund angefangen hatte und sich seither schuldig fühlte. Dann berichtete sie von Olaf Henninger, den sie auch kannte, aber ausschließlich von den Abenden, die er in der verbrachte, um Kokain zu ziehen, das Lola jedes Mal dankend abgelehnt hatte. Die Beamtin fragte, ob Lola sicher sei, dass Olaf Henninger nicht vielleicht unglücklich verliebt in sie wäre und der Hitlerbartvorfall möglicherweise aufgrund einer emotionalen Zurückweisung passiert sei. Als die Beamtin diese Frage zu Ende formuliert hatte, erklärte Lola schreiend, dass sie Jüdin sei und dass man das wisse, dass Manuela und Olaf das wüssten und dass es ihr scheißegal sei, ob Olaf verliebt und Manuela braindead wäre, schließlich könne man unter absolut keinen Umständen auf einer Veranstaltung mit über fünftausend geladenen Gästen, die alle in gewisser Hinsicht aus Lolas Arbeitsumfeld stammten, einem Porträt von ihr einen Hitlerbart verpassen. Die Beamtin wurde rot und versuchte, Lola zu beruhigen. Das war aber nicht einmal Miri Eshkenazi gelungen. Also behauptete sie einfach, telefonieren zu müssen, und flüchtete aus der misslichen Lage. Sie ließ Lola mit ihrem Schreianfall zurück, an diesem braunen, hässlichen Pressspantisch mit den ausgebreiteten Screenshots. Als Lola niemanden mehr zum Anschreien hatte, dachte sie nach. Sie dachte daran, wie sie noch vor Jahren bei Hannah, ihrer Großmutter, gesessen hatte, die immer und überall Vorboten für das Sequel zum Holocaust sah, und wie sie jedes Mal mit den Augen rollte, wenn Hannah mit diesem Quatsch anfing. »Ich sehe keinen Antisemitismus«, hatte Lola immer zu ihrer Großmutter und auch zu allen anderen gesagt, die solchen Mist behaupteten. Sie dachte auch daran, wie in der Schule plötzlich rausgekommen war, dass sie Jüdin ist, und wie dann alle furchtbar nett zu ihr waren und sie drei Wochen später zur Klassensprecherin gewählt wurde. Sie dachte an ihren ersten Freund, der auch ostdeutscher Jude war und mit dem sie nur deshalb zusammen war, weil alle fanden, dass das doch eine unglaubliche Begegnung sei, schließlich hätten seine Urgroßmutter und ihr Urgroßvater zusammen in Schanghai im Exil gelebt, aber Lola hatte ihn nie geliebt und irgendwann verlassen, weil ihr diese Zusammenhänge absolut nebensächlich erschienen. Außerdem dachte sie daran, wie sehr Simon, ihr Vater, Deutschland hasste und wie ihr das so dermaßen auf die Nerven gegangen war, dass sie ihn nicht mehr ernst nehmen konnte. Sie hatte sich immer als Deutsche gesehen. Immer. Sie war als Jüdin großgezogen worden. Von Hannah und von Gershom und natürlich von Simon.

Lola hatte ihren Kopf auf den Screenshots abgelegt, und ihre Arme hingen kraftlos am Körper runter. Ihr war schlecht und schwindelig. Es schien sich eine Tür geöffnet zu haben, die sich nun nicht mehr schließen ließ, hinter der sich eine Wahrheit befand, die Lola viel zu lange einfach ignoriert hatte.

Die Polizeibeamtin betrat den Raum und brachte die ausgefüllte Anzeige mit. »Liebe Frau Wolf, ich kann ihnen mitteilen, dass es sich nicht nur um eine Beleidigung, sondern außerdem um ein Vergehen nach § 86a handelt. Es ist nach dem deutschen Gesetz verboten, verfassungswidrige Symbole zu verwenden oder zu verbreiten.« Lola atmete tief aus. Sie nahm den Zettel entgegen, steckte ihn mit den Screenshots in ihre Tasche und fuhr auf dem schnellsten Weg zurück in ihre Wohnung.

Sie krabbelte unter die Decke ihres Bettes und managte den nicht enden wollenden Ansturm an Reaktionen auf das getaggte Foto. Am späten Nachmittag rief der Chef der zurück und entschuldigte sich bei ihr, wie sich vorher noch nie jemand bei ihr entschuldigt hatte. Er versicherte, Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen, und erörterte ausgiebig, wie unangenehm ihm das Verhalten von Olaf Henninger war. Theoretisch hätte sich Olaf Henninger selbst unangenehm sein müssen, aber weder er noch Manuela fanden ihr Verhalten unangebracht. Und damit waren sie nicht allein. Schnell merkte Lola, wer auf der Der-Holocaust-is-so-over-Seite und wer auf der...


Funk, Mirna
Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für 'Neon', 'L’Officiel Germany' und 'Süddeutsche Magazin', und schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. 2015 erschien ihr Debütroman ›Winternähe‹, für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde.

Literaturpreise:

Uwe-Johnson-Förderpreis 2015

Mirna FunkMirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für 'Neon', 'L’Officiel Germany' und 'Süddeutsche Magazin', und schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. 2015 erschien ihr Debütroman ›Winternähe‹, für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde.

Literaturpreise:

Uwe-Johnson-Förderpreis 2015



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