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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 72, 508 Seiten

Reihe: Bibliotheca Germanica

Gebert Wettkampfkulturen

Erzählformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7720-0069-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters

E-Book, Deutsch, Band 72, 508 Seiten

Reihe: Bibliotheca Germanica

ISBN: 978-3-7720-0069-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie bringen Gesellschaften der Vormoderne, die keine generalisierten Konzepte von Diversität im modernen Sinne ausbilden, dennoch Vielfalt zur Geltung? Die Untersuchung verfolgt diese Frage anhand deutschsprachiger Wettkampferzählungen des 9. bis 15. Jahrhunderts und ausgewählter Bezugstexte der lateinischen und französischen Literatur. Die gattungsübergreifenden Studien arbeiten heraus, welche Differenzlogiken in Streitdialogen und Narrativen vom Seelenkampf, in Heldenepen, höfischen Romanen, Märtyrerlegenden, allegorischen Dichtungen und Exempelerzählungen greifbar werden. Ausgelotet werden erzählerische Spielräume der Vervielfältigung, die nicht nur Alternativen eröffnen, sondern insbesondere interne Möglichkeiten von Unbestimmtheit kultivieren.

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1 Zwischen Einfachheit und Vielfalt


»Mittelalterliche Geschichten handeln von Rittern, Prinzessinnen, Drachen, bösen Widersachern, Riesen und Zwergen«, bemerkt Armin Schulz lapidar in seinen Analysen zur Erzähltheorie, doch obwohl höfische Romane und Epen dazu immer wieder schematisch von Aventiure und Konfrontation, von Kampf und Liebe erzählten, erreichten sie bemerkenswerte »Komplexitätssteigerungen«.1 Ein solcher Eindruck trifft einen zweischneidigen Sachverhalt. Wer sich mit mittelalterlichen Erzählungen beschäftigt, kann kaum bestreiten, dass diese tatsächlich aus einem begrenzten Vorrat grundlegender Sujets und hochfrequenter Erzählkerne schöpfen.2 Ihre Protagonisten scheinen »alles andere als komplexe Charaktere«.3 Romane stützen sich auf ›einfache Formen‹, die z.B. dem Märchen ähneln,4 Epen und Kurzerzählungen greifen gleichermaßen zu Mustern und Erzählschablonen.5 Explizite produktionsästhetische Normen zielen auf Integration: Wenn die hochmittelalterliche Schulrhetorik etwa Bearbeitungsroutinen des Erweiterns und Kürzens empfiehlt, dann weniger zur Erzeugung origineller Sinnvarianten als vielmehr zum »Vereindeutigen des bereits Vorhandenen«.6 »Mittelalterliches Erzählen orientiert sich in großem Umfang an vorausgehenden Erzählungen«, deren Tradition durch Erneuerung gepflegt, deren »Grundmuster« als »konstantes Set von Wahrheiten« wiederholt und im »kulturellen Gedächtnis« gesichert werden.7

Andererseits bevorzugen mittelalterliche Geschichten zwar stereotype Elemente und einfache Basisschemata, kombinieren und variieren diese jedoch zu durchaus komplexen Erzählstrukturen und Figurenentwürfen, die mitunter hybrid oder gar brüchig wirken.8 Je nach Perspektive (und Kunst des Interpreten) scheint mittelalterliches Erzählen in seinem Dispositiv des Wiederholens und Erneuerns oft genug zwischen Einfachheit und Vielfalt zu schwanken.9 Kürzende Textbearbeitungen können nicht nur pointierend vereinfachen, sondern ebenso neue Sinnvarianten erzeugen,10 einstimmige Wissensbestände können in »plural fokalisierte[m] Erzählen« zugleich vielstimmig aufgeteilt werden.11 Auch lyrische Texte zielen auf »programmatische Steigerung von Komplexität« durch performative »Vielfältigkeit«, während sie gleichzeitig von »Standardisierung« ihres Themenvorrats ausgehen.12 Insgesamt nährt dies den Eindruck: »Wiederholung und Abweichung« scheinen gleichermaßen »zentrale Aspekte« der »mittelalterlichen Kultur« zu bilden, die sich schwer aufeinander reduzieren lassen.13 Und es scheint gerade dieses komplexe Zusammenspiel von Einfachheit und Vielfalt zu sein,14 das oft zu ebenso schwankenden Bewertungen der Modernität volkssprachlicher Literatur des Mittelalters verführt.15

