Garve | Unter Mördern | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Politik & Zeitgeschichte

Garve Unter Mördern

Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86284-247-6
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Politik & Zeitgeschichte

ISBN: 978-3-86284-247-6
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1981 wird in der DDR ein junger Student der Zahnmedizin bei Vorbereitungen zur Republikflucht gefaßt und kurz darauf zu zwanzig Monaten Haft verurteilt. In der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden gerät er in eine ihm völlig fremde Welt von Schwerverbrechern. Da er sein Studium bereits abgeschlossen hatte, darf er nach einiger Zeit im Haftkrankenhaus arbeiten. Dabei hat er keine Wahl: Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder werden zu seinen Patienten und helfen ihm als Assistenten im Behandlungszimmer. Dieser Welt, die von der Öffentlichkeit streng abgeschirmt war, nähert sich Roland Garve mit Neugier und Abscheu zugleich. Er gefällt sich nicht in der Rolle des Opfers, sondern nutzt die Gelegenheit, Umwelt und Mitgefangene zu beobachten.

Seine präzise, lakonische und teilweise auch humorvolle Erzählweise zieht den Leser in den Bann der Ereignisse und zeigt neben der alltäglichen Brutalität auch die tragikomischen Seiten des Haftdaseins genau wie das Bemühen, Menschlichkeit zu bewahren.

Jahrgang 1955, Studium der Zahnmedizin an der Universität Greifswald, 1981-83 wegen Vorbereitungen zur Republikflucht in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden inhaftiert, danach Ausreise aus der DDR, 1985 Promotion an der Universität Hamburg, ausgedehnte Forschungsreisen als Mediziner und Dokumentarist nach Afrika, Neuguinea, Südamerika, seit 1990 Zusammenarbeit mit den Völkerkundemuseen in Leipzig und Dresden bei der Feldforschung in Amazonien, Fachvorträge zu Ethnomedizin und Völkerkunde, Arbeit als Kameramann, Fotograf und Autor, Produktion zahlreicher Dokumentarfilme über Naturvölker, u.a.: 'Mein Grün hat tausend Namen', 1990, 'Heller Wahnsinn', 1991, 'Zoe-Indianer - Versteckt im Regenwald', 1996, 'Die Zwergmenschen von Neuguinea', 2007.

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Der Grotewohl-Expreß


Der Zug hielt. Die blockierten Räder kreischten auf den Schienen. Nach der stundenlangen Fahrt mit dem »Grotewohl-Expreß«, wie der Gefangenenzug im Fachjargon der Knaster hieß, kam wieder etwas Leben in die Abteilinsassen. Die stickige, verbrauchte Luft in der keine zwei Quadratmeter großen, verschlossenen Zelle hatte allen dicke Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Das Hemd unter meinem Jackett klebte förmlich auf der Haut. Aber war es wirklich nur diese verdammte erdrückende Hitze, die mich so schwitzen ließ, oder war es die Erwartung des Ungewissen – Angst?

Mir gegenüber saß ein rothaariger, gutgenährter Mitvierziger, der von Familie, Haus und Job in Greifswald und den zwei nun abzusitzenden Jahren gesprochen hatte. Erst als er sicher gewesen war, daß die beiden anderen Mitinsassen in ihrer unbequemen Sitzhaltung eingeschlafen waren, hatte er mir ängstlich flüsternd anvertraut, daß er schon mal ein paar Jahre im Knast gewesen war, angeblich wegen Spionage. Damals hatte man ihm drei Jahre gestrichen, von denen jetzt die Bewährung noch nicht abgelaufen war. Er baute seine ganze Hoffnung darauf, daß man ihm die jetzt nicht auch noch aufbrummen würde.

»Weißt du, ich hab’ mich damals recht gut geführt. War auch da oben in Rostock bei der Stasi. Hab’ da nach’m Urteil ’n paar Jahre als Handwerker gearbeitet. Kenn’ die Zellen, wo ihr drinnen wart, hab’ die mit ausgemalert. Die U-Haft da ist wirklich blöde. Aber als Strafer konnt’ man’s da schon aushalten. Am Tag irgendwas bauen, Essen ging auch, und abends dann fernsehen. Und mit’m Oberstleutnant ... kennste den eigentlich? ... mit dem kam ich auch ganz dufte aus.«

»Und weshalb sitzt du jetzt?« fragte ich ihn. Über diese Frage schien er nicht sehr erfreut zu sein. Jedenfalls wurde sein Gesicht noch röter, während er prustend nach Luft und Worten, die ihm nicht einfallen wollten, rang.

