E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Garcia Das Siebte
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8031-4262-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4262-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Tristan Garcia wurde 1981 in Toulouse geboren und verbrachte seine Kindheit in Algerien. Er ist Schüler von Alain Badiou und lehrt Philosophie in Lyon. Sein bereits umfangreiches Werk umfasst philosophische Texte ebenso wie Romane und Erzählungen. Er gilt in Frankreich als herausragende intellektuelle Stimme seiner Generation. Bei Wagenbach lieferbar ist der Roman »Faber. Der Zerstörer«.
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Das Zweite
Ich lebte erneut.
Es war kein Weiterleben, ich hatte neu angefangen zu leben.
Es dauerte lange, bis ich begriff, dass ich auch nicht im Körper eines anderen wiedergeboren worden war, sondern wieder begonnen hatte, zu sein, nichts mehr und nichts weniger. Und dass ich wieder an den Anfang zurückgekehrt war. Es war unklar. Zuerst unbewusst fand ich etwas verwirrt die unmittelbaren Gefühle meiner Kindheit wieder. Lebhaft, immer in Bewegung, unbekümmert, aber doch irritiert von einem schattenhaften Eindruck der Wiederholung, erkannte ich im Laufe der Monate das Haus mit dem Giebeldach, die angrenzenden verwilderten Wälder, die Tümpel, die kurvigen Wege und den Baum mit den gewundenen Ästen wieder. Kaum hatte ich zum zweiten Mal laufen gelernt, büxte ich aus, um mich zu vergewissern, dass alles da war. Und nichts fehlte: der schwarze Hund, die Brücke, die über den Fluss führte, und Origènes funkelnder Dodge auf dem Dorfplatz.
Im Winter war es kalt, im Sommer war es warm, und so weiter. Bis zum Alter von zwei oder drei Jahren erahnte ich mein voriges Leben nur wie durch dichten Nebel; erst als ich wieder mit dem Sprechen anfing, stand es mir klar und deutlich vor Augen: Ich begann dasselbe Leben wieder bei null. Starr vor Schreck wagte ich nicht, anders als in meinem ersten Leben zu reagieren, und stotterte alles erneut durch. Mein Vater überraschte mich wieder durch die Küchenglastür (obwohl ich zur Seite hätte gehen können, damit er mich nicht sähe), weil ich absichtlich dieselben Fehler wie früher machte. Diese Anstrengung war ermüdend, denn ein Leben wie ein Schauspieler zu spielen – glauben Sie mir bitte – braucht unendlich viel mehr Energie, als es lebend zu entdecken. Manchmal ließ ich mich gehen, und wenn ich dann auf dem Küchentisch einschlief, strich mir meine Mutter besorgt über die Wange: »Ich habe den Eindruck, das Kind ermüdet zu schnell.«
Dann hieß es in die Schule gehen, die sich auf der anderen Seite des Flusses hinter der römischen Brücke befand. Meine Haare waren etwas nachgedunkelt, ich war mundfaul, öffnete nicht einmal meinen Schulranzen, weshalb der Lehrer sich besorgt an meine Eltern wandte.
Alles war wieder da, mit einem Unterschied: Ich erinnerte mich.
Fran hatte Recht gehabt.
Zuerst wollte ich sicher sein, dass mich meine Erinnerungen nicht trogen, dass ich wirklich gesehen hatte, was ich sah, und gehört hatte, was ich hörte, beinahe achtzig Jahre zuvor und bis ins kleinste Detail; abends ging ich leise meine früheren Erlebnisse durch und versuchte, mir vorab vorzustellen, was geschehen würde. Je klarer mein Geist wurde, desto besser gelang es mir, die kleinen alltäglichen Geschehnisse vorherzusehen: Auch wenn ich mir diese Szene noch nicht vor Augen geführt hatte, weil meine Erinnerung daran verschwommen war, wusste ich mit Sicherheit, dass mein Vater, der das Haus verlassen hatte, um Flusskrebse zu fangen, keinen erwischen würde, denn diese Episode war mir vertraut. Ehrlich gesagt war mir alles vertraut: die Nachtfalter, der schwarze Mischling, die Daunendecke aus Gänsefedern. Es hatte Tod und Neugeburt gegeben, dann hatte das Leben wieder seinen Lauf genommen, aber warum? Unaufhörlich triezte die Frage meinen Geist eines alten, wieder jung gewordenen Mannes: Warum gerade ich?
