E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Gerstenberg Obwohl alles vorbei ist
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7317-6227-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6227-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franziska Gerstenberg, 1979 geboren, lebt mit ihrer Familie im Wendland. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Literaturpreise. Ihr erster Roman Spiel mit ihr wurde mit dem Fo?rderpreis zum Lessingpreis des Freistaates Sachsen ausgezeichnet, ihre Erza?hlungen So lange her, schon gar nicht mehr wahr mit dem Sa?chsischen Literaturpreis 2016. Obwohl alles vorbei ist (2023) entstand in Teilen wa?hrend eines Aufenthalts in der Villa Massimo.
Autoren/Hrsg.
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Greta, 2010
Die Dielen, von denen der Lack abgetreten ist, an manchen Stellen mehr, an anderen weniger, die abgetretensten Bretter haben eine ungesunde, bleiche Farbe, Wasserfleckenränder wie gemalte Tiere, und in den Ritzen zwischen den einzelnen Dielen sammeln sich Dreck, Essensreste und, Greta sieht es erst jetzt, auch Legoteile. Sie erkennt ein Signallicht, orange, daneben den abgetrennten, kugeligen Kopf eines Männchens. Was sie noch sieht, wenn sie vorsichtig den Kopf hebt: die hin und her gehenden Beine ihrer Mutter, die den ausgeleierten Trikotrock trägt, den Simon nicht mag. Charlottes Füße stecken in Sandalen mit Korksohlen, die Hornhaut an den Fersen ist bleich wie die Dielen.
Simon läuft nicht herum wie Charlotte, barfuß und ruhig steht er am Herd. Greta hört, wie er den Deckel vom Topf nimmt, umrührt, den Holzlöffel abklopft.
»Vielleicht können wir doch noch verreisen«, sagt Charlotte, »sonst werden die Ferien lang.« Ihre Stimme klingt leicht, sommerlich und etwas verwischt, anders als die Stimme, die sie Greta gegenüber hat.
»Ich rufe mal Steffen an.« Das ist Simon. »Wenn jemand etwas weiß, dann er.«
»Wenn jemand jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt …« Charlotte lacht.
Im Licht, das durch die offene Verandatür fällt, wirbeln strahlende Staubpunkte, die Sonne reicht bis zu Greta, die unterm Küchentisch sitzt. Sie sitzt schon lange hier, eigentlich dachte sie, dass ihre Mutter gesehen hat, wie sie unter dem herabhängenden Wachstuch verschwunden ist. Aber Charlotte scheint Greta vergessen zu haben. Mittlerweile redet sie über den Garten, über die krummen Gurken, die reif werden, und sie macht Pläne.
»Ich hätte gern Erdbeeren. Wenn wir die jetzt pflanzen, können wir nächstes Jahr schon ernten.«
»Kann es sein, dass du letzten Sommer auch Erdbeeren pflanzen wolltest? Oder ist das ein Déjà-vu?«
»Aber wäre es nicht schön? Risotto mit Erdbeeren, Erdbeermarmelade, Erdbeeren mit Zucker und Milch«, sagt Charlotte, während sie aufräumt, Geschirr in die Spüle stellt, mit dem Fuß eine Schublade zuschiebt. Ein Stück Brotrinde fällt herunter, sie bückt sich danach, ohne Greta zu bemerken.
»Heute«, seufzt sie auf, »ist alles gut. Es riecht auch so gut.«
»Wer, ich?«
Ein Glucksen in der Luft, bei dem Greta nicht weiß, zu wem es gehört, draußen vor der Tür zwitschern Vögel. Etwas hat sich verlangsamt in der Küche, Charlottes Füße tasten sich zum Herd vor.
»Ich kann dich noch spüren …« Ihre Stimme, jetzt leiser.
»Wo denn?«, fragt Simon.
»… von heute Nacht.«
Charlottes und Simons Füße verharren nun voreinander, Greta hört ein Rascheln, ein Streifen, Charlotte atmet ein, als hätte sie Schnupfen und wollte die Nase freibekommen – danach sagt Simon, und Greta versteht ihn zuerst nicht, bis der Satz im Nachklang doch noch einen Sinn ergibt: »Zieh mal diesen Rock aus.«
Genau, das hat sie gewusst, den mag er nicht. Sie klemmt die Haare hinter die Ohren, um besser hören zu können, verlagert ihr Gewicht von einer Pobacke auf die andere.
Plötzlich bricht das Rascheln ab. Stille. Jemand flüstert, dann kommen die Korksandalen, ganz schnell … eben waren sie noch dort, jetzt sind sie schon hier, und Charlottes Arm schießt unter den Tisch, um Greta nach draußen zu ziehen.
»Mann, Greta. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht lauschen sollst. Nicht alles ist für deine Ohren bestimmt.«
Und Greta schlägt die Hände über die Ohren, für die nichts bestimmt ist, schlägt die Augen nieder und huscht, sowohl ihren Eltern als auch den Stühlen geschickt ausweichend, zur Tür. Läuft leichtfüßig durch den Flur, dünn, wie sie ist, schon immer ist sie zu dünn gewesen – aber sie findet das gut so, es stört sie nicht. Sie springt durch die Haustür nach draußen, die zwei Stufen hinunter, rennt lautlos durchs Gras ums Haus herum, drückt sich an die Wand, als sie am Küchenfenster vorbeikommt. Und kriecht, sich mit den Ellenbogen vorwärtsschiebend, unter die Veranda.
Von einem Versteck ins andere. Hier kann sie nachdenken über das, was sie gesehen beziehungsweise gehört hat, über das Große, was gestern Nacht war und was vielleicht wieder passieren wird, gleich. Diese besondere Sache zwischen Charlotte und Simon, die Greta begreift, ohne sie wirklich zu durchschauen. Sie liebt den Hohlraum unter der Veranda. Wