Gabriel / Scobel | Zwischen Gut und Böse | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Gabriel / Scobel Zwischen Gut und Böse

Philosophie der radikalen Mitte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-89684-586-3
Verlag: Edition Einwurf GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Philosophie der radikalen Mitte

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-89684-586-3
Verlag: Edition Einwurf GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein gutes Leben, das Richtige tun: Wie kann das gelingen? Gert Scobel und Markus Gabriel entwerfen eine neue Ethik, auf die wir - als Einzelne, als Gesellschaft und als Staat - unser Handeln auch in Krisenzeiten aufbauen können. Zwischen Gut und Böse liegen unzählige Möglichkeiten. Entsprechend weit spannen die beiden Philosophen ihre Gedanken: Anknüpfend an Traditionen der guten Lebenspraxis, an abendländische und asiatische Denkwege gehen sie der Frage nach, wie wir in einem komplexen Leben mit begrenzter Erkenntnis gute Entscheidungen treffen können. Im Dialog entwickeln Gabriel und Scobel das Prinzip der 'radikalen Mitte', in der sich unser Wissen, Denken, Fühlen, unsere Werte und Erfahrungen in einer Entscheidung und zugleich im Handeln verdichten. Werden wir uns dieser Mitte bewusst und kultivieren sie, erkennen wir in ihr die Wirklichkeit, aber auch den gewaltigen Raum der Möglichkeiten: und dazwischen uns selbst. In dieser Mitte, davon sind Markus Gabriel und Gert Scobel überzeugt, ist das Gute immer eine reale Option.

Markus Gabriel gehört zu den bekanntesten Philosophen der Gegenwart, mit Professuren in Bonn, an der Sorbonne (Paris 1) in Paris und an der New School for Social Research in New York. In Bonn leitet er zugleich das Internationale Zentrum für Philosophie NRW. Gabriel schrieb zahlreiche Bücher, darunter 'Fiktionen' und den Bestseller 'Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten' (beide 2020). Gert Scobel ist einer der renommiertesten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands, Moderator und Redaktionsleiter der wöchentlichen Sendung 'scobel' auf 3sat. Er erhielt u.a. den Grimme und den Deutschen Fernsehpreis. Scobel lehrt an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und ist Autor mehrerer Sachbücher, zuletzt 'Nicht-Denken' (2018) und 'Complexify your life' (2021).
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ANTINOMIE

»In dem Cirkel, daraus alles wird, ist es kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist.«

FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, »PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN ÜBER DAS WESEN DER MENSCHLICHEN FREIHEIT UND DIE DAMIT ZUSAMMENHÄNGENDEN GEGENSTÄNDE«, 1809

*  Delta (griechischer Buchstabe)
und Differenzzeichen (Mathematik)

Kapuzineräffchen


GERT SCOBEL: Ausgangspunkt für unsere nächsten Überlegungen über Ethik war ja vor etwa anderthalb Jahren der TED-Talk des Primatenforschers Frans de Waal über sein Experiment mit zwei Kapuzineräffchen, das wir beide höchst interessant fanden.21 Und das ist der Versuchsaufbau: Zwei Kapuzineräffchen befinden sich jeweils so in einem Käfig, dass sie sich gegenseitig gut beobachten können. Die beiden haben gelernt, mit einem sogenannten Token zu arbeiten. Ein Token ist ein Gegenstand, den man einem Äffchen gibt, in unserem Fall einen Stein. Der Affe gibt den Gegenstand zurück – und erhält dafür eine Belohnung im Austausch für diesen Stein. Das eigentliche Experiment läuft im Folgenden so ab: Der Stein wird Äffchen eins gegeben, das Äffchen gibt ihn zurück und erhält dafür als Belohnung ein Stück Traube. Das Gleiche geschieht bei Äffchen zwei, das jedoch nur eine Gurke erhält. Eine Gurke ist völlig okay für Kapuzineräffchen, eigentlich ein super Essen, da kann man nicht meckern: aber keine Delikatesse. Kapuzineräffchen zwei registriert das, und man spürt, es ist irgendwie irritiert. Zweite Phase. Kapuzineräffchen eins kriegt zum zweiten Mal das Token, gibt es brav zurück, erhält wieder eine Traube, das andere jedoch die Gurke. Äffchen zwei fängt an, leicht zu rebellieren, und schmeißt die Gurke in Richtung Experimentator aus dem Käfig. Beim dritten Mal wird der zweite Kapuzineraffe richtig aggressiv, ist wütend, rebelliert und schleudert die Gurke heraus. Wenn man genau hinschaut, und dieses Detail entgeht einem leicht, geschieht noch etwas Erstaunliches. Das zweite Äffchen nimmt das Token, also den Stein, und klopft mit ihm gegen die Wand, bevor es ihn wieder zurückgibt – so als prüfe es den Stein, ob irgendwas mit diesem Medium der Kommunikation nicht richtig funktioniert und es an dem Stein liegt, dass es eine Gurke und keine Traube erhalten hat.

