Funke | Mord 1. Grades | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

Funke Mord 1. Grades

Eine Zerstörung
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7504-8885-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Zerstörung

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

ISBN: 978-3-7504-8885-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mann ermordet seine Mutter. Vorausgegangen sind jahrelange Demütigung, Erniedrigungen und Beleidigungen. Ein gebrochenes Verhältnis seit er seiner Kindheit. Er hat fast alles verpfuscht, Karriere und Liebesbeziehungen. Die Schuld gibt er der Mutter. Diese ist ein zähes, rachsüchtiges Weib, verwirrt von den Umwälzungen im neuen Deutschland, wo sie einst im Schatten der allmächtigen Partei Macht und Einfluss besaß. Das Buch fällt durch genaue Beobachtungen und psychologisches Raffinement auf. Es entsteht ein Sog, dem sich der Leser kaum zu entziehen vermag.

Klaus Funke, 1947 in Dresden geboren, ist Autor zahlreicher Romane, Novellen und Erzählungen. Darunter Die Betrogenen, Der Teufel in Dresden, Das doppelte Ich - und viele andere
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Keiner hat gesehen, wann und woher dieser Mann gekommen ist. Es ist niemandem aufgefallen. Nicht dem Wirt, nicht dem Personal und nicht den Gästen. Plötzlich hat der Fremde dagesessen auf einem der Holzstühle. Stumm, unauffällig und wie verloren mitten unter ihnen.

Die neue Bedienung, eine junge Frau von kaum Dreißig, stammend aus einem der nahe liegenden Dörfer, beschäftigt in diesem Ausflugslokal erst seit wenigen Wochen, beginnt draußen auf der Terrasse abzuräumen. Rotes Haar, blasser Teint mit vielen Sommersprossen auf der Nase und den Wangen, Sommersprossen, die sie frisch und gewitzt aussehen lassen. Sie reckt sich über die Tische und stellt die Teller zusammen. Das weiße Schürzenband pendelt über dem straffen schwarzen Rock, der viel zu kurz ist. Makellose Beine in dunkelgrünen Nahtstrümpfen. Der rotbraune Zopf, geflochten und von einem ebenfalls grünen Band gehalten, rutscht ihr von der Schulter nach vorn. Sie setzt das gerade ergriffene Geschirr ab, richtet sich auf, um den Zopf wieder nach hinten zu schieben.

Da sieht sie den Mann.

An einem Tisch in der dunkleren Ecke der Terrasse, dicht an der begrenzenden Hecke, sitzt er - grauhaarig, Stirnglatze, Mitte Vierzig. Den Kopf gebeugt, die ganze Gestalt in sich gesunken, apathisch, abwesend starrt er auf einen Punkt der bergigen, waldreichen Landschaft, die durch die stark gelichtete Buchenhecke der Terrasse schimmert. Die Bedienung - sie heißt Gerti Schubert - stutzt. Sie überlegt.

Hat der vorhin schon hier gesessen, als die Reisegesellschaft noch da war? Gehört er gar zu ihnen? Hat man ihn vergessen?

Sie geht über den knirschenden Kies auf ihn zu.

Der Mann hebt langsam den Kopf. Blickt sie an und durch sie hindurch. In seinen Augen, grauen, eisgrauen Augen mit unnatürlich weiten Pupillen, Augen, die von roten entzündeten Rändern gerahmt werden, entdeckt die Bedienung Gerti Schubert etwas, dass ihr einen Schrecken den Nacken hinabjagt. Oh, da ist Kälte. Kalte, harte Entschlusskraft und Schmerz, da ist aber auch Endgültiges, Abschließendes wie von jemandem, der mit sich und allem Schluss gemacht hat.

