E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Funke Trinken und Essen im Autismus-Spektrum
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-044772-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wahrnehmungsbesonderheiten nutzen - Genuss ermöglichen
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-17-044772-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrike Funke ist Logopädin und seit 20 Jahren in eigener Praxis tätig. Sie gründete und leitete mehrere Jahre ein Autismuszentrum. Frau Funke entwickelte das Konzept Komm!ASS und gibt hierzu seit 2013 regelmäßig Fortbildungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Die autistische Wahrnehmung
Jeder Mensch nimmt die Welt und seinen Körper ganz individuell wahr, mit spezifischen Vorlieben und Abneigungen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Trotz dieser Individualität gibt es viele Gemeinsamkeiten und Überschneidungen. Der Begriff Neurodiversität beschreibt diese Vielfalt des menschlichen Gehirns. Bei einigen Menschen zeigt sich jedoch ein deutlich größeres Spektrum, wie Impulse und Informationen wahrgenommen und verarbeitet werden. Die Art und Weise, wie autistische Menschen hören, sehen, riechen, schmecken und fühlen, wie sie Informationen wahrnehmen, filtern und abspeichern, wie sie diese aufnehmen und verarbeiten, zeigt eine ganz besondere Ausprägung. Hier greift der Begriff Neurodivergenz.
»Ähnlich wie es verschiedene Persönlichkeiten, Temperamente und Begabungen gibt, existieren auch unterschiedliche Arten, zu denken, zu fühlen und die Welt wahrzunehmen.« (Kiene, 2024, S. 29)
»Während ›neurotypisch‹ Menschen bezeichnet, deren neurologische Entwicklung als gesellschaftlicher Standard gilt, umfasst ›neurodivergent‹ ein breites Spektrum an neurologischen Unterschieden.« (Kiene, 2024, S. 33)
Doch was bedeutet eine autistische oder auch neurodivergente Wahrnehmung? Die Wahrnehmung autistischer Menschen vollzieht sich dabei zumeist in Extremen.
Hyposensibilität versus Hypersensibilität
Viele Informationen werden entweder kaum wahr- oder aufgenommen (Hyposensibilität) oder besonders intensiv gespürt (Hypersensibilität). Abstufungen zwischen den beiden gegensätzlichen Intensitäten sind kaum zu beobachten, so dass Informationen entweder nicht ausreichend sind, um aufgenommen und zugeordnet zu werden, oder es liegt eine Überstimulation vor und es kommt zu einer Übererregung des zentralen Nervensystems.
Impulssuchend versus impulsvermeidend
Bedingt durch das Erleben in Extremen werden einige Impulse explizit gesucht: So werden bei einer Hyposensibilität unterschiedliche Impulse zumeist in einer starken Intensität bevorzugt, damit sie überhaupt wahrnehmbar sind. Bei einer vorwiegenden Hypersensibilität werden die entsprechenden Impulse eher vermieden, um einer Übererregung entgegenzuwirken. Die Über- und Unterempfindlichkeiten können sich in Bezug auf eine ähnliche sensorische Information oder im Hinblick auf ein Körperteil gleichermaßen zeigen. Es ist möglich, dass ein Kind von der Zahnreinigung völlig überfordert ist und die Zahnbürste im Mund ablehnt, in einer späteren Spielsituation jedoch mehrere Legosteine gleichzeitig in den Mund nimmt und genüsslich darauf herumkaut. Viele Betroffene reagieren auf sanfte Berührungen sehr sensibel und empfinden diese als schmerzhaft. Im Gegensatz dazu genießen sie starke Impulse, wie eine Massage mit dem Igelball oder ein festes Abklopfen. Für Außenstehende erscheint dies oft widersprüchlich oder willkürlich. Ob in einer bestimmten Situation eine Über- oder Untersensibilität in Bezug auf einen bestimmten Wahrnehmungsbereich vorliegt, lässt sich auf den ersten Blick zum Teil nur schwer festlegen. Ist das gezeigte Verhalten eine Vermeidung eines Impulses oder ist es die intensive Suche nach dem gegensätzlichen Impuls? Im Vergleich mit weiteren Besonderheiten wird es leichter, das gezeigte Verhalten einzuordnen.
Hypertonus versus Hypotonus
Das andere Spüren des eigenen Körpers beeinflusst auch die Bewegungssteuerung und den Körpertonus: Entweder ist die Muskelspannung sehr gering und die entsprechenden Muskeln sind nur wenig ausgebildet oder die Muskelspannung ist besonders hoch und es zeigt sich zum Teil ein hohes Kraftpotential. Ein stetiger Wechsel zwischen den beiden Extremen ist ebenfalls möglich. Sowohl bei einer besonders niedrigen als auch bei einer besonders hohen Anspannung sind die sensorischen Prozesse sowie gezielte (fein-)motorische Abläufe beeinträchtigt.
Zusätzlich wirken sich auch die Unterschiede bei der Verarbeitung mehrerer zeitgleicher Informationen auf das Erleben und auf mögliche Reaktionen aus (? Kap. 9). Wenn besonders viele Impulse zeitgleich wahrgenommen und Störimpulse oft nicht gezielt ausgeblendet werden können, führt dies zu einer Überforderung. Werden hingegen bedeutungstragende Informationen nicht ausreichend fokussiert, werden sie nicht passend verarbeitet.
