Gebert / Berghoff / Hildebrandt | Im Schatten der Mauer | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Gebert / Berghoff / Hildebrandt Im Schatten der Mauer


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86474-054-1
Verlag: Virulent
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-86474-054-1
Verlag: Virulent
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Wahnsinn! Das kann doch nicht wahr sein!' riefen die Menschen euphorisch in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 und fielen sich vor Freude über den Mauerfall in die Arme. Auch am 13. August 1961 wollte niemand glauben, dass es wahr sein kann: 'Eine Mauer durch Berlin! Niemals! Das ist doch Wahnsinn! In ein paar Tagen ist sie wieder weg.' Damals wurden Familien innerhalb weniger Stunden auseinandergerissen; Menschen, die versuchten, in den Westen zu kommen, erschossen; unzählige verhaftet; Lebensläufe mit Macht verändert. . . Der Wahnsinn sollte achtundzwanzig Jahre dauern. Es sind bereits über zwanzig Jahre vergangen, seit die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland gefallen ist. Weil ich befürchtete, dass sich vielleicht bald niemand mehr an die Tage des Mauerbaues und des Mauerfalls erinnern würde, habe ich dieses Buch geschrieben. Bei meinen Gesprächen dafür stellte ich jedoch fest, dass der 13. August 1961 und der 9. November 1989 im Gedächtnis sehr vieler Menschen unauslöschlich sind. Die bewegende persönlichen Erlebnisberichte der unterschiedlichsten Zeitzeugen aus Ost und West (wie z.B. Regine Hildebrandt, Jo Brauner, Angelika Unterlauf, Götz Friedrich, Herbert Otto, Dagmar Berghoff, Manfred Stolpe oder Arno Surminski) vermitteln vielleicht mehr Geschichte als manches Geschichtsbuch es könnte.

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HENRYK BERESKA:


«Wo Sprachakrobatik und Vermummung herrschten»


Anfang November 1989 war ich zu einem internationalen Poetentreffen in Posen. Die Poeten lasen in den Schulen der Umgebung, redeten sich die Köpfe heiß. Die Berliner Mauer haben die Polen nie verstanden. Daß man so etwas hinnimmt, blieb ihnen unbegreiflich. An ihre Ewigkeit glaubten sie schon gar nicht. Ein bärtiger Literaturkritiker aus Warschau wollte mir einreden, sie würde noch dieses Jahr fallen. Das hielt ich nach all den Demonstrationen der Macht, die ich im Oktober erlebt hatte, für illusionär. Die Präsenz der Kampfgruppen und der bewaffneten «Organe» überall, wo sich die leiseste Opposition regte, ihr martialisches, drohendes Gehabe ließen eher darauf schließen, daß am Status quo nicht zu rütteln war. Reagans «Reißen Sie die Mauer nieder, Mister Gorbatschow» wurde allerorten als dreiste irreale Herausforderung empfunden. Da war Honeckers Verkündung, die Mauer würde noch hundert Jahre stehen, glaubwürdiger. Ich kannte niemanden in Deutschland, der ihren Sturz für möglich hielt. Die Polen besaßen offenbar ein größeres Vorstellungsvermögen und mehr Übung im Aufbegehren. Und sie deuteten die Flüchtlingsströme im Sommer und Herbst richtig als sicheres Endzeichen. Wir wetteten um Sekt. Der bärtige Pole tat mir leid, Romantiker.

Meine Frau Gilda und ich waren im Oktober 1989 in der Sächsischen Schweiz im Urlaub gewesen, dicht an der tschechischen Grenze. Hier herrschte eine merkwürdig gespannte, gedrückte Atmosphäre. Wenige Urlauber. Die Grenzübergänge für den Tagesverkehr geschlossen, viele Kneipen zu. «Die sind rüber», hieß es. Wir rechneten damit, daß der Zugverkehr nach der Tschechoslowakei und nach Ungarn bald gestoppt werden würde. Das geschah aber nicht. Die Regierung gab sich erstaunlich gelassen, redete die Dinge klein. Unter den Genossen wurden die Fluchtströme bagatellisiert. Wunschdenken.