Ich hätte gerne verstanden, was mit mir los war, konnte mich jedoch weder meinen Eltern noch Origène anvertrauen, die sich sonst um meinen Geisteszustand gesorgt hätten.
Mit fünf Jahren tat ich so, als würde ich wieder lesen lernen.
Ich begeisterte mich für das ewige Leben, erriet aber schnell, dass die katholische Unsterblichkeit für mich nicht in Frage kam: Ich war nicht in Gott, sondern aus Fleisch und Blut, wieder ins Kindesalter versetzt. Abgesehen von meinen Erinnerungen waren die intellektuellen Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, um meine Lage zu erhellen, sehr begrenzt. Wir wohnten weit weg von allem. Zu Hause gab es nicht einmal eine Enzyklopädie, sondern nur ein Wörterbuch. Erst suchte ich die Erklärung für meine Außergewöhnlichkeit in der Literatur (ich erinnerte mich an das prophetische Buch, das Fran erwähnt hatte), indem ich in der öffentlichen Bibliothek das Gilgamesch-Epos in einer Bearbeitung für junge Leser entlieh. Dem Mythos nach bleibt der Held am Ende sterblich. An den schulfreien Mittwochnachmittagen entdeckte ich beim Stöbern auf den staubigen Regalen alte Ausgaben von Wordsworth: »«. Vielleicht war ich das, aber die Lyrik sagte nie, warum. Der Roman hingegen war eine Gattung der Sterblichen, bis auf einige wenige Ausnahmen: der ewige Jude, Dracula, Orlando, also nichts Ernsthaftes. In der Science-Fiction-Literatur hoffte ich, eine weniger allegorische Erklärung meines Zustands zu finden: Ich las mich durch Ich fand nur Symbole, nicht die Ursache. Mein Problem war jedoch ganz konkret: Wie konnte man erklären, dass ich buchstäblich und nicht literarisch wiedergeboren war? Dank einer naturwissenschaftlicher ausgerichteten Fantasy-Literatur wie bei Greg Egan oder Ted Chiang fing ich an, Hoffnung in die exakten Wissenschaften zu setzen. Dummerweise hatten wir kein Internet, und meine sonstigen Informationsquellen waren zu dürftig; meine erste wissenschaftliche Ausbildung reichte ebenfalls nicht aus, weil ich zu früh mit der Universität aufgehört hatte.
Ich war ein gebildeter alter Herr, der von seiner großen Erfahrung, seinem weitreichenden Gedächtnis und seiner hohen Intelligenz profitierte und gleichzeitig in seinem Kinderkörper mit all der Kraft und unerschöpflichen Energie der Jugend steckte. Ich war dazu verdammt, die immergleichen Gesten zu wiederholen, weil ich komplett von meinen Eltern abhängig war. Was für ein Elend.
An einem Frühlingstag las ich ganz automatisch zu Füßen des Baumes den Vogel mit dem silbrigen Gefieder auf, pflegte ihn, und dann wurde er von dem Mischling getötet. Abends hörte ich durchs Fenster meines Zimmers die Amsel singen, und wusste.
