Geda | Vielleicht wird morgen alles besser | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Geda Vielleicht wird morgen alles besser

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22350-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-22350-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Suche nach dem richtigen Platz in dieser Welt - ein berührender Roman vom Autor des Bestsellers 'Im Meer schwimmen Krokodile'
Der 15-jährige Ercole hat es nicht leicht: Er muss früh lernen, für sich und seine Schwester Asia Verantwortung zu übernehmen. Seine Mutter ist schon vor vielen Jahren ausgezogen, sein Vater ein Alkoholiker, der sich mit dubiosen Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Zusammen mit seiner Schwester bewahrt Ercole mühsam die Familienfassade, damit das Jugendamt nichts merkt. Trotz allem ist er ein zufriedener, unbeschwerter Junge. Besonders als er Viola kennen lernt, die in Ercoles Bauch Schmetterlinge zum Tanzen bringt ...

Bestsellerautor Fabio Geda erweist sich erneut als Meister im Porträtieren von Kindern und Jugendlichen. Ihre kleinen und großen Nöte inspirieren ihn immer wieder zu ganz besonderen Geschichten - emotional, authentisch, unvergesslich.

'Wunderbar leicht erzählt Fabio Geda von den Mühen und dem Staunen eines Teenagers, der die herzzerreißende Suche unternimmt, seinen Platz in der Welt zu finden.' La Stampa

Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und schrieb für Zeitungen. Bereits sein erster Roman 'Emils wundersame Reise' war in Italien ein Überraschungserfolg; das Buch 'Im Meer schwimmen Krokodile' brachte ihm auch international den Durchbruch, es verkaufte sich in 33 Länder und ist zu einem modernen Klassiker geworden.

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2

Denn die ganze Zeit ist ja Zeit vergangen.

Du kannst mit deinem Herzschlag

keine Zeit totschlagen. Alles verbraucht Zeit.

Bienen müssen sich sehr schnell bewegen,

um still zu stehen.

DAVID FOSTER WALLACE

Seit diesem Tag, an dem ich mit Luca aufs Dach geklettert bin, sind vier Jahre vergangen, ich habe also genug Wasser den Fluss runterfließen sehen, vor allem zwischen der Piazza Vittorio und der Kirche Gran Madre di Dio. Darauf werde ich noch zurückkommen, aber vorher muss ich noch ein paar Kleinigkeiten loswerden, damit man sich ein besseres Bild von der Situation machen kann und versteht, wie ich da oben gelandet bin.

Zunächst einmal bin ich geboren worden. In Turin, im Cenisia-Viertel. Mama hat immer gesagt, dass ich sie an Yoda erinnert habe, als sie mich im Kreißsaal zum ersten Mal sah – nur dass ich etwas mehr Haare hatte. Aber zum Glück habe ich mich weiterentwickelt und könnte heute locker Enrique Iglesias’ Sohn sein. Ich habe viele Sachen und Orte noch nie gesehen, das Polarlicht zum Beispiel, die Wasserung eines Flugzeugs oder ein Livekonzert von Eminem, Erdölplattformen, Gewitter an der Mündung des Catatumbo-Flusses und die meisten Städte dieser Welt. Dafür war ich mit der Schule in Mailand, in Boves und in Pietra Ligure am Meer.

Meine Oma verkaufte Fisch an der Porta Palazzo, und mein Opa liebte Hundekämpfe genauso wie Basilikumgrappa: Ich erinnere mich noch an die Phase, in der er ständig von einem Rottweiler namens Tomba erzählt hat, wie Alberto Tomba, der Skirennläufer aus den Neunzigern. Ich hab nie richtig kapiert, ob er nach ihm benannt war oder so – und ich glaube nicht, dass mein Opa jemals Ski gefahren ist. Meine Oma starb auf dem Großmarkt, wo sie von einem Gabelstapler überfahren wurde: Ich habe sie sehr geliebt, weil sie mir das Zeichnen beigebracht hat, und obwohl ich sie erst im Sarg wiedersah, als ihr das halbe Gesicht fehlte, durfte ich ihr ein Pokémon in die Hand drücken: Squirtle. Und sonst? Na ja, mein Opa hat hin und wieder meinen Pimmel angefasst. Aber nicht so, wie man denken könnte. Es war eher was Technisches: Wie ein Mechaniker, der nachschaut, ob er noch da ist. Keine Ahnung, was aus meinem Opa geworden ist. Seit Mama weg ist, hab ich ihn nicht mehr gesehen.

