E-Book, Deutsch, Band 7, 161 Seiten
Reihe: Passagen
Gätje / Singh 1870/71 - Literatur und Krieg
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7720-0158-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 7, 161 Seiten
Reihe: Passagen
ISBN: 978-3-7720-0158-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Vorfeld wie in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 entstand auf deutscher wie auf französischer Seite ein polyphoner Chor lyrischer, erzählerischer und dramatischer Stimmen, die den politischen Konflikt, die patriotischen und nationalistischen Diskurse, die Kampfhandlungen und ihren Verlauf, die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Krieges und nicht zuletzt seine Folgen im Hinblick auf das Leben des einzelnen Menschen wie die Gesellschaft thematisieren. Der Band beleuchtet Darstellungsformen, Repräsentation und Inszenierung von Krieg und Kriegserlebnis. Literarische Zeugnisse werden im Hinblick auf die Entwicklung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen. Voraussetzungen und Bedingungen, die der Krieg für spätere Tendenzen, wie Naturalismus, Expressionismus oder Heimatkunstbewegung, gegeben hat, werden untersucht.
Dr. Hermann Gätje ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass.
Prof. Dr. Sikander Singh lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes und ist Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik: Formen, Funktionen, Traditionslinien, Resonanzräume
Anett Lütteken, Zürich
Die Reichsgründung und die dichterische „Schlaffheit“
Ernst Arnold, der Verfasser der erstmals 1905 bei Ullstein erschienenen und mehrfach wieder aufgelegten Illustrierten Deutsche[n] Literaturgeschichte, gab im Vorwort Auskunft über sein Anliegen. Das Kompendium sollte in erster Linie ein „verläßlicher und anregender Führer durch das reiche und prangende Feld unserer großen Literatur“ sein.1 Wenig verwunderlich also, dass Arnold grundsätzlich geneigt war, zeittypisch teleologisch von einer organischen „Entwicklung unserer Nationalliteratur“ auszugehen. Umso mehr erstaunt es, wie schwer er sich zugleich damit tat, diese Prämisse mit seinem Befund über die kulturellen Errungenschaften des Zeitraums von 1871 bis 1885 damit in Einklang zu bringen: Die großen Siege von 1870, der Jubel, den die Einigung Deutschlands hervorgerufen hatte, und die machtvolle Wiedererstehung des Deutschen Reiches brachten nicht die erwartete neue Blüte der Literatur. Während im geschlagenen Frankreich eine großartige moderne Dichtung entstand, erlebte das siegreiche Deutschland eine Periode der künstlerischen und dichterischen Schlaffheit, die in großem Kontrast zu den bedeutenden Produktionen der vergangenen Jahrzehnte stand.2 Bemerkenswert ist hier zum einen die in einem populärwissenschaftlich angelegten Handbuch verbreitete Erkenntnis, dass Kulturnation und Nation sich nicht miteinander, sondern eigengesetzlich entwickeln. Die im Begriff der „Schlaffheit“ komprimierte Skepsis bezüglich der literarischen Produktion signalisiert zudem eine gewisse Enttäuschung darüber, dass die Literaten (vermeintlich oder wirklich) in den ersten Jahren nach der Reichsgründung nicht in angemessener Form am Höhenflug der zur Nation geeinten Deutschen teilgehabt hatten. Und einmal mehr wird an dieser Stelle auch die selbst durch militärische und politische Dominanz nicht zu überwindende kulturelle Rückständigkeit Deutschlands im Vergleich zu Frankreich angedeutet. Arnolds