Über dieses Experiment haben wir beide uns unterhalten – mit dem intuitiven Gefühl, dass es einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis von Moral, vielleicht auch von Ethik enthält. An dieser Stelle sollte man darauf hinweisen, dass es seit einiger Zeit unter Primatenforschern und Anthropologen einen Streit über das Experiment und seine Deutung gibt – was für uns bedeutete, dieses Experiment nicht überzubewerten. Aber es zeigt etwas Wichtiges. Wir haben es hier mit zwei bewussten, aber unterschiedlichen Verhaltensweisen im Tierreich zu tun. Sie haben erstens entscheidend mit der wechselseitigen Beobachtung der Tiere zu tun, zweitens mit ihrer Wahrnehmung eines Unterschiedes in der Qualität der Belohnung, die sie für dieselbe Handlung erhalten, und drittens mit einem Versuch, auf die unterschiedliche Handlung so zu reagieren, dass eines der Tiere so etwas wie Empörung über ein offensichtlich als unfair gedeutetes Verhalten des Experimentators zeigt. Das alles scheint extrem menschlich zu sein. Die Verhaltensweisen rangieren von großer Zufriedenheit – ich erhalte die Traube und bin zufrieden, super! – bis hin zur offenen Rebellion, denn das Kapuzineräffchen, das immer mit der Gurke belohnt wird, tickt zum Schluss richtig aus. Es tobt im Käfig herum, schmeißt die Gurke raus, fängt an zu schreien. Es zeigt offensichtlich eine Form von Rebellion, Aggression oder Gewalt. Irgendwo zwischen diesen beiden Verhaltensweisen, zwischen »ich bin mit meinem Leben zufrieden und zeige kein groß auffälliges, problematisches Verhalten« und »ich agiere mit Gewalt« rangiert die Bandbreite auch unseres Verhaltens. Denn in vielen Fällen ist auch unser jeweiliges Verhalten eine Reaktion auf einen bestimmten Input, den wir zum Beispiel als fair oder unfair erfahren. Nun kann man überlegen, dieses Verhalten in einem nächsten Schritt auf Menschen zu übertragen. Tatsächlich gibt es ja in der Ökonomie eine Reihe von Experimenten zur Fairness. Analog kann man nun die Reaktionen unterschiedlicher Kulturen oder Menschen auf ein und denselben Input untersuchen. Wie reagiert beispielsweise eine Gesellschaft wie die deutsche auf Homosexualität und wie die Gesellschaft Thailands, Russlands oder Saudi-Arabiens? Man stellt eine Reihe solcher Vergleiche an und stellt fest: Auch die Differenzen im Verhalten von Menschen rangieren zwischen Reaktionen der Freude und Akzeptanz über neutrale Gleichgültigkeit bis hin zur »Rebellion« und zum Ausbruch von Gewalt. Auf diese Weise findet man Muster von Verhaltensweisen, die sich in den Details der Reaktion ebenso unterscheiden wie in dem Moment, ab dem es zu einer Art Kipppunkt im Verhalten kommt und Neutralität in eine aggressive Reaktion umschlägt. Der Begriff des Kipppunktes stammt dabei aus der Komplexitätstheorie, die unter anderem untersucht, wann es zu einem Riss, einer radikalen Veränderung in einem System kommt. Wann wird es zu viel – und die Zufriedenheit kippt in Unzufriedenheit und am Ende vielleicht in Gewalt? Was ist nötig, um diesen Umschlag hervorzubringen? Was sich jeweils unterscheidet, ist die Differenz, das heißt das Intervall der möglichen Verhaltensweisen, die ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Menschen zeigt. Mal zeigen wir sehr viele unterschiedliche Verhaltensweisen und sind beispielsweise sehr tolerant – das wäre ein großes Differenzintervall –, mal zeigt unser Verhalten sehr enge Grenzen, und wir sind sehr auf einen bestimmten Punkt fixiert, zeigen also nur eine geringe Differenz mit wenig Spielraum zwischen den Polen in unserem Verhalten. Und jetzt kann man – das war, glaube ich, der nächste Schritt unserer Diskussion – auf die Idee kommen: Okay, man misst jetzt einfach weltweit empirisch durch, wie sich Menschen in Bezug auf verschiedenste Problematiken verhalten, gleich, ob das politische sind, religiöse, moralische, sexuelle oder was auch immer. Dann bildet man jeweils eine Art von Durchschnittsmenge oder Durchschnittsintervall des Verhaltens und weiß dann, hält man die verschiedenen Reaktionsweisen mit ihren Differenzen gegeneinander, wo die größten Unterschiede liegen oder was umgekehrt faktisch die universelle Durchschnittsmoral bzw. Verhaltensweise ist. Natürlich können wir sagen, dass die Feststellung dessen, was faktisch der Fall ist, keine Lösung eines moralischen Problems oder einer ethischen Fragestellung sein kann, denn wir fragen uns in der Ethik ja nicht, was Menschen tatsächlich tun, sondern vielmehr, ob Menschen das, was sie tun, tatsächlich auch tun sollen. Das aber kann ich nicht ableiten aus den empirischen Gegebenheiten. Dennoch bildeten diese Analysen über die empirisch feststellbaren Differenzen im Verhalten eine Basis für unser weiteres Gespräch und unser Buch – einschließlich der Idee, dieses Kapitel mit »Delta« zu überschreiben. Delta, das mathematische Symbol für Differenzen, bezeichnet die Unterschiede bzw. Intervalle der möglichen Verhaltensweisen, die man empirisch messen kann.