Solches Schwanken ist der mediävistischen Literaturwissenschaft traditionell vertraut.16 Doch verdient es im Kontext kulturwissenschaftlicher Methodologie neue Aufmerksamkeit, insofern es auf grundsätzliche Schwierigkeiten der Kulturwissenschaften im Umgang mit historischen Texten verweist, deren Erzählformen zwischen Einfachheit und Komplexität changieren. Zu diesen Formen gehören nicht zuletzt auch Erzählmuster des Wettkampfs.17 Wenn höfische Romane geradezu obsessiv ritterliche Kämpfe umkreisen und dazu fortgesetzt Erzählschemata von Aventiure und Zweikampf durchspielen,18 erzeugen sie mittels einfachster Sujets und Erzählmittel oft Ergebnisse von schillernder Komplexität. Sie sind in ihren Voraussetzungen freilich reduktiv: Natürlich erzählen auch mittelalterliche Texte vom Zweikampf als Interaktion, bei der man gewinnt oder verliert; auch jenseits literarischer Inszenierung zielen z.B. mittelalterliche Gerichtskämpfe auf eindeutigen Ausgang der Wahrheitsfindung.19 Texte des hohen und späten Mittelalters stellen oft Zweikämpfe in den Mittelpunkt, deren Ausgänge irritierend offen bleiben, indem sie förmlich wuchern – und dies quer zu Sprach- und Gattungsgrenzen.20