Was für eine Erleichterung, als Origène eintraf, in der Nacht, in der ich blutete … Ich musste ins Krankenhaus fahren, hatte das Gesicht an die Scheibe gelehnt und sah die getaggten Wohnblöcke, die am frühen Morgen im Licht der Straßenlaternen glänzenden Bahngleise, die gläsernen Türme, das Straßengewirr und die vor den Fenstern zum Trocknen aufgehängte Unterwäsche erneut auf mich zukommen: Paris! Alles fing von vorne an. Irgendwo in den Hochhäusern der Banlieue Nord musste Hardy leben, kaum sieben Jahre alt, dachte ich. Sie wohnte hier, existierte aufs Neue, obwohl ich es mir schwer vorstellen konnte.
Im Val-de-Grâce befiel mich kurz die Angst, ihn nicht zu finden, es mit einem anderen zu tun zu bekommen. Aber auf den Mann war Verlass. Und er hatte sich nicht verändert. Durch das Viereck aus dickem Glas in der Brandschutztür erriet ich seine Silhouette, hochgewachsen und weiß, dann sah ich ihm direkt in die Augen, sobald er hereingekommen war und zu mir sagte: »Hallo, alter Junge.«
Oh mein Gott! Ich warf mich in seine Arme und sagte, ich wisse schon alles: »Du heißt François, man nennt dich Fran, du suchst jemanden, der blutet und der wieder aufersteht. Hier bin ich. Kann ich eine Zigarette bei dir schnorren? Seit meiner Geburt habe ich nicht geraucht.«
Da ich ihm demonstrieren konnte, dass ich mit den kleinsten Einzelheiten seines Lebens vertraut war, was die Frau anging, die er so geliebt hatte, dazu seine schwarzen Tätowierungen an den Schenkeln, seine Faszination für diese Stelle unterhalb der Mundwinkel, wo Männer manchmal keinen Bartwuchs haben, glaubte er mir.
»Ich freue mich, dich wiederzusehen, beteuerte ich immer wieder. Du bist immer derselbe, unglaublich!« In meiner Überstürzung verschluckte ich die Hälfte der Wörter, ich bat ihn inständig, mir zu erklären, was vorging.
»Es ist schwer zu glauben, aber du wirst nicht sterben, weder dieses noch das nächste Mal. Du bist …
– Ich weiß, ich weiß. Aber ich meine: Was geht hier wirklich vor?
– Du bist ewig. Du …
– Hör auf, du wiederholst dich.
– Also, du …
– Du wolltest mich fragen, ob ich an einen Gott oder etwas Derartiges glaube?
– Ja.«
Ich setzte mich auf den Labortisch aus Inox, um bis zu ihm zu reichen. »Ich wusste es. Kannst du dir vorstellen, dass ich schon alles weiß, was du sagen und machen wirst? Du wirst mir die Phiole geben, die mit der farblosen stinkenden Flüssigkeit.«
»Ja.« Er klang nicht sonderlich erstaunt. Er kramte in der Innentasche seines Arztkittels, zog einen Kugelschreiber, ein Messer (mit dem er einst versucht hatte, mich zu ermorden) und schließlich die kleine flache Flasche heraus, an der er mit dem Fingernagel den restlichen Klebstoff des ursprünglichen Etiketts abkratzte.
»Hier. Du weißt bereits, wie du sie verwendest.
– Das ist ja verrückt. Du kannst mir nichts mehr beibringen. Ich habe schon alles im Kopf.
– Dein wievieltes ist es?«
Ich machte ein Zeichen mit den Fingern: zwei.
»Ach ja, erst. Du bist bestimmt sehr aufgeregt. Was hast du das erste Mal gemacht?
– Ich habe dir nicht geglaubt.
– Warum hast du mir nicht geglaubt?
– Wegen ihr.
– Eine Frau. Warst du glücklich?
– Sehr.
– Komm schon, erzähl’s mir.«
Und ich erzählte ihm, wer Hardy war, wie sie starb. Die Zigarette war fast aufgeraucht.
»Was meinst du, werde ich sterben und wieder auf die Welt kommen, beim nächsten Mal und immer so fort?
– Ja.
– Aber du hast keinen...