In dem Sommer, als ich fünfzehn war und mir alles um die Ohren geflogen ist, in dem ich mit Luca abgehauen bin und so, war ich eins sechsundsechzig. Wer sich eine Vorstellung davon machen möchte, wie ich aussehe, dem sei gesagt, dass ich die kleinen Ohren und runden Schultern meines Vaters und die dunklen Augen und langen Wimpern meiner Mutter habe, dazu einen Gesichtsausdruck, der einigen Leuten zufolge so aussieht, als wäre ich ständig verliebt oder würde ein Feuerwerk bestaunen. Aber ich habe mich bloß einmal verliebt. Und das einzige Feuerwerk, das ich kenne, findet am Abend des 24. Juni statt, wenn in Turin San Giovanni gefeiert wird … und mein Geburtstag.

In dem Herbst, als ich in die erste Klasse ging – in dem ich also sechs war und meine Schwester Asia elf –, ist meine Oma wie bereits erwähnt von einem Gabelstapler überfahren worden. Mama hat uns an einem x-beliebigen Tag verlassen, an dem nicht mal schlechtes Wetter war, wie es eigentlich sein sollte, wenn Mütter einen verlassen, sprich bei Regen oder an einem Tag, an dem der Himmel an eine Fischhaut erinnert. Opa ist kurz vor dem Abendessen gegangen, um mit Tombas Besitzer zu reden, und nie mehr wiedergekommen. All das geschah im Laufe einer einzigen Woche. Es war Sonntag, als Papa es merkte. Am Vormittag kam er nach einer auswärts verbrachten Nacht zurück, machte den Kühlschrank auf, nahm die Milch raus, schnupperte daran, um festzustellen, ob sie noch gut war, schenkte sich eine Tasse ein, suchte nach der Packung mit Keksen – es war nur noch einer drin –, setzte sich an den Küchentisch, tunkte den letzten Keks ein, wobei er sich die Finger nass machte, schaute auf und sah in diesem Moment mich sowie Asia an der Tür stehen: ich mit Roxy unterm Arm, dem alten Teddy, der einst meiner Schwester gehört hat, weshalb ich ihn nicht umtaufen durfte, und Asia in einem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck »Das Beste kommt erst noch«. Da schaute er sich um und sagte: »Wo, zum Teufel, sind bloß alle?«

»Wer?«, sagte Asia.

Der weiche Keks brach und plumpste in die Tasse.

»Eure Mutter?«, sagte Papa und zog fragend die Braue hoch.

»Weg?«, äffte ihn Asia nach.

Es geschah öfter, dass sich die beiden unterhielten, indem sie sich Fragen stellten, die keine waren.

»Wohin?«

»Weißt du das denn nicht?«

Papa verspeiste das Keksstück, das er noch zwischen den Fingern hielt, leckte sie ab, stand auf, wobei er den Stuhl laut über den Fußboden schrammen ließ, und ging ins Schlafzimmer. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit offen, er war leer. Es hingen nur noch nackte Kleiderbügel darin. Auf dem Bett lagen nicht zusammenpassende Socken, ein BH und ein Pulli, den ihr die Oma vom Markt an der Porta Palazzo mitgebracht hatte, der ihr aber nach einhelliger Meinung nicht stand. Er war pistaziengrün und mit Papageien und Hubschraubern bedruckt. An der Wand waren die Umrisse eines abgehängten Bildes zu sehen. Papa blieb stumm davor stehen und starrte eine Ewigkeit auf den Schrank. Das weiß ich noch genau, weil ich dringend Pipi musste, aber nicht wegwollte, denn damals, wo ich so viele Leute hatte verschwinden sehen, hatte ich Angst, niemanden mehr vorzufinden, wenn ich von der Toilette käme. Er streckte den Arm aus, um auf die traurigen Überreste zu zeigen, und sagte: »Ich fass es nicht, sie hat auch meine Klamotten mitgenommen.«

»Quatsch!«, sagte Asia, »da sind sie doch.« Sie zeigte mit dem Kinn auf den hintersten Winkel des Schranks.

Papa umrundete das Bett, beugte sich vor und griff nach einer Camouflagehose und einem rosa Hemd mit spitzem Kragen, dessen Brusttasche mit einer Doppelreihe Strasssteine verziert war. Dann schaute er zur Decke hoch und atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank!«, sagte er.