Eines Abends saß ich in einem Gartenlokal in der Wilhelm-Pieck-Straße, in Berlin-Mitte, am Nebentisch ein paar fröhliche Zecher, Jura-Absolventen, auf dem Sprung zur Karriere im «Apparat». Auch sie von oben herab: «Das Ding haben wir im Griff.» Verblüffende Blindheit bei den geschulten Dialektikern. Aber sie hielten sich nur an die vorgegebene Interpretationslinie. So tönte es in den Medien, also war alles in Ordnung.

Anders die Rüster in meiner Stammkneipe in der Novalisstraße, die sahen schwarz: «Da passiert was, das Ding läuft schief.» Und sie sahen Blut fließen. In diesem Jahrhundert nahm die Geschichte stets die negative Variante des Verlaufs. 1914, 1933, 1939, 1953, 1956, 1961, 1968, 1981. Fast alle Monate im Jahresverlauf waren negativ besetzt. Und nun plötzlich im November 1989 die optimale Lösung? Zweifel waren angebracht. Immerhin gab es im Lande riesige, hochgerüstete Armeen, ein Heer von Spitzeln, jede Menge Vernichtungswaffen, schwerbewaffnete, paramilitärische Verbände. Militärs sind dazu da loszuschlagen. Generäle gieren nach Schlachten und Verdienstorden. Würden sie Gewehr bei Fuß bleiben? Oh, Gorbatschow, Zauberkünstler, sie blieben Gewehr bei Fuß! Wie leicht hätte das ins Auge gehen können.

Mein bärtiger Literaturkritiker hatte recht behalten, und ich war sehr froh, diese Wette verloren zu haben. Als uns die Nachricht per Rundfunk in Polen erreichte, waren wir fassungslos: Das kann nicht wahr sein, da ist was faul. Die Mauer war ja eigentlich noch nicht gefallen, sondern erst einen Spaltbreit geöffnet. Wir dachten, sicher machen die Bonzen kleine Reisezugeständnisse, um das Volk zu beruhigen. Die Polen aber ahnten, daß da eine Epoche zu Ende ging. Und freuten sich. Auch die Kommunisten unter ihnen. Auch ihnen war die Teilung Deutschlands, die Mauer, die Berlin teilte, stets makaber vorgekommen. Sie hatten die Erfahrung der Ghettos hinter sich.

In Berlin spät abends angekommen, sahen wir auf den S-Bahnhöfen unglaublich viel Volk. Vor dem «Tränenbunker» an der S-Bahn Friedrichstraße standen endlose Schlangen Wartender – keine Rentner, junges Volk ohne Gepäck. Und rückflutende Ströme aufgeregter, strahlender Menschen, beladen.

In den nächsten Wochen das Wunder. Ich notiere: «Im November ’89 zum erstenmal über die Sandkrugbrücke rüber. Die Grenzbeamten prüfen das Dokument/ die Grenzbeamten werfen einen flüchtigen Blick auf das Dokument/ die Grenzbeamten werfen keinen Blick auf das Dokument; die Grenzbeamten verschwinden/ die Mauern verschwinden/ ich gehe auf dem Todesstreifen spazieren/ die wilden Kaninchen aus der Grenzzone verschwinden/ die Leute vergessen langsam, daß es Grenzzonen gab in Berlin.»

Ein Vierteljahrhundert wohnten wir in der Scharnhorststraße, den Blick vom vierten Stock über die Mauer auf Moabit, nach Wedding, fremde Planeten. Eine Ewigkeit. Wir sahen Mauern, Stacheldraht, Wachtürme, Hunde am Leitseil, dahinter, unsichtbar, der Spandauer Schiffahrtskanal, die Grenzlinie in der Mitte. Unüberwindlich. Nun mit einemmal die Öffnung. Die Hunde, als liebe treue Tierchen deklariert, wurden an Liebhaber verkauft, die Mauerstücke verscherbelt. Und ich lief täglich auf dem Todesstreifen hin und her, lief am Kanal bis zum Westhafen, an der Spree bis nach Charlottenburg. Als ich zu einem Aufenthalt ins Europäische Übersetzer-Kollegium nach Straelen eingeladen wurde, zögerte ich die Abreise um Tage hinaus, konnte mich von dem Todesstreifen nicht trennen.