Einen besonders eindrücklichen Fall dieser Art liefert in der deutschsprachigen Epik die Heinrichs von dem Türlin (um 1230).21 Durch mehrdeutige Zugeständnisse ermutigt, hatte ein mysteriöser Ritter namens Gasozein die Königin Ginover zu vergewaltigen versucht, als die Aventiure zufällig den Musterritter Gawein zur Rettung herbeiträgt. Nach wenigen Reizworten fliegen die Ritter schemagemäß mit eingelegten Lanzen aufeinander: (V. 11872). Trotzdem bemühen sich die Aggressoren äußerst rücksichtsvoll umeinander. Nach dem ersten Waffengang pausieren Gawein und Gasozein einträchtig in miteinander (V. 11926), bis ihnen neue Kräfte zuwachsen. Sobald Gasozein sein Schwert entgleitet, lässt ihn Gawein bereitwillig die Waffe aufnehmen (V. 11958–11969) und hilft dem Gegner sogar wieder in den Sattel, als dieser entkräftet vom Pferd fällt (V. 11997–12006). Statt auf Sieg oder Niederlage zielt die Episode immer wieder auf Gleichstand: Jähzornig ersticht Gasozein sein ermüdetes Tier, woraufhin Gawein zum Ausgleich sein eigenes Pferd tötet (V. 12009–32). Wieder brechen beide erschöpft zusammen. Als Gawein schließlich als erster erwacht, eilt er sogleich / / (V. 12212–12214). Obwohl Vergewaltiger und Beschützer also auf Zweikampfsieg und Niederlage des anderen zielen, suchen sie fürsorglich Symmetrie herzustellen. Dies nimmt geradezu intime Züge an (Gawein weckt Gasozein ) – und wird in auffälligen Wiederholungen erzählt. Insgesamt viermal brechen beide ohnmächtig zusammen und pausieren, sobald sich der Zweikampf asymmetrisch zu neigen droht, um sodann den Kampf fortzusetzen. Gawein und Gasozein verschlingen sich dabei in seltsamen Schleifen von Kooperation und Destruktion,22 welche die Kontrahenten im Widerstreit auf paradoxe Weise verbinden – in »strange loops«, wie man mit dem Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter sagen könnte.23 Schon Heinrich von dem Türlin hebt hervor, wie schwer diese Dynamik für die Beteiligten zu verkraften ist: Ginover, die umkämpfte Dritte, treibt solche Unfähigkeit zur finalen Entscheidung schier zur Verzweiflung (V. 12272–12289). Offenkundig: Solche Zweikämpfe kennen kein Finale, sondern höchstens Erschöpfungszyklen. Sie verleihen dem einfach strukturierten Erzählmuster vom Kampf auf Sieg und Niederlage durch paradoxe Verschlingungen eine Dynamik, die von keiner Figur mehr kontrolliert werden kann. Auch über die Szenenregie des Erzählers wächst sie hinaus. Zwar lenkt die Handlung die Freund-Feinde Gasozein und Gawein an den Artushof zurück, doch weder kann der offene Konflikt um Ginover gelöst werden, noch überhaupt stillgelegt werden. Ein unlösbarer Zweikampf verkettet sich dadurch mit einer Romanhandlung, die auch in vielen anderen Episoden schleifenförmig erzählt. Nicht nur für Richterfiguren wie König Artus werden dadurch Auflösungen schwierig. Auch ihrem Rezipienten verweigern solche Strukturen eindeutige Antworten, wie Justin Vollmann gezeigt hat:24 Wo solche Schleifen beginnen oder enden, wird schwierig zu ermessen, wenn Handlungsketten auf immer neue Wettkämpfe verweisen.25 Ausgestellt wird eine »reine Form: mehr oder weniger geordnete Zusammenhänge, die auf nichts verweisen außer auf sich selbst.«26

Die kooperierenden Feinde der sind bekanntlich kein Sonderfall des spätmittelalterlichen Romans.27 Die nachfolgenden Analysen beleuchten, wie mittelalterliche Erzähltexte in verschiedensten Gattungs- und Diskurszusammenhängen paradoxe Kalküle des Wettkampfs gestalten, die vergleichbare Komplexitätsmuster hervortreiben. Aventiureromane entwickeln sie besonders häufig im Rahmen von Zweikämpfen. So führt etwa Hartmann von Aue den Gerichtskampf von Iwein und Gawein über mehrere Waffengänge und Pausen, die selbst dann noch fortwuchern, als der Gerichtskampf aus formaljuristischen Gründen bei Sonnenuntergang als entschieden gelten müsste:28 Tief im Herzen der Kämpfer aber treiben und unablässig Zuneigung und Aggression voran.29 Auch der Wolframs von Eschenbach verschränkt Aggression und Kooperation: vom Gruppenkampf der Artusritter gegen den tranceartig abwesenden Parzival über die Zweikämpfe Gawans auf dem Feld von Joflanze oder der unerkannten Brüder Parzival und Feirefiz bis zum alternierenden Wechsel umfangreicher Passagen, die bald Parzival, bald Gawan folgen.

Aber auch heldenepische Texte entwickeln ihre Kampfbeziehungen in dieser Spannung. Gemeinsam pausieren im die Kontrahenten Gunther, Hagen und Walther miteinander, trinken, bespotten und rühmen sich gegenseitig für Verstümmelungen und andere Heldenleistungen; nach einer langen Sequenz von Siegen und Niederlagen balanciert die Erzählung damit einen Zustand aus, der Sieg und Niederlage aufschiebt.30 Selbst wenn Heldenepen ihre Antagonisten holzschnittartig gegenüberstellen, führt sie die Erzählung von in eine »Endlosschleife« von Kämpfen, die weder Anfang noch Ende zu haben...



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