»Ja, weißt du«, sagte er schließlich leise und stockend, »ich hab’, als ich rausgekommen bin, immer nur gearbeitet für die Frau und den Jungen, das Haus, den Garten ... und ab und zu konnte ich das Saufen eben nicht lassen. Naja, und da ist es eben passiert, obwohl ich’s gar nicht wollte. Eben der Scheiß-Suff und so ...«

Ich fragte nicht weiter und suchte in meiner Phantasie ein für ihn passendes kriminelles Delikt zwischen Fahrerflucht, Diebstahl und einer sexuellen Sache. Letzteres schien mir am ehesten zu passen, und ich empfand für den schwitzenden Menschen, der seine offensichtliche Scham hinter gespieltem Selbstbewußtsein verstecken wollte, eine Mischung aus Mitleid und Abscheu.

Die beiden anderen Mitreisenden waren noch nicht älter als Zwanzig, kannten sich aus dem Jugendwerkhof und hatten ähnliche Tätowierungen an Händen und Hals. Sie hatten nie gelernt, etwas Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen, tranken zu viel und lebten von geklauten Sachen. Kriminelle, wie sie sich in dümmlich-provozierender und pöbliger Art und Weise in Kneipen, auf Bahnhöfen und Jahrmärkten bewegen.

Die beiden sprachen mecklenburgisch-breiten Dialekt, bemühten sich aber aus irgendwelchen Gründen um eine scheinbar berlinerische Mundart. Ständig mußte ein »eh!«, »weeßte!« oder »wa!« ertönen. Wer weiß, vielleicht machte das innerlich irgendwie stark oder half, Komplexe zu verstecken? Jedenfalls war ich zufrieden gewesen, als sie schon vor einiger Zeit ihr dummes Geschwätz mit stupider Schläfrigkeit vertauscht hatten. Das Quietschen der Räder hatte sie wieder munter gemacht. Sie wußten bereits, daß man sie nicht in einen absolut festen Bau stecken würde, und bedauerten den Rothaarigen, der nach Brandenburg sollte. »Mensch, Oller, da is mir dat Lager aber doch lieber. Ick kannt’ ma een von die, den hamse da laufend uffjeruppt. Nee, Dicker, du, da haste aber tief inne Scheiße gegriffen! Mittenmang de Arschfickers kommste«, sagte der eine. Ich schaute in seinen geöffneten Mund. Es sah aus wie in einem Steinbruch. Alle oberen Vorderzähne fehlten, und ich staunte nicht schlecht, wie flüssig dieser Mensch noch vom »Saufen, Ficken, Bullenschweineverdreschen, Knackmachen« und so weiter schwadronierte.

Ob ich auch nach Brandenburg kommen würde? Ich hatte gehört, daß die Republikflucht-Delikte und andere politische Vergehen in Cottbus oder Bautzen abgesessen wurden. Ach nein, Brandenburg ist nicht, da kommen andere hin, versuchte ich, mich zu beruhigen. Jetzt bloß nichts anmerken lassen und Ruhe bewahren! Ich dachte an die antifaschistischen Widerstandskämpfer aus den vielen Büchern über das Dritte Reich, die ich als Kind gelesen hatte. Damals war ich oft neidisch auf das Durchhaltevermögen und die edlen Verhaltensweisen unter extremen Bedingungen gewesen. So ein Held wäre ich auch gern gewesen. Na, nun hatte ich meine extremen Bedingungen.

Blödsinn! Aber ich hatte mir ein Ziel gestellt und durfte nicht zum Waschlappen werden. Also, wenn nötig, dann Zähne zusammenbeißen und vor allem gesund bleiben! Fünf Monate waren schon fast vorbei, und die restlichen fünfzehn kriegte ich, wenn ich nicht schon vorher abgeschoben wurde, ebenfalls rum. Vielleicht sollte ich das Ganze ja als eine Art zusätzliches Studium auffassen, damit ich später besser mit den verschiedensten Menschentypen auskommen könnte ...

Ich schloß die Augen und ließ die vergangenen Monate noch einmal Revue passieren. Wie konnte ein frischgebackener Universitätsabsolvent und dressierter Staatsbürger wie ich nur hierher geraten?