Ein unglaublicher Zustand. Euphorie wochenlang. Die Trabanten füllten West-Berlin, aber bald schon blockierten sie die Straßen Ost-Berlins. Die Besitzer ließen die einst so kostbaren Vehikel einfach stehen, besorgten sich rasch Westautos, gebrauchte zuerst, bald neue. Die große Reisewelle westwärts begann. Zugemauerte Eingänge von S- und U-Bahnen wurden geöffnet, in die 28 Jahre lang versperrte düstere Unterwelt kam Leben. Friedrichstraße, Scharnhorststraße, Chausseestraße – soeben noch das Ende der Welt. Nun das Ende des Endes der Welt.

Die einzelnen Stufen des Mauerbaus habe ich verspätet mitbekommen. Im August 1961 war ich auf einem Universitätskurs in Warschau. Hier staunte man allgemein, wie es möglich sein konnte, die Vorbereitungen für eine solche Staatsaktion geheimzuhalten. Totale Geheimhaltung. Dabei war immerhin eine unter normalen Verhältnissen unnütze Umgehungsbahn nach Potsdam gebaut worden. Tausende Eingeweihte hatten dichtgehalten. Glanzleistung der DDR. Auch in den ersten Tagen der Absperrung hatte man «die Sache im Griff». Nur wenigen gelang die Flucht. Mein Freund Werner Kilz ist noch durch die Kanäle abgehauen. Ein anderer Freund, Norbert Randow, mußte als «Mitwisser» und «Boykotthetzer» drei Jahre in den Knast, während Unterschriftenaktionen einsetzten, die den «Antifaschistischen Schutzwall» begrüßten. Ein Kursteilnehmer, Assistent an der Humboldt-Universität, der sich geweigert hatte, seine Unterschrift «zu leisten», weil er Verwandte in Westberlin hatte, wurde durch die DDR-Botschaft nach Ostberlin zurückbeordert.

Kein Mensch hatte 1961 geglaubt, die Absperrung würde lange bestehen .(ebenso wie 28 Jahre später keiner glaubte, die Mauer könnte in absehbarer Zeit fallen). «Das kann nicht lange dauern», hieß es damals, «man kann eine Stadt nicht teilen.» Aber man kann. Und nach und nach kann man sich auch daran gewöhnen.

In der Kulturszene wurde gestreut, daß es nun, da der Feind ausgesperrt sei, liberaler zugehen würde. «Jetzt sind wir unter uns, können uns mehr Offenheit erlauben», wurde frohlockt. Aber das Klima verschärfte sich. Ein Beweis der Offenheit: Im Berliner Schriftstellerverband stimmten über hundert Kollegen mit läppischer ideologischer Begründung für den Ausschluß von Heiner Müller .(dabei gab es eine Stimmenthaltung, und zwei Kollegen, Martin Remane und ich, verließen kurz vor der Abstimmung den Saal). Die ersten Jahre nach dem Mauerbau waren nicht amüsant: keine Besuche aus Westberlin, nicht einmal Familienbesuch, kein Telefonieren mit Westberlin, aber immerhin Kerzen in den Fenstern zu Weihnachten hüben und drüben in der Grenzregion, das Betreten den linken Seite der Scharnhorststraße war untersagt, Besucher mußten sich vorher anmelden, unangemeldete wurden gelegentlich denunziert. Frostzeit in der Kulturpolitik.

Mich rettete mein Übersetzerberuf, der frei ausgeübte, also eine Art Nischendasein. Ich pendelte zwischen meiner Holzhütte in Kolberg am Wolziger See, wo ich viele Monate im Jahr verbrachte, und der Scharnhorststraße. Die polnische Literatur, die ich ins Deutsche übersetzte, und meine Polenaufenthalte waren Rettungsanker. Polen war seit Oktober 1956 kulturell weltoffen. Alles in der DDR als reaktionär, formalistisch, objektivistisch, revisionistisch etc. Verpönte war in Polen möglich. Eine in der DDR stark beargwöhnte Kunst und Literatur .(besonders Malerei, Plakatgrafik und Film), von den engen Fesseln der Bevormundung weitgehend befreit .(wenngleich nicht ganz frei von Tabuzonen), gedieh in Polen. Hier konnte ich die Kunst sehen und die Bücher und Zeitungen lesen, die mir zu Hause verwehrt waren. Polen galt .(neben Ungarn) als die lustigste Baracke im Lager. Polnische Kunst und Literatur sowie polnisches Theater übten auf DDR-Deutsche eine starke Anziehung aus. Es war wohl der unverfälschte Alltag und die ins...



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