Gerigk | Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti | E-Book | www.sack.de
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Gerigk Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti

Grenzgänge ans Nichts
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8233-0467-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Grenzgänge ans Nichts

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Reihe: Ginestra. Periodikum der Deutschen Leopardi-Gesellschaft

ISBN: 978-3-8233-0467-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Nichts stellt eine Konstante in Leopardis Werk dar, deren Darstellung bei Weitem nicht auf die bloße Nennung des ,nulla' beschränkt ist. Es erweist sich als polyvalente Denkfigur, die unter anderem auf Mangel, Abwesenheit, Wertlosigkeit, Zersetzung und Vergehen verweist. Durch eine genaue Betrachtung der unterschiedlichen Nichts-Konzeptionen wird eine gleitende Semantik sichtbar, die im ganzen Werk dynamisch bleibt. Diese entsteht durch die wiederholte Parallelisierung von gegensätzlichen Begrifflichkeiten wie ,Vernunft und Natur', ,Antike und Moderne', ,Dichtung und Philosophie', ,Materie und Geist', ,Leben und Tod', ,Inneres und Äußeres', etc. Dies ist aber nicht die einzige Funktion, die das Nichts in Leopardis Gedankenbewegungen einnimmt: Das Nichts entpuppt sich vielerorts als Orientierungspunkt.

