Gätje / Singh | Identitätskonzepte in der Literatur | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 6, 329 Seiten

Reihe: Passagen

Gätje / Singh Identitätskonzepte in der Literatur


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7720-0162-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 6, 329 Seiten

Reihe: Passagen

ISBN: 978-3-7720-0162-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig ideologisch vereinnahmt und politisch instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund perspektivieren die Beiträge des Bandes den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Literatur ist seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen. Dies gilt vor allem für Literatur mit regionalem Bezug, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z. B. der Heimatliteratur, entwickelt haben. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Funktion der Konstitution und Stiftung von Identität durch die Literatur. Sie schlagen einen Bogen von den Anfängen eines Identitätsdiskurses bis in die unmittelbare Gegenwart und betrachten Texte mit der Perspektive auf bestimmte Autor*innen, Regionen, Ethnien oder Themenkomplexe.

Dr. Hermann Gätje ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Prof. Dr. Sikander Singh lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes und ist Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass.

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I.
Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma
Jörg Krappmann, Olomouc Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanalytisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück. In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart – wie nicht anders zu erwarten – Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümierenden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“. Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktionsverhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist ungelesen blieben. In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung. Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt, in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturregion ihren Ausgangspunkt nahmen, ist zum einen der Dichotomisierung zwischen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgrenzungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft verfügt. Zum anderen war diese Region von jeher von (nicht nur) kulturellen Austauschprozessen geprägt. Das liegt zum einen an der interethnischen Konstellation der Bevölkerung, die neben kleineren Minderheiten auf einem Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden beruht. Zum anderen auf einer Mittellage zwischen den lange Zeit preußisch dominierten deutschen Gebieten auf der einen und der Habsburger Monarchie auf der anderen Seite, wobei sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine kulturelle Eigenständigkeit artikulierte. Durch den Aufstieg des Nationalgedankens, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts zum hegemonialen Dispositiv des Nationalismus entwickelt hatte, wurden die soziopolitischen Verhältnisse prekär, da eindeutige nationalkulturelle Positionierungen präferiert und landespatriotische oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu. Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf
Karl Hans Strobl (1877–1946) ist heute – wenn überhaupt – noch aus zwei Gründen bekannt. Einerseits als früher Vertreter einer deutschsprachigen literarischen Phantastik (Die Eingebungen des Arphaxat 1904; Eleagabal Kuperus 1910), andererseits wegen seiner späteren Verstrickung in den Nationalsozialismus, dem er als auslandsdeutscher Vorzeigeautor galt. Der Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn sah ihn aber – für die österreichische Literatur ungewöhnlich – als engagierten Vertreter einer spezifisch deutschen Moderne unter naturalistischem Vorzeichen. Zu seinen ersten Publikationen zählten Essays über das Kunstprinzip von Arno Holz oder die Integration einer buddhistischen Weltanschauung in die lebensreformerisch geprägte Modernedebatte. Aus dieser Frühzeit stammt auch sein 1903 erschienener autobiographischer Schlüsselroman Der Fenriswolf, in dem Strobl vier Schriftstellerexistenzen skizzierte und damit vier Lebenswege aufzeigte, wie in einer Kleinstadt der böhmisch-mährischen Grenzregion, in der unschwer Strobls Geburtsstadt Iglau/Jihlava zu erkennen ist, ein Leben als moderner Künstler möglich werden konnte. Die einzelnen Schriftsteller konnten inzwischen identifiziert werden, so dass diesen Konzeptionen zu einem gewissen Grad empirische Authentizität zugesprochen werden kann. Ein aus Wien zugezogener Autor fungiert zu Beginn der Handlung als Katalysator für die beiden ortsansässigen Schriftsteller. Zu dritt gründen sie den titelgebenden Dichterbund Fenriswolf – der Name entstammt der nordischen Mythologie – auf dessen Zusammenkünften sie thematische Versatzstücke der Moderne um 1900 in die städtische Gesellschaft tragen. Die Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Jens Peter Jacobsen werden diskutiert, die zeitgenössische Kunst und Musik sowie die Problematik des Eros, aber auch die Frauenemanzipation und die sozialen Konsequenzen des neuen darwinistischen Weltbildes. Dadurch geraten sie rasch in Konflikt mit dem Pragmatismus der Stadtbürger, die noch den Werten und Regeln der vormodernen Gesellschaftsformation verpflichtet sind. Alle drei Autoren werden als Außenseiter behandelt, da sie Identitätskonstruktionen anstreben, die zunächst nicht mit der bürgerlichen Norm korrelieren. Im Verlaufe der Romanhandlung ergeben sich daraus wiederum zunächst drei differente Identitätsstrategien, die ich, um von der allzu kleinteiligen Figurenebene des Regionalromans zu abstrahieren, als Modellautoren anspreche: Modellfall 1 beharrt auf der Höherwertigkeit seiner Künstlerexistenz. Er setzt seine moderne Weltanschauung absolut und versteht seinen Weg als Exempel, dem die Bürger folgen sollen. Er wird dadurch vom Außenseiter zum Ausgegrenzten. Trotz eines (einmaligen) Erfolgs in der Fremde bleibt ihm die lokale Anerkennung versagt. Die Romanfigur stirbt schließlich vereinsamt und zeigt so überdeutlich das Scheitern dieses Weges an. Modellfall 2 ist die autobiographische Referenzfigur von Strobl. Er tritt nicht offensiv als „Herold einer neuen Zeit“ auf wie Modellfall 1, verkriecht sich aber auch nicht in den Elfenbeinturm, sondern erreicht in individuellen Austauschbeziehungen und kulturellen Verhandlungen eine Koexistenz mit dem Bürgertum. Da er die bürgerlichen Lebensentwürfe akzeptiert, wird ihm zugestanden, seine abweichende Identität als Künstler zu verteidigen, falls er sie in Frage gestellt sieht. Dagegen vertritt Modellautor 1 ein emphatisches Künstlerverständnis, das bereits auf die Avantgarde vorausdeutet. Zwar sind die avantgardistischen Bewegungen – noch dazu in der Frühphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht heterogen, aber doch in dem Ziel verbunden, gegen das traditionelle Kunstverständnis des Bildungsbürgertums aufzubegehren. Diese soziale Schicht fällt aber in Strobls Modellkleinstadt aus, womit der Romantext die realen Verhältnisse regionaler Gesellschaften in den Böhmischen Ländern hyperbolisiert. In Bezug auf Karoline von Günderrode, also in gänzlich anderem Zusammenhang prägte Christa Wolf die Formel von einer „Avantgarde im Hinterland“, deren Bildlichkeit aber auch auf die hier beschriebene Situation angewendet werden kann. Während Modellautor 1 sich im ursprünglichen Wortsinn von Avant-garde als Vorhut der Moderne in der Provinz sieht, akzeptiert Modellautor 2 die mangelhaften Voraussetzungen für eine offene Propagierung moderner Ideen und schafft sich neben seiner Künstleridentität auch eine stabile bürgerliche Identität, wodurch er in der Lage ist, die eigenen Ansprüche der Zusammensetzung unterschiedlicher Rezipientengruppen anzupassen. Modellfall 3 ist ein aus der Metropole, in diesem Fall Wien, aufgrund einer Versetzung gleichsam von Amtswegen in die Kleinstadt geratener Dichter. Die Genese zum Künstler erfolgte hier vor der regionalen Fixierung und wird als solche nicht angezweifelt. Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung kommen somit zur Deckung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen zur...



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