Somit blieben wir allein zurück: Papa, Asia und ich. Fest stand, dass wir jetzt zu Hause so viel Platz hatten, dass wir gar nicht wussten, was wir damit anfangen sollten. Wir wohnten im obersten Stockwerk – vierte Etage ohne Lift – in einem vor etwa hundert Jahren für Arbeiter einer nahe gelegenen Fabrik und ihre Familien errichteten Gebäude: Zimmer, Küche, Bad. Asia und ich hatten bisher in einem abgetrennten Bereich geschlafen, hinter einer Wand aus Gipskarton. Dort war gerade genug Platz für unser Stockbett. Opa und Oma, also die Großeltern mütterlicherseits, hatten, solange es sie gab, in der Küche auf dem orangefarbenen Ausziehsofa übernachtet. Wollte man es ausziehen, musste man erst mal den Esstisch und die Stühle vors Küchenbüfett schieben.

Die Wohnung gehörte der Witwe Rispoli, die bei uns immer nur »die Witwe« hieß, ein Gutmensch und Freundin des Pfarrers Don Lino. Sie hatte uns die Wohnung nach meiner Geburt vermietet. Die Witwe besaß so viele Häuser, dass sie gar nicht mehr wusste, wohin damit, und Don Lino hatte sie überredet, nur eine niedrige Miete zu verlangen – so niedrig, dass sie kaum mehr als die Nebenkosten deckte. Denn so ist das Leben, wenn alles gut läuft: voll großzügiger Leute. Um die Witwe glücklich zu machen, brauchten wir Kinder sie nur mit einem Lächeln und einer Zeichnung zu begrüßen, wenn sie kam, um die Miete abzuholen. Die Großeltern plauderten kurz bei einer Tasse Kaffee mit ihr, und Papa gab ihr einen Handkuss – vorausgesetzt, er drückte sich nicht gerade. Es genügte, ihr Gelegenheit zu geben, ob unserer Dankesbezeugungen zu erröten. Um sie dann mit einem schweren Umschlag voller Münzen wieder nach Hause zu schicken, die wir extra sammelten, um ihr zu verstehen zu geben, dass wir gezwungen waren, unser Sparschwein zu schlachten, wenn wir sie bezahlen wollten.

Nachdem Mama und die Großeltern weg waren, blieben nur noch Asia und ich, um sie zu empfangen. Wir duschten. Wir kämmten uns. Wir zogen ein sauberes T-Shirt an. Und antworteten auf die Frage: »Wie geht’s euch, meine Kleinen, kann sich euer Vater überhaupt um euch kümmern, jetzt, wo er ganz alleine ist?« mit Blicken und Schilderungen, die so rührend waren, dass Papa beim Abendgebet der Witwe einen immer höheren Stellenwert bekam.

Um die Traurigkeit zu verscheuchen, die auf uns lastete, seit Mama gegangen war – eine Traurigkeit, die sich anfühlte, als würde ich ein Loch in mir ausheben und müsste tonnenweise Schutt entsorgen, wobei mir Asia ständig im Weg stand, sodass ich monatelang nur noch stolperte (deswegen, aber nicht nur) –, um diese Traurigkeit zu verscheuchen, entfernte Papa die Gipskartonwand, die das Schlafzimmer teilte, und meinte, der ganze Raum gehöre jetzt uns; er werde auf dem Küchensofa schlafen. Na ja, es war nicht ganz dasselbe, wie Mama und die Großeltern nebenan zu haben, aber doch etwas, auf das wir uns konzentrieren konnten. Asia und ich beschlossen, gemeinsam im Doppelbett zu schlafen und das Stockbett Papa zu überlassen, falls er der Küche hin und wieder entfliehen wollte. Ich weiß noch, wie ich dachte, wir können ja jetzt Freunde zum Übernachten einladen, doch irgendwie ist es nie dazu gekommen. Wir hatten keine so engen Freunde, die wir hätten einladen können, ohne dass deren Eltern Erkundigungen über unsere Familie einholten. Und dann war die Antwort immer dieselbe: Wenn wir wollten, könnten wir ja bei ihnen übernachten.

Die Wände teilten wir auf: Asia nahm die hinterm Ehebett und die mit dem Schrank. Sie pflasterte sie mit Fotos aus Kochzeitschriften von Schokosoufflés,...


Geda, Fabio
Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und schrieb für Zeitungen. Bereits sein erster Roman »Emils wundersame Reise« war in Italien ein Überraschungserfolg; das Buch »Im Meer schwimmen Krokodile« brachte ihm auch international den Durchbruch, es verkaufte sich in 33 Länder und ist zu einem modernen Klassiker geworden.

Burkhardt, Christiane
Christiane Burkhardt lebt und arbeitet in München. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen und hat neben den Werken von Paolo Cognetti u. a. Romane von Fabio Geda, Domenico Starnone, Wytske Versteeg und Pieter Webeling ins Deutsche gebracht. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.



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