Genazino Außer uns spricht niemand über uns
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25413-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-25413-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt: Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016), Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018), Der Traum des Beobachters (Aufzeichnungen 1972-2018, 2023).
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1 Still ruhte der Sonntag in den Straßen der Stadt. Ich stand am Fenster und sah eine Frau, die in hohen Schuhen an den Gartenzäunen entlangging. Auf der anderen Seite der Straße erschien eine junge Mutter mit Kinderwagen. Sie trug flache Schuhe und schaute ohne Unterlass auf das wahrscheinlich rosige Gesicht ihres schlafenden Säuglings. Eine junge Frau sang im Radio mit weinerlicher Stimme, dass Jesus sie liebt und retten wird.
Gestern Abend war ich bei Carola und lag lange allein in ihrem Bett. Ich hoffte, Carola werde bald bemerken, dass ich auf sie wartete. Aber sie saß vor dem Fernsehapparat und sah sich eine Dokumentation über Leihmütter an. Meine Stimmung rutschte in einen nie gesehenen Keller. Erst als Carola den Fernsehapparat zu später Stunde abschaltete und ins Bett kam, sagte sie plötzlich: Meine Mutter war eine belanglose Frau, und ich werde ebenfalls eine belanglose Frau. Ich verstand den Satz gerade noch, war aber nicht mehr wach genug, um auf ihn einzugehen.
Weil ich heute sehr früh wach geworden war, zog ich mich fast geräuschlos an und verließ noch vor sieben Uhr Carolas Wohnung. Die Bäckerei in der Nähe meiner Wohnung öffnete sonntags um acht. Ich würde mir zwei Brötchen kaufen, in Ruhe frühstücken und über mein Leben nachdenken. Denn mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte. Mit welcher Zartheit der erste Unwille an uns nagt! Gleichzeitig konnte ich nur ungenau sagen, wie das von mir gewünschte Leben eigentlich aussehen sollte. Ich verdiente ausreichend Geld und war nicht von übersteigerten Erwartungen gesteuert. Mir fiel ein, dass an diesem Sonntag in der Stadt ein großer Marathonlauf stattfand. An den Rändern der Straßen stellten Händler schon jetzt Tische auf, auf denen später belegte Brötchen, Erfrischungsgetränke, Luftballons und Trillerpfeifen zum Verkauf bereitlagen. Das Rote Kreuz errichtete Zelte, in denen sich zusammengebrochene Läufer auf Rollbetten ausruhen und notfalls behandelt werden konnten. Der Tag des Marathonlaufs war für viele eine außergewöhnliche Unterhaltung. Obwohl sich zu dieser Stunde noch nicht viel ereignete, stellten sich viele Zuschauer schon jetzt entlang der Laufstrecke auf. Sie glaubten, an diesem Tag werde sich der Alltag endlich mit jener Lebendigkeit anfühlen, die sie das ganze Jahr über erwarteten. Eine alleinstehende Nachbarin fragte auf der Treppe: Schauen Sie sich auch den Marathon an? Ich bin noch nicht einmal richtig wach, sagte ich, worauf sie still wurde. Ich erinnerte mich kurz an die Zeit, als ich in Versuchung war, mit einer Hausbewohnerin anzubändeln, obwohl ich derlei Abenteuer schon lange nicht mehr schätzte. Aber dann, gerade noch rechtzeitig, schaute eines Morgens ein Otto-Katalog aus dem Briefkasten der Nachbarin heraus, und dann ahnte ich, dass die Geschichte wie das langsame Durchblättern eines Otto-Katalogs weitergehen würde. In der Bäckerei sah ich ein paar Läufer. Vor mir war ein Rentner an der Reihe, der sich mit Sicherheitsnadeln eine viel zu große Stoff-Nummer am Unterhemd befestigt hatte. Der Mann war zuversichtlicher Laune und wusste offenbar nicht, wie schräg das Bild war, das er abgab. Sogar die Verkäuferinnen kicherten über ihn, was ihn nicht irritierte. Ich verlangte zwei Brötchen und verließ rasch den Laden. An stillen Sonntagen fiel deutlicher als sonst auf, dass meine Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad für mich allein zu groß war. Damals, als ich die Wohnung anmietete, hatte ich gedacht, es müsse ein Ende haben mit diesen Ein-Zimmer-Appartements, in denen ich zuvor gelebt hatte. Jetzt, in drei Zimmern, stöhnte ich immer mal wieder über die zu wenig genutzten Räume, die sich allmählich in Lagerräume zu verwandeln schienen. Von Zeit zu Zeit füllte ich einen Karton mit alten Zeitschriften oder mit nicht mehr gebrauchten Küchengeräten und schob ihn in eines der kaum bewohnten Zimmer. Hinzu kam dann und wann ein alter Sakko oder ein abgelegter Mantel oder eine erbarmungswürdige Hose, die wegzuwerfen ich mich nicht traute. Carola sagte nie: Ich könnte doch in deine Wohnung mit einziehen. Sondern sie stellte geschickt meinen Vorteil in den Vordergrund: Ich könnte einen Teil der Miete übernehmen. Den Rest ihres Vorschlags sprach sie nicht aus. Sie sagte auch nicht, dass sie ihre jetzige Wohnung kündigte, falls sie bei mir einziehen würde. Sie stellte die Angelegenheit so dar, als ob sie sich schon immer vorgestellt hätte, zwei Adressen zu haben, wo sie sich wechselweise aufhalten könnte/würde. Ich hatte mir angewöhnt, all diese Äußerungen nicht zu kommentieren. Es wurde mir klar, dass Carola sich offenbar entschlossen hatte, aufs Ganze zu gehen, ohne ein einziges Wort über das Thema zu verlieren. Da hörte ich die Lautsprecherdurchsagen der Polizei, deren schnarrender Ton mich erschreckte. Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.
