E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
Gernhardt / Maidt-Zinke Toscana mia
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401703-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
(Fischer Klassik PLUS)
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
            ISBN: 978-3-10-401703-7 
            Verlag: S.Fischer
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert Gernhardt (1937-2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011), »Hinter der Kurve« (2012) und »Der kleine Gernhardt« (2017).
Autoren/Hrsg.
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Sommer 1984
Italienisches Fernsehen: Ich sehe eine nackte Frau, die sich im Bett wälzt – dazu der Ton eines Krimis. Ich hatte die Sender falsch eingestellt und wunderte mich über die progressive Darbietung.
Das TV-Nachmittagsprogramm bringt exakt jene fünf Hitzeschocks, die es schon im letzten Sommer am Nachmittag gebracht hat. Auch eine Art, die Zeit anzuhalten.
Und auf dem Tische:
Öl und Wein.
Ein Vogel schlägt. Es quiekt ein Schwein.
Und auf dem Tische:
Öl und Wein.
Ich will nicht mehr der Dumme sein.
Und auf dem Tische:
Öl und Wein.
Schwerelos im Wasser treiben,
nie mehr zeichnen, nie mehr schreiben,
nie mehr lieben, nie mehr hassen,
nie mehr nehmen, nie mehr lassen.
Ha! Das könnte euch so passen!
Heute: Ein Wahnsinniger auf der Straße Cavriglia–Montaio, ein Erwachsener im Mini-Rennwagen, der, während er hoch- und dann runterraste, keinen Blick auf die Straße richtete, da er ständig auf den Geschwindigkeitsmesser schaute.
Idee: Eine Sommergeschichte, deren zeitlicher Ablauf durch eine überfahrene Schlange deutlich gemacht wird, welche der Held zuerst noch intakt (und tot), dann immer platter (und verwesend), dann ganz flach (trockene Haut), dann in einzelnen Teilen erlebt (en passant wahrnimmt), bis die Teile, kaum mehr erkennbar, sich über viele Meter auf der Straße verteilen; nur er, der Sommergast, der jeden Morgen durch den Ort geht, weiß noch, daß das da überhaupt mal eine Schlange war …
Vielleicht als Geschichte einer Verführung – der Held wird angerufen – jemand will ihm Gesellschaft leisten, er wehrt ab – wobei er der eigentliche Verführer ist, da er sie dazu bringt, ihm immer stärker anzuhängen, ohne irgend etwas von ihm zu haben: Frauen zu Schuld und Unzucht zu verführen, ist einfach, der Fortgeschrittene verführt zu Unschuld und Zucht.
Das Knacken der trockenen Oleanderblätter unter den Sandalen.
Abends: Die festlichen Parallelschatten der Weinreihe vor dem Weizenfeld.
Das Reißen von trocknenden Pinienzapfen auf dem Tisch unter den Arkaden.
Die Wollwürmer der Maronenblüten, die am Straßenrand liegen.
Im Café (draußen) sitzen an einem heißen Sommerabend und den halbnackten Italienerinnen zusehen, im Bewußtsein, keine beschlafen zu wollen.
Der Ärger über einen geparkten, laufenden Rover – und das Erstaunen darüber, dann dessen Abfahrt gar nicht bemerkt zu haben.
Ein altes Paar, das sich küßt.
Sommergeräusch: Das Knacken irgendwelcher Springbohnen, allgegenwärtig (Rundum-Stereo) und doch nie sichtbar – jedenfalls für einen Bären ohne viel Geduld wie mich.
Eidechsen, die sich ineinander verbeißen,
Eidechsen, die wie Schmuckstücke auf dem Orcio sitzen.
Eidechsen, die Mauern hoch- und runterlaufen und sich bei Gefahr mit schwerem Aufschlag fallen lassen.
Eidechsen, die sich jagen.
Die rudernden Vorderbeinbewegungen der Eidechsen.
Heute, am 19. 7. 84, habe ich zweierlei das erste Mal in meinem Leben gemacht – und das meint zugleich auch, zwei Tätigkeiten erlernt: Wein mittels eines Schlauchsystems von der »damigiana« in kleinere Flaschen umfüllen und die Flaschen verkorken. Das Schlauchsystem heißt BAF 2000 Ferrari. Und die Verkorkmaschine heißt Superstar 84.
Auf der Straße ein überfahrener Igel, auf der Rückfahrt sah ich ihn von vorne, ein sehr obszöner Anblick, die Beine gewaltig gespreizt und schon etwas aufgebläht. Blut und Fliegen.
Am See dann: eine Ringelnatter im üblichen Gebüsch, ziemlich klein, als sie sich zurückzog, fiel ihr Schwanzende ins Wasser, sie zog es unendlich langsam heraus – ein Schwalbenpaar, das immer wieder die Bauchfläche ins Wasser tunkte, sich wohl auch zur Gänze mit Wasser bestäubte, bis die Rückenfedern feucht und aufgestellt waren –, eine Kröte, die langsam am Seeufer entlangpaddelte, eine Kröte, keine Frage, da ein Frosch in ihrer Nähe Vergleiche ermöglichte: der Kopf stumpfer, dann die Warzen, die Erdfarbe, vor allem aber die goldenen Augen, noch viel goldener als die des Frosches, eine unglaubliche Farbe – das Wasserhuhn, das jetzt, da die Jungen aus dem Gröbsten raus zu sein scheinen, sich unbefangener zeigt; fast einen Monat lang ahnte ich die Vögel nur, da ich zwei-, dreimal einen Schrei gehört hatte, der nicht von einem Frosch stammen konnte.