Sie kennt das. Sie muss sofort an ihren Bruder Jan denken, der sich vor wenigen Monaten gleich hier in der Nähe vor den Zug geworfen hat. Der hat auch so geblickt, kurz vor seiner furchtbaren Tat. Diese Augen. Der gleiche Ausdruck. Nur wusste damals niemand, auch sie, die Gerti nicht, was er vorhatte, und dass er in dreißig Minuten von einer dahinschießenden Eisenmasse, vom Intercity Berlin-Prag zermalmt, zerrissen und gevierteilt werden würde. Aber dieser Blick, an den hat sie sofort gedacht und der hat sich ihr eingebrannt als sie die schreckliche Nachricht erhielt, so wie sie sich jetzt vor diesem Unbekannten mit Schauder erinnert - dieser Ausdruck, dieser Blick würde für immer in ihrem Kopf bleiben. Wie eine Fotografie. Bis an ihr Lebensende. Sie presst die Augen für einen Moment zusammen, will die Bilder, die in ihr aufgestiegen sind, los werden. Sagt – und ihre Stimme klingt heiser:

„Haben Sie noch einen Wunsch, mein Herr?“

Und sie ergänzt, weil sie spürt, noch etwas hinzufügen zu müssen, etwas, dass entspannen, mildern, nett klingen soll. Sie versucht ein Lächeln.

„Sie gehören nicht etwa zu der gerade abgefahrenen Reisegruppe?“

Der Mann schaut ihr jetzt ins Gesicht, nicht mehr durch sie hindurch. Doch es irritiert sie, denn sein Blick ist nicht auf ihre Augen, sondern auf ihre Stirn gerichtet. Auf einen Punkt über ihren Augen, zwischen der Mitte der Augenbrauen und dem Haaransatz.

Er starrt sie an, presst die Lippen aufeinander und sagt dann mit langsamer schleppender Stimme einen Satz, der sie, die Gerti Schubert noch einmal schaudern lässt, sodass die gerade verjagten Ängste rasch wieder hochkommen:

„Ich habe heute und für lange keinen Wunsch mehr!“

Und er fügt hinzu: „Nein, lassen sie mich nur ein Weilchen hier sitzen. Mehr will ich nicht.“

Gerti Schubert nickt und zuckt erleichtert die Achseln. Da fällt ihr Blick auf die Schuhe des Mannes und die hellen Hosen. Braune, elegante italienische Schuhe und beige Leinenhosen mit Umschlag. Doch an ihnen klebt noch feuchter Schmutz, richtige Erdklümpchen und weiter oben an den Hosenbeinen sieht sie dunkle Flecken.

Blut?!

Es sieht aus wie Blut. Die junge Frau zuckt zusammen. Ein Unfall, denkt sie, fragt:

„Hatten Sie einen Unfall?

Zeigt auf die beschmutzten Hosen und Schuhe, ruft:

„Können wir helfen?“

„Nein, nein, es ist nichts. Wirklich nichts. Ich bin nur vorhin als ich gekommen bin in eine schlammige Pfütze getreten. Hab nicht aufgepasst. Verzeihung.“

Er macht eine entschuldigende Geste, wendet sich ab und starrt wieder durch die Hecke hindurch hinaus auf die Landschaft, welche jetzt aber durch die sinkende Sonne seltsam grell erscheint.

„Und sie wollen wirklich nichts?“

„Nein. Ich sagte doch: Ich will nichts. Lassen Sie mich bitte in Ruhe. Oder darf ich hier nicht sitzen?“

Er blickt sie nicht mehr an, starrt, scheint sie vergessen zu haben.

Die Bedienung schüttelt den Kopf und geht über den knirschenden Kies zurück, beugt sich ein paar Tische weiter über Teller und Tassen, Gläser und Aschenbecher, stellt das Geschirr zusammen, baut es auf ihrem linken Unterarm zu einer Pyramide und balanciert zum Haus.

Drinnen fragt Hackenbiehl, der Wirt, der sie durch die offene Tür mit dem Gast sprechen gesehen hat:

„Will der noch was?“

„Nein, nur sitzen will er.“

Ob etwas mit dem sei, fragt er die Gerti.

Er hat mit seinem untrüglichen Kneiperinstinkt bemerkt, ja gerochen fast, dass mit diesem einsamen Mann da draußen auf der Terrasse etwas nicht stimmt.