Annika Gerigk, M.A., lehrt italienische und spanische Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk
Die Forschung hat über Jahrzehnte hinweg, in dem Versuch Leopardis Lyrik näher zu kommen, sein Werk anhand von zwei (bzw. drei oder vier) Pessimismus-Phasen eingeteilt. Für diese Einteilung werden hauptsächlich die Verhältnisse ‚Natur und Mensch‘ sowie ‚Natur und Vernunft‘ erörtert. Der Forschungsstand diesbezüglich ist weitestgehend kanonisiert. Dabei geht man davon aus, dass für Leopardis Werk eine beständige Entwicklung hin zu einem intensiveren Pessimismus charakteristisch ist. Wanning fasst diesen Zugang zum Werk unter dem Begriff ‚Entwicklungshypothese‘ zusammen. Die erste Phase wird als pessimismo storico bzw. pessimismo antropologico bezeichnet. In dem Verhältnis Natur und Mensch dominiert eine natura madre. Das Unglück der Menschheit basiert laut Leopardi auf einer zunehmenden Rationalisierung, die den Menschen von der Natur entfremdet: Ein historischer Fehler, der in den Überlegungen teilweise mit dem Sündenfall korreliert. Aus einigen Passagen kann ein finalistischer Weltentwurf gelesen werden, in dem die Natur die Stelle von Gott einnimmt. Klar ist in dieser Phase jedoch, dass der Mensch seinen unglücklichen Zustand nicht aufheben kann, ohne wieder in ein Resonanzverhältnis zur Natur zu treten. Offen bleibt, wie dies zu bewerkstelligen ist, da der Mensch durch die Vernunft handlungsohnmächtig geworden ist. Die mezza filosofia, die Leopardi im Zibaldone ausführt, kann für einen kurzen Zeitraum den Menschen zur Aktion bewegen. Canzonen wie All’Italia, Ad Angelo Mai und Nelle nozze di Paolina handeln von einer Wiedererweckung des Patriotismus in Italien, der das Land wieder zu seiner verlorenen Größe zurückführen soll. Die ‚negative Realität‘, die Leopardi allen Überlegungen gegenüberstellt, zersetzt aber jede Bemühung um einen positiven Ausweg. Es gibt keine einfachen dauerhaften Lösungen. Der Wunsch nach einer ‚Rückkehr‘ in den Naturzustand bleibt eine unerfüllbare Sehnsucht. Mit dieser verknüpft Leopardi eine Gesellschaftskritik: „La natura leopardiana è l’antitesi della società contemporanea.“ Als Einfluss wird in dieser Phase vor allem Rousseau genannt. Demnach entsteht Leopardis anthropologische Theorie aus seinen philosophischen Studien. Timpanaro geht aber davon aus, dass Leopardi das Konzept einer heilsamen Natur hauptsächlich aus seinen Lektüren antiker Literatur entwickelt. Für Janowski ist die erste Phase dadurch gekennzeichnet, dass mit konstantem Bezug zur Antike „elegische, idyllische, lyrische Momente sich zu meditativen und moral-patriotischen [sic!] Themen gesellen“. Leopardi selbst unterscheidet philosophische und poetische Erkenntnis, die sich häufig sogar diametral gegenüberstehen. Die Grenze zur nächsten Phase zieht Janowski 1821, Binni erst nach 1823. Die zweite Phase, der sogenannte pessimismo cosmologico, ist charakterisiert durch die Annahme einer grausamen Natur. Diese vernachlässigt ihre Schöpfung und versagt ihr das Glück, nach dem sie sich sehnt. Das Leben wird jetzt als asymmetrischer Kampf gegen die Natur definiert, da die Natur keinem vorgegebenen Plan folgt, der für die Menschen ersichtlich ist.. Die Mutter Natur wird zur „matrigna“ oder zur „empia madre“, was vor allem im Dialogo della Natura e di un Islandese deutlich wird. Alle Lebewesen müssen permanent an der Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche leiden. Der Mensch – mit seinem antisozialen Wesen – ist auf einen „individualismo esasperato e doloroso che tocca quasi i limiti di un totale anarchismo“ zurückgeworfen. Bei Binni vermischen sich hier die Begriffe pessimismo cosmologico und Nihilismus – „un nichilismo che investe la natura e giunge alle forme di un nichilismo esistenzialistico profondo e ricco di modernissime anticipazioni.“ Leopardis Materialismus führt ihn zu einer Definition der Natur als Kreislauf: „[I]l fine della natura universale è la vita dell’universo, la quale consiste ugualmente in produzione, conservazione e distruzione dei suoi componenti“ [Der Zweck der universellen Natur ist das Leben des Universums, das gleichermaßen aus Herstellung, Erhalt und Zerstörung seiner Komponenten besteht]. Diesem Zyklus unterliegt eben auch der Mensch, der ertragen muss, dass er nicht im Zentrum des Kosmos steht. Später hat Leopardi laut Janowski „[d]en optimistischen Fortschrittsgedanken [seiner Epoche …] mit immer bitterer Schärfe bekämpft und auf dem Boden einer materialistischen Weltauffassung einen Nihilismus des Verstandes entwickelt.“ In dem Augenblick, in dem die Natur negativiert wird, errichtet er neue positive Gegenpole. Die Kunst rückt an die Stelle der Natur. Ebenso die Vernunft, die nicht mehr Schuld hat an dem Leiden der Menschheit und jetzt als möglicher Ausweg in Stellung gebracht werden kann. Durch die Vernunft als Teil des menschlichen Intellekts erhält der Mensch die Fähigkeit, seine geringe Größe und seine Bedeutungslosigkeit im Universum zu erkennen. Durch den Intellekt kann der Mensch dann idealerweise erkennen, dass er in seiner Evolution nur unnützes Wissen erlangt habe. Dann könne er versuchen, die Evolution rückabzuwickeln. Überlegungen zur Rückkehr in eine frühere Form des ‚Seins‘ ziehen sich durch das ganze Werk. Zu nennen sind hier vor allem: Der ‚Urzustand‘ bzw. ‚Vorbewusstseinszustand‘, die Römische Republik oder eine kooperative Gesellschaft wie Leopardi sie in La ginestra beschreibt. Als nächste Radikalisierung wird häufig die Abkehr vom Satz des Widerspruchs – non potest idem simul esse et non esse [etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein] – genannt. Die Grundlage für diese Überlegungen ist erneut die conditio humana: Der Mensch ist für Leopardi ein Widerspruch in sich, da er durch seine Vernunftfähigkeit unglücklich ist, jedoch durch „la cura di preservare la propria esistenza“ [den Selbsterhaltungstrieb], trotzdem fortbesteht. Non si può meglio spiegare l’orribile mistero delle cose e della esistenza universale […] che dicendo essere insufficienti ed anche falsi […] i principii stessi fondamentali della nostra ragione. Per esempio, quel principio, estirpato il quale cade ogni nostro discorso e ragionamento ed ogni nostra proposizione, e la facoltà istessa di poterne fare e concepire dei veri, dico quel principio Non può una cosa insieme essere e non essere, pare assolutamente falso quando si considerino le contraddizioni palpabili che sono in natura. L’essere effettivamente, e il non potere in alcun modo esser felice, e ciò per impotenza innata e inseparabile dall’esistenza, anzi pure il non poter non essere infelice, sono due verità tanto ben dimostrate e certe intorno all’uomo e ad ogni vivente, quanto possa esserlo verità alcuna secondo i nostri principii e la nostra esperienza. (Zib. 4099)   [Man kann das schreckliche Mysterium der Dinge und der universellen Existenz nicht besser erklären, als zu sagen, dass die fundamentalen Prinzipien unserer Vernunft selbst unzureichend und auch falsch sind. Zum Beispiel jenes Prinzip, das, einmal beseitigt, jede Diskussion und jede Argumentation und jeden Satz beendet und die Fähigkeit selbst das Wahre begreifen und bilden zu können; ich sage, jenes Prinzip „Etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein“ erscheint absolut falsch, wenn die spürbaren Gegensätze, die in der Natur bestehen, betrachtet werden. Tatsächlich zu sein und dennoch in keiner Weise glücklich sein zu können und aufgrund einer angeborenen Ohnmacht, die untrennbar mit der Existenz verbunden ist, vielmehr nicht in der Lage zu sein, nicht unglücklich zu sein, sind zwei Wahrheiten, die über den Menschen und jedes Lebewesen so gut bewiesen und gewiss sind, wie alle Wahrheiten nach unseren Prinzipien und Erfahrungen sein können.] Indem Leopardi grundlegende Prinzipien der Logik kritisiert, stellt er die allgemeine Erkenntnisfähigkeit des Menschen in Frage. Das gegenseitige Verständnis innerhalb der Kommunikation ist nicht mehr gesichert, denn er selbst erkennt den Satz als Grundlage für alle Diskussionen und Argumentationen an (siehe Kapitel 6 und 8.6). Die Abkehr bringt Leopardi zwar in die Nähe eines gefährlichen Relativismus, der jedoch durch die Eigenartigkeit von Leopardis Texten keinen Einfluss auf die politischen Bewegungen seiner Zeit hatte. Um die unglückliche conditio humana, die alle Logik aushebelt, zu beschreiben, verweist er auf den Dialogo della Natura e di un Islandese (1824), also auf einen fiktiven Dialog. Hier wird deutlich, warum auch eine Unterscheidung in einen literarischen und einen philosophischen Pessimismus problematisch ist, obwohl Leopardi selbst häufig Anlass dazu gibt, diese Unterscheidung zu treffen: „Questa è conclusione poetica, non filosofica“ [Dies ist die philosophische Schlussfolgerung, nicht die literarische] – wobei derartige Aussagen nicht frei von Ironie sind. Obwohl einzelne Stücke oder Strophen in Gedichten zumeist einer Tendenz zugeordnet werden können, sind...



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