Die schlafende (atmende) verdauende Ringelnatter.
Die vielen blauen Falter: viel von allem.
Hirschkäfer-Jahr: Eben, auf dem Weg, sah ich drei gleichzeitig in der Luft, gegen den geröteten Himmel, ich hätte sie mit der Hand aus der Luft schlagen können, so dicht standen sie vor mir, die Chitin-Flügel reglos ausgestellt, die Flug-Flügel in rasender Bewegung.
Am See: Vater + Sohn, leiser Neid (Vater führt Sohn in die Welt, hier: das Angeln ein), der sofort erlosch, als der Sohn wegen der Angel ein schreckliches Gequäke anhob. Dieweil saß der Vater stumm und leidend auf einem Baumstamm.
2. 8. 84: Heute sah ich meinen ersten Iltis – etwa 15 Minuten lang, am Weg vom See zur Straße. Ein erstaunlich angstfreies und unruhiges Tier – es hüpfte dauernd im Kreise und wühlte laut raschelnd im Unterholz. Zwei-, dreimal überquerte der Iltis vor mir den Weg.
An der Wand mit der Glühbirne: Der Abend, an welchem ich vom Restaurant zurückkehre und vorher bereits das Licht eingeschaltet hatte. Die Wand wimmelt von Ameisen, die sich an einigen Stellen ballen – dort haben sie offensichtlich Falter getötet, die sie nun in Einzelteile zerlegen.
Die schiefen Schatten der Steine im Kunstlicht, das Gewimmel der Ameisen – die glänzenden Chitinpanzer – sich ständig verdichtender und auseinanderlaufender Kaviar.
Viel: Viele Glühwürmchen (!), viele Quappen, viele Frösche, viele Grillen, viele Falter, die von den Fledermäusen weggeputzt werden, viele Hirschkäfer, viele Ameisen (sowieso), viele Mauersegler, viele Schlangen.
Die Falter, die langsam verschwinden – von den Ameisen aufgelöst.
Die Ameisen, die langsam vom Tisch Besitz ergreifen.
Die Natur übernimmt das Haus: Die Tausendfüßler, die Spinnen, die Ameisen, die Made, die über den Tisch kriecht.
Die Dusche entläßt immer häufiger Luft, setzt dann wieder voll ein.
Der Strahl wird dünn. Blick in die Zisterne – fast leer. Pumpe läuft ständig. Sicherung ausschalten.
Die Versuche, jemanden von der Comune zu bekommen. Maremmi, der sich der Sache annehmen will.
Nächster Tag: 8 Uhr 20 ist M. bereits beim Capannone gewesen, er füllt vor seiner Capanna gerade Bohnen in Flaschen. Mittlerweile hat sich die Zisterne etwas gefüllt.
Um 12 Uhr 20 kommen Techniker – ein schlanker, grauhaariger, ein untersetzter, krausköpfiger. Blick in die Zisterne – Verzweiflung: Non viene l’acqua, Madonna puttana – Gang zum contatore, Schlüssel vergessen, einer geht zurück – wir (Grauhaariger und ich) warten, Gespräch über die Wassersituation: Zwei Quellen speisen dieses Gebiet, hoch gelegen, bei der Badia – wenn jedoch kein Schnee fällt (und in den letzten Wintern ist kein Schnee gefallen), dann haben sie nicht genügend Kraft – dann wird es zu heiß, um weiterzureden.
Im Verteiler: alles sehr schlicht, Zement und Rohrleitung, eine Zisterne, die allein auf Eisensprossen erreicht werden kann.
Ständig: das Geräusch stark laufenden Wassers. Regelmäßig: die sich einschaltende Pumpe, die für Druck sorgt und sich dann wieder selbsttätig ausschaltet.
Ich klettere auf den Zisternenrand (ca. 2,50 m hoch), der Kühle wegen und um nicht im Weg zu sein. Die Techniker versuchen, unsere Zuleitung aufzuschrauben, um sie mittels einer improvisierten weiteren Leitung mit der Zisterne zu verbinden – des stärkeren Druckes (Gefälle) wegen.
Immer größere Rohrzangen werden geholt – es ist wie in einer Clownsnummer – dann komplizierte Schlauch-Rohr-Verbindungen – dann Rückkehr zur Zisterne: Das Wasser kommt, kommt nicht, man sieht die Hindernisse förmlich vor sich, die sich da immer wieder querlegen.
Ein Techniker schraubt die Zuleitung zur Pumpe ab, läßt Wasser in seine Hand rinnen, zeigt flache Kalkablagerungen.
Ich (und ich weiß, daß es nicht stimmt): Calcio!
Wieder Gejammer und Gefluche: Wenn die Pression nicht ausreiche, das etwa 300 m lange Rohr zu reinigen, müsse es punktuell geöffnet werden, um festzustellen, wo denn eigentlich der Druck nachlasse, etc.
Dann Abfahrt – um fünf. Signor Caselli, der die Zuleitung direkt an den galleggiante angeschlossen hat und befriedigt konstatiert: Die Zisterne ist voll, das Problem gelöst.
Erinnern: Ich auf dem Zisternenrand, den Technikern...