Eine Frauenstimme stellte ein sogenanntes Hörrätsel vor. Sie las einen etwa zwei Minuten langen Ausschnitt aus einem Roman vor. Die Hörer sollten raten, um welchen Roman es sich dabei handelte und dann beim Sender anrufen. Wenn sich ein Hörer schnell meldete, sagte die Sprecherin, könne er vielleicht eine CD gewinnen und sein Name werde in der nächsten Sendung genannt. Ich zuckte zusammen und setzte mich auf einen Stuhl. Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch. Das Radio konnte ich abschalten, gegen die Durchsagen der Polizei war ich machtlos. Ich saß immer noch auf einem Stuhl und machte mir klar, dass ich diesem Tag entfliehen musste. Aber wohin? Es zeichnete sich seit längerer Zeit ab, dass Carola und ich nicht wirklich zusammenpassten, aber Carola hielt fast alles, was sich zwischen uns ereignete, für immer neue Zeichen von Liebe und Zukunft. Carola steckte in einer Zwickmühle, aus der es meiner Einschätzung nach kein Entkommen gab. Sie arbeitete seit Jahren als Telefonistin in einer Spedition. Der Beruf war ihr peinlich geworden. Nur noch selten war sie bereit, über ihr Dilemma zu sprechen. In Wahrheit musste sie endlich eine Ausbildung beginnen, aber in ihrem Alter (sie war 35) war vieles nicht mehr möglich, was zehn Jahre zuvor leicht zu machen gewesen wäre. Ich versuchte ihr zu helfen, so oft es mir möglich war, einen Job zu finden. Aber die offenen Stellen ähnelten einander in einem Punkt: Es war für diese Stellen keine besondere Ausbildung nötig, das heißt, sie waren begehrt bei allen, die nicht viel zu bieten hatten. In dieser Lage konnte sie nur Telefonistin bleiben. Das dachte ich oft, sagte es aber nicht, um Carola nicht noch mehr zu belasten. Ich bewegte mich auf einen Punkt zu, an dem ich fürchtete, nicht den richtigen Anfang des Tages erwischt zu haben. An diesem Punkt rief ich früher oft meine Mutter an, aber meine Mutter war schon lange tot. Oder ich begann, meine Schuhe zu putzen, was selten genug geschah. Carola konnte einen reglosen Sonntag nicht in Ruhe auf sich zukommen lassen. Wenn ich sie sonntags treffen wollte, musste ich spätestens donnerstags Bescheid sagen; andernfalls verabredete sie sich mit einer Freundin und ging mit ihr ins Kino. Ihre Vorliebe für belanglose amerikanische Filme war mir seit langer Zeit rätselhaft, aber ich hatte gelernt, auf dieses Thema zu verzichten. Sie kanzelte mich dann mit einem einzigen Satz ab: Das verstehst du sowieso nicht – womit sie recht hatte. Ich wollte noch immer nicht hinnehmen, dass es eine Unterhaltungsunterschicht gab, die auf anderen Gebieten durchaus nicht der Unterschicht angehörte. Ihr gefiel das Arrangement an meinem Bett: zwei Radios, viele Bücher, die Wundsalbe, oft ein Pfirsich, der Rest einer Brezel, ein 10-Euro-Schein, zwei Kondome, der Wecker, eine Socke, der Aschenbecher. Sie lachte, wenn sie dieses Arrangement sah.
Jetzt betrachtete ich am Fenster die verschiedenen Arten, wie halbwelke Blätter vom Baum fielen. Die meisten Blätter schaukelten im Zeitlupentempo in den Hof hinunter. Andere waren schon weitgehend zusammengerollt und stürzten fast senkrecht in die Tiefe. Wieder andere segelten wie kleine Flugzeuge sachte abwärts. Eine Frau begann den Hof auszukehren, was an diesem Tag nicht einfach war. Es lagen viele feuchte Blätter aufeinander oder klebten am Boden. Im dritten Stock des gegenüberliegenden Hauses brannte in einem Zimmer noch immer Licht. Jemand hatte am Abend zuvor vergessen, den Lichtschalter zu betätigen. Eben kam ein Wind auf und ließ viele angewelkte Blätter auf einmal zu Boden schweben. Meine Waschmaschine war nicht mehr die Jüngste. Ich müsste sie wahrscheinlich ausrangieren und mir eine neue kaufen. Ein Zeichen ihres Alters waren die wirren Geräusche, die sie inzwischen von sich gab. Ich benutzte die Maschine nur noch, wenn ich kurz danach die Wohnung verließ. Ich stellte mir manchmal vor, wir hätten dann ein Kind, für das ich die Verlautbarungen der Waschmaschine nachahmte, woran das Kind großes Vergnügen hätte. In meiner Vorstellung fing das Kind ebenfalls an, die Geräusche zu imitieren. Ich sagte dann: Es gibt erstens die echten Geräusche und zweitens deren Nachahmer und drittens den Nachahmer der Nachahmer, das Kind. Das würde eine Weile gut gehen, bis Carola uns bitten würde, unsere Darbietung zu beenden. Zutreffend an dieser Geschichte war, dass weder Carola noch ich den Mut hatten, ein Kind in die Welt zu setzen, oft aber darüber redeten, wie es wäre, wenn wir den Mut hätten. Ich ging in der Wohnung umher und gab eine Art von Geheul von mir. Wenn Carola jetzt da wäre, würde sie wieder fragen: Was fehlt dir? Dann würde ich sie von hinten umarmen, so dass ihre Brüste in meinen Händen lagen und die Frage, was mir fehlte, geklärt wäre, jedenfalls für Carola. Ich war gemein, ich tat so, als wären meine Probleme lösbar. Ich...