Sicht mag eine Außenseiter-Position gewesen sein. Dennoch erscheint es sachdienlich, gerade solche Urteile als die etwas leiseren Stimmen des Zeitalters stärker als (in der tendenziell etwas klischeebefrachteten Forschung zum 19. Jahrhundert) üblich einzubeziehen, wenn es, wie im Folgenden, darum geht, die Wechselwirkungen von Nationenbildung, Militarismus, Patriotismus, Gesellschafts-, Mentalitäts- und Literaturgeschichte exemplarisch anhand einiger Gedichte zu beschreiben. Literatur als Teil der öffentlichen Festkultur
Diese leiseren Stimmen wurden nicht selten recht lautstark übertönt: An allererster Stelle natürlich von der öffentlichen Festkultur wie sie etwa in der Broschüre Der Einzug des siegreichen Heeres am 16. Juni 1871 und die hierbei Seitens der Stadt Berlin veranstalteten Festlichkeiten nachgerade idealtypisch abgebildet wurde.3 Dokumentiert wurden hier die zwar verordneten, aber doch ganz offenkundig auch von breiten Teilen der Bevölkerung mitgetragenen kollektiven Anstrengungen, Deutschlands Sieg über Frankreich zu Zwecken der Selbstvergewisserung wie zur Demonstration des Siegerhabitus in geeigneter Form zu präsentieren. Von der „Ausschmückung der Siegesstraße“ mitsamt der dort aufgestellten „Colossalstatue der Berolina“ über die auf Segeltuch gedruckten „bedeutungsvolle[n] Aussprüche des Kaisers“ entlang der Straße „Unter den Linden“ und die „auf dem Pariser Platz, zwischen den beiden städtischen Tribünen am Brandenburger Thor“ versammelten 63 „Ehrenjungfrauen“ reichte dieses weltanschaulich potenzierte mediale ‚Gesamtkunstwerk‘ bis hin zum „kolossalen Kanonenberg“, der mittels erbeuteter Geschütze Schlachten wie z.B. die „Siege um Sedan und de[n] Fall dieser Festung“ „verherrlicht[e]“.4 Nicht unterschlagen sei an dieser Stelle zudem die Verteilung von Buchgeschenken auf den städtischen „Schulfeier[n]“ als ein Indiz für die behördlich gewünschte kollektive Gedächtnisstiftung und einen systematisch auf Breitenwirksamkeit hin angelegten Umgang mit dem historischen Vorgang und der ihm gewidmeten bzw. auf ihn hin gedeuteten Literatur.5 Welch prominente Rolle am Berliner Großereignis der Musik zugewiesen wurde, lässt sich schließlich der der genannten Broschüre angehängten Verlagswerbung für „Musikalische Kriegs-Literatur des Feldzuges 1870/71“ entnehmen:6 Erinnerungsblätter a.d. Schlacht bei Gravelotte von Julius Alsleben standen ebenso zum Verkauf wie Theodor Krauses Komposition Depeschen vom Kriegsschauplatze oder Friedrich-Wilhelm Voigts, des späteren ersten Armeemusikinspizienten des Reichs, Pariser Einzugsmarsch (1871). In diesem Kontext ist auch die „National-Cantate“ Lorbeer und Palme zu sehen, in der der Berliner Hof-Domorganist Hermann Küster auf heute schwer erträgliche Weise sauerkitschige Texte verschiedener Autoren zusammentrug, um u.a. „Opferwilligkeit“, „Krankenpflege“ („Nur emsig die zarten Hände gerührt, / Schon klaffen die rothen Wunden! […]“), „Heldentod“ („Getroffen, blutend sink’ ich hin, / Die letzten Lebensgeister flieh’n […]“) und den „Sieg“ („Ehre sei Gott in der Höhe!