Jetzt poliert er ein großes Weißbierglas und schaut dabei der Bedienung mit seinen wässrigen, hervorstehenden blauen Augen intensiv in ihre meergrünen, mit Wimperntusche umrandeten.

„Ich weiß nicht. Irgendwie bekomm ich mein Grauen, wenn ich ihn anschaue. Musste sofort an meinen Bruder denken. Ganz plötzlich.“

„Ach, Gerti, vergiss doch die alte Geschichte.“

„Nein wirklich, Chef. Und der hat auch ganz beschmierte Schuhe und Hosen. An den Knien... das sah aus wie... wie... Blut. Große Flecke. Als hätt´ er drin gekniet. Echt, Chef.“„

Mädel, du phantasierst. Vielleicht war es Wasser. Das sieht manchmal, wenn es frisch ist, auch so aus wie Blut. Er wird gestürzt sein oder ausgerutscht. Oder, was weiß ich.“

„Ja, er hat gesagt, er wäre in eine Pfütze getreten.“

„Na bitte… Deck doch jetzt bitte die fünf Tische da hinten ein."

Dann sagt er noch, der Hackenbiehl, und wieder ganz Chef, es sei sowieso gleich sechse. Die Reisegesellschaft komme jeden Moment und nichts sei fertig. Also, marsch, marsch…

Gerti Schubert nickt, macht sich an die Arbeit.

Und der Wirt werkelt hinter Theke weiter. Doch während er so dieses und jenes arbeitet, Gläser spült, ein Fass neu anzapft, den Kaffeeautomat füllt, denkt es hinter seinem breiten, kahlen Schädel:

Wann verflixt hab´ ich diesen Menschen da draußen heute das erste Mal gesehen? Wann wird er gekommen sein? Richtig, sagt er sich, es muss gegen drei gewesen sein. Ja, da waren die Wanderer und die Fahrradgruppe gerade eingetroffen. Und von denen hat dann der Hagere, der mit dem großen Bart, gleich im Stehen, noch den Rucksack in der Hand, ein großes Bier gekippt. Und dann haben sie ihre Wanderkarten ganz selbstverständlich auf zwei oder drei Nachbartischen ausgebreitet, sodass die Ausflugsgesellschaft aus dem silbernen Kleinbus, die eben ausgestiegen war und jetzt einen freien Tisch suchte, in ihrer Not hier herein in die Gaststube kommen musste.

Da, in diesem Moment wird der Kerl auf der Terrasse aufgetaucht sein, dieser komische Typ. Gleich neben der Hecke, zum kleinen hölzernen Pförtchen muss er hereingeschlüpft sein, denn als ich raus wollte, um den Wanderern zu sagen, dass sie die Tische nicht mit ihren Karten belegen könnten, da hab ich ihn plötzlich sitzen sehen.

Ja, dort, wo er jetzt hockt. Vorher nicht? Nein vorher saß da noch niemand. Also klebt der nun schon fast zwei Stunden an dieser Stelle fest.

Der Wirt schielt auf eine alte Standuhr, die gleich neben der Theke vor sich hin tickt und überlegt weiter: Aber bestellt…? Nee, bestellt hat der nix, oder fast nix: Zwei Wasser, einen Kaffee. Was ist das schon. Ja, hier ist noch der Bon auf dem Spießer.

Und Hackenbiehl greift danach und wendet den Schnipsel hin und her. Dann aber ergreift ihn die Neugier und sein Instinkt für die Abgründe dieses Lebens vollends und er schiebt, nein er rollt, er schwenkt seinen schweren Körper elastisch hinter der Theke hervor und geht hinaus auf die Terrasse.

Er geht direkt auf den Mann zu. Direkt und geradewegs. Im Laufen bindet er sich noch die graue, befleckte Halbschürze ab, behält sie zerknüllt in der linken Hand.

Ja, er will, er muss es jetzt wissen, was mit dem Kerl los ist. Ein Gefühl von Amtsperson, von Verantwortung, von Besorgtheit auch, ist plötzlich in ihm. Und...



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