Noch vor einem guten Jahr war ich ein braver, jung verheirateter Zahnmedizinstudent, der zwar etwas faul war, aber doch achtzig Mark Leistungsstipendium zusätzlich im Monat erhielt und sich auf sein Abschlußexamen vorbereitete. Freilich hatte ich Träume, die weit über die staatlich geförderte Schrebergartenmentalität hinausgingen. Ich wußte zwar nicht, wie sie jemals zu realisieren sein könnten, aber ich wollte unbedingt irgendwann einmal fremde, exotische Länder und ihre Einwohner kennenlernen. Nicht durchs Fernsehen, sondern live. Mir schwebten Expeditionen durch Neuguinea zu unbekannten Papuastämmen und am Amazonas zu wilden Indianern vor. Wie oft hatte ich die alten Schmöker des Dresdner Weltreisenden Erich Wustmann gelesen und war in Gedanken mit ihm auf Reisen gegangen. Der Regenwald mit seiner unglaublichen Artenvielfalt, besonders den riesigen Käfern und Schmetterlingen, hatte es mir schon seit frühester Kindheit angetan. Einmal dorthin zu gelangen, war für mich zehnmal wichtiger, als Westeuropa oder die USA kennenzulernen. Die Aussicht, mich möglicherweise zeit meines Arbeitslebens, das heißt bis hin zum Rentenalter, nur zwischen Ostsee und Erzgebirge und im Urlaub vielleicht noch im sozialistischen Bruderland Bulgarien als ungeliebter Nichtdevisenbringer bewegen zu können, gefiel mir gar nicht. Man mußte nicht erst Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« gelesen haben, um zu begreifen, daß man wirklich nur ein einziges Mal auf diesem Planeten lebt. Und der war weit größer als die kleine DDR. Außerdem hatte ich den hochgepriesenen »real existierenden Sozialismus« der DDR mit all seinen Phrasen, »antiimperialistischen Schutzwällen« und anderen üblen Erscheinungen reichlich satt. Die Diskrepanz zwischen den hohlen Parteitagssprüchen und der Mangelwirtschaft, den gähnend leeren Geschäften war zu deutlich, und ein System, das seine Macht ausschließlich mit Mauern, Selbstschußanlagen, Minen, Todesschüssen und einem gefürchteten Geheimdienst durchsetzen konnte, war nicht demokratisch.

Es mußte etwas passieren.

Freunden war per Schlauchboot die Flucht über die Ostsee gelungen. Sie hatten es clever angestellt, waren nicht Richtung Westen gefahren, sondern nach Bornholm. Inzwischen arbeiteten sie in westdeutschen Kliniken in ihren Berufen als Ärzte. Ich fand ihren Schritt sehr mutig. Immerhin hatten sie ein paar Jahre Knast oder gar ihr Leben riskiert und Freunde und Verwandte zurückgelassen. Aber sie hatten auch endlich diese stets fühlbare staatliche Bevormundung und Gängelei überwunden und einen Grad von Freiheit erreicht, um den ich sie nur beneiden konnte.

Meinen Freund Alexander, einen angehenden Kinderarzt, beschäftigten ähnliche Gedanken. Eines Tages sprach er mich direkt auf eine mögliche gemeinsame Republikflucht hin an. Zuerst war ich verunsichert. Es hätte schließlich eine Stasi-Falle sein können. Aber diesen Gedanke ließ ich schnell fallen. Ohne lange weiter zu überlegen, sagte ich zu. Ich vertraute ihm und er mir offenbar auch. Aber absolut niemand anders durfte von unseren aufkeimenden Plänen wissen. Das war oberstes Gebot. Auch meine Frau durfte nichts davon erfahren. Wenn die Stasi ihr später hätte nachweisen können, von unseren Plänen Kenntnis gehabt zu haben, hätte man sie als Mitwisserin eingesperrt. Das durfte ich nicht riskieren. Irgendeine Möglichkeit, sie und unsere gemeinsame kleine Tochter später per Familienzusammenführung legal nachzuholen, würde sich schon finden.

Zunächst diskutierten wir eventuelle Fluchtmöglichkeiten über die Ostsee per Faltboot oder über Ungarns »grüne Grenze« hinüber nach Österreich. Doch das Schlupfloch Richtung Bornholm war sicherlich längst dichtgemacht worden, und die ungarische Grenze hätte man zunächst inspizieren beziehungsweise von jemandem aus dem Westen erforschen lassen müssen. Aber wer sollte das tun?

Ich war in einem Grenzort an der Elbe aufgewachsen, und so kam ich auf eine schwierige, aber nicht unmögliche Fluchtvariante: Im Herbst...


Jahrgang 1955, Studium der Zahnmedizin an der Universität Greifswald; 1981-83 wegen Vorbereitungen zur Republikflucht in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden inhaftiert, danach Ausreise aus der DDR; 1985 Promotion an der Universität Hamburg, ausgedehnte Forschungsreisen als Mediziner und Dokumentarist nach Afrika, Neuguinea, Südamerika, seit 1990 Zusammenarbeit mit den Völkerkundemuseen in Leipzig und Dresden bei der Feldforschung in Amazonien, Fachvorträge zu Ethnomedizin und Völkerkunde, Arbeit als Kameramann, Fotograf und Autor, Produktion zahlreicher Dokumentarfilme über Naturvölker, u.a.: "Mein Grün hat tausend Namen", 1990; "Heller Wahnsinn", 1991; "Zoe-Indianer - Versteckt im Regenwald", 1996; "Die Zwergmenschen von Neuguinea", 2007.



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