“) zu veranschaulichen.7 Küster hatte sich bei der Textauswahl an der 520-seitigen, von Ernst Wachsmann zusammengetragenen Anthologie Sammlung der Deutschen Kriegs- und Volkslieder des Jahres 1870 orientiert, die schon für sich allein und aufgrund ihrer Auswahlprinzipien eine ausführlichere Analyse lohnen würde.8 Selbstredend trugen auch die Dichter, bekanntere und weniger bekannte, bei, was ihnen für einen derart singulären Anlaß opportun schien. So verfasste z.B. Julius Rodenberg das von Karl Anton Eckert musikalisch untermalte gereimte Werk Zur Heimkehr! Ein Festspiel zum feierlichen Einzug der Truppen in Berlin, das bei der „Gala-Vorstellung des Kgl. Opernhauses“ am 17. Juni uraufgeführt wurde.9 Weit entfernt vom wirklichen Kriegsgeschehen und der Neuordnung Europas wurden die Schauplätze („Wolkenregion“ und „Rheinlandschaft“) in historistischer Manier angesiedelt. Die auftretenden allegorischen Figuren („Die Gerechtigkeit“, „Der Frieden, „Die Tages- und Jahreszeiten“, „Die Künste“, „Friedensgeister“, „Soldaten“ („mittelalterlich gedacht“)10) taten ein Übriges, um die politischen Realitäten weit weg und vollends ins verklärend Unverbindliche zu verschieben. Wie das Publikum über ein weiteres, gedanklich eng zugehöriges und auf das sächsische Publikum zugeschnittene Festspiel Rodenbergs (Vom Rhein zur Elbe. Festspiel in zwei Abtheilungen zum feierlichen Einzug der Sächs. Truppen)11 urteilte, lässt sich der Wiener Theater-Chronik vom 21. Juli 1871 entnehmen.12 Berichtet wurde hier über die Dresdner „Festvorstellung“ im reich geschmückten Theater vor geladenem Publikum, zu dem nicht nur Mitglieder des Königshauses und Adlige zählten, sondern auch viele Militärangehörige. Dieses nolens volens mit Gelegenheitsdichtungen vertraute Publikum war sich einerseits natürlich „der bei solchen Vorstellungen herrschenden Etikette“ bewusst. Dass man seiner Begeisterung dennoch „bei manchen Stellen durch wahrhaft enthusiastischen Beifall“ Ausdruck verlieh, lag aber womöglich weniger an den auftretenden Fluss-Allegorien – „Vater Rhein“ empfängt nach und nach seine Töchter („die blonde Mosel“, „die dunkle Saar“ und die Ill) –, sondern eher am wagnerisch anmutenden „Schlußtableau“ des ersten Teils. Zum theatralischen Effekt bzw. zur „ergreifenden Wirkung“13 dieser Szene dürfte nicht zuletzt die munter eklektizistische Verschränkung nationaler Mythen beigetragen haben: „Der Rhein“ postuliert dementsprechend zunächst „feierlich“, dass nun endlich das „ächte Rheingold“, der „Nibelungenhort der deutschen Einigkeit“, vom Bann befreit sei;14 „aus dem Rhein“ steigt daraufhin die „von den Wappen der deutschen Staaten“ flankierte „deutsche[] Kaiserkrone“ herauf. Der opernhafte, direkt in einen „Festmarsch“ übergehende „Chor der deutschen Ströme“ tut dann ein Übriges, diese neue „Einigkeit“ zu versinnbildlichen: Wir hörten das Wort, das Wort vom Rhein,
Wir hörten es, und wir stimmen ein.
Nun braust, Ihr Ströme, braust und singt,
Daß es wie froher Willkomm klingt
Nach blut’gem Kampf, nach schwerer Zeit
Dem sieggekrönten Heere:
Das Lied der deutschen Herrlichkeit,
Das Lied der deutschen Ehre! Solche staatstragenden15, nicht selten auch christlich verbrämten16 und allein schon aus Gründen der kulturkämpferisch avant la lettre ausgerichteten Abgrenzung vom ‚katholischen‘ Frankreich eher protestantisch konnotierten Poesien wurde quasi automatisch zum Werkzeug der Politik. Ihre Urheber ließen dies, davon ist auszugehen, willentlich und aus Überzeugung geschehen, weil sie sich selbst als Sprachrohr der Gesellschaft und öffentliche Instanz wahrnahmen.17 Das gilt für Rodenbergs Festspiele18 ebenso wie für das bezüglich der zeitenthobenen allegorischen Darstellungsweisen sehr ähnlich konzipierte Werk Der Friede des späteren Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse, das am Münchner Hof- und...