MARKUS GABRIEL: Es gibt viele verhaltensökonomische und spieltheoretische Studien, die man mit den geeigneten Methoden wie mit den Kapuzineräffchen eben auch an Menschen in Simulationsumgebungen und unter nicht simulierten realen Bedingungen gemacht hat. Seit Längerem ist man immer wieder auf einer solchen Grundlage zu dem Ergebnis gekommen, dass Märkte nicht so unmoralisch sind, wie man glaubt, weil sich Menschen wie Kapuzineräffchen und andere Lebewesen auch, bei denen man das beobachtet hat, moralisch, sprich: prosozial verhalten und einen Sinn für Fairness haben. Doch dies kann bedeuten, dass Probanden sich gewissermaßen irrational verhalten. Beispiel: Wenn zwei Probanden 100 Euro zu verteilen haben und man ihnen sagt, der Erste darf einen Vorschlag machen, wie viel er sich nimmt, und der Zweite kann entweder den Anteil akzeptieren, den er erhält, oder das ganze Ding ablehnen, und keiner kriegt etwas. Wenn der Erste dann sagt, »Ich nehme 99 Euro«, lehnt es der Zweite fast immer ab, obwohl es ökonomisch gesehen irrational ist. Denn der Proband, der die Gesamtlage ablehnt, verliert einen Euro. Menschen, so in etwa die Konklusion, wären auf dieser Ebene an Fairness und damit an einer moralischen Kategorie orientiert.

GERT SCOBEL: Es anzunehmen, wäre Win-win für beide: wird aber als unfair erfahren. Ich gewinne etwas: Aber der andere verhält sich unfair, und das lasse ich ihm oder ihr nicht durchgehen.

MARKUS GABRIEL: Das wäre prosoziales Verhalten, das sich am Gedanken einer nicht ökonomischen Gerechtigkeit orientiert. Allerdings gibt es hier vielfältige Interpretationsprobleme. Etwa das folgende: Wer sagt denn, dass nicht Neid statt prosozialer Einstellungen die Entscheidung bestimmt? Dann wären solche Experimente kein Beweis für eine evolutionär angelegte Moralität, sondern umgekehrt Beweis für eine evolutionär bedingte Antimoralität, da Neid sicherlich nicht zu den Tugenden gehört.

GERT...


Markus Gabriel gehört zu den bekanntesten Philosophen der Gegenwart, mit Professuren in Bonn, an der Sorbonne (Paris 1) in Paris und an der New School for Social Research in New York. In Bonn leitet er zugleich das Internationale Zentrum für Philosophie NRW. Gabriel schrieb zahlreiche Bücher, darunter "Fiktionen" und den Bestseller "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten" (beide 2020).
Gert Scobel ist einer der renommiertesten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands, Moderator und Redaktionsleiter der wöchentlichen Sendung "scobel" auf 3sat. Er erhielt u.a. den Grimme und den Deutschen Fernsehpreis. Scobel lehrt an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und ist Autor mehrerer Sachbücher, zuletzt "Nicht-Denken" (2018) und "Complexify your life" (2021).



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