Autistische Wahrnehmung: Besonderheit mit oder ohne Unterstützungsbedarf?
Aber nicht jeder Mensch mit einer neurodivergenten Wahrnehmung ist im Autismus-Spektrum. Es gibt weitere Diagnosen und Einteilungen von Menschen mit einer besonderen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung und nicht jede dieser Besonderheiten bedarf einer Unterstützung in Form von Alltagsbegleitung und Therapien. So zeigen sich auch bei einer Hochsensibilität oder bei den unterschiedlichen Ausprägungen von ADHS Bereiche, die zwar besonders sind, aber keine oder nur sehr geringe Hilfestellungen benötigen. Eventuell sind bereits ein angepasstes Umfeld, etwas mehr Zeit oder auch eine allgemeine Stressreduktion ausreichend. Auch das Ermöglichen von mehr Selbstbestimmtheit, das Zulassen von Abweichungen sowie die Erlaubnis, Verstärker nutzen zu dürfen, erleichtern Teilhabe und ermöglichen zugleich Lebensqualität.
Bei einer starken Ausprägung der Besonderheiten, bei einer stark abweichenden Wahrnehmung und deren Verarbeitung sind umfassende Unterstützungen jedoch nicht nur hilfreich, sondern unabdingbar und vor allem ist es jedoch notwendig, die zu Grunde liegenden Zusammenhänge und das daraus resultierende Verhalten genauer zu betrachten. Das beobachtbare Verhalten ist dabei ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis, es ermöglicht Rückschlüsse zu ziehen auf die individuelle Wahrnehmung und zeigt damit ggf. notwendige Unterstützungsmöglichkeiten auf.
»Autistisches Verhalten ist richtiges Verhalten auf eine andere Wahrnehmung« (Vero, 2020, S. 10)
Abb. 1.1:Ein Nicht-Verstehen der Schwierigkeiten verhindert eine passende Unterstützung, ein besseres Verständnis ermöglicht hingegen individuelle Hilfestellungen
1.1 Trinken und Essen mit autistischer Wahrnehmung
Die Intensität, mit der die beteiligten Informationen beim Trinken und Essen gespürt werden, zeigt sich auch hier in einem Erleben in Extremen. Da die Nahrungsaufnahme ein sensorisch und motorisch hochkomplexer Vorgang ist, sind die Auswirkungen tiefgreifend und vielfältig: Die Auswahl an Lebensmitteln ist zumeist deutlich eingeschränkt und es werden nur einige wenige und zum Teil sehr besondere Nahrungsmittel toleriert. Lebensmittel werden als zu saftig, zu stückig, zu scharf, zu schwabbelig, zu sauer, zu nicht-schmeckend, zu intensiv-schmeckend, zu kross, zu weich, zu rot, zu neu, zu gewohnt, zu warm, zu ... empfunden. Manches Mal können diese aber auch nicht scharf genug, heiß genug, bitter genug oder süß genug sein. Die motorischen Abläufe beim Trinken, Abbeißen, Kauen und das anschließende Hinunterschlucken der Nahrung – all diese Einzelschritte sind für autistische Menschen nur schwer zu bewältigende Herausforderungen, welche zusätzlich noch miteinander kombiniert und aufeinander abgestimmt werden müssen.
»An manchen Tagen schmecke ich gar nichts. Ich spüre dann meist meinen Mund gar nicht. Es sind also der taktile Sinn und der Geschmackssinn ausgeschaltet, während ich Gerüche noch wahrnehme. Ich stopfe dann das Essen in meinen Mund und merke gar nicht, wann ich satt bin.« (Zöller, 2001, S. 84)
Zusätzlich benötigt die Nahrungsaufnahme selbst, die Koordination beim Benutzen von Becher, Glas oder Besteck sensorische und motorische Fähigkeiten. Rahmenbedingungen, wie das Zusammensein am Tisch, das Abwarten auf den Beginn der Mahlzeit oder Gerüche aus der Küche, stellen weitere Belastungen dar, die eine ausreichende oder sogar genussvolle Nahrungsaufnahme verhindern. Je nach Tagesform und situationalen Bedingungen ist diese Aufgabe mit einer erhöhten und zudem stetig wachsenden Anspannung verbunden. In der Folge zeigen sich Verhaltensweisen wie Schreien, Um-sich-Schlagen oder Aufspringen, bis hin zur völligen Verweigerung der Trink- und Essenssituation. Die Einschränkungen sind vielfältig, die Menge beim Trinken und Essen ist deutlich reduziert, Nahrung wird zum Teil nicht gekaut, sondern im Ganzen hinunterschluckt, das Geschluckte wird manchmal sogar wieder hochgewürgt oder erbrochen. Das alles beeinträchtigt die körperliche Gesundheit mit unterschiedlichen negativen Auswirkungen u.?a. auf die Verdauung. Bedingt oder verstärkt durch eine mögliche Mangel- bzw. Fehlernährung können motorische und kognitive Entwicklungsverzögerungen hinzukommen. Auch die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Diagnosen aus dem Bereich der Trink- und Essstörungen sind möglich (? Kap. 2.3).
Anstatt Wohlbefinden und Entspannung bedeuten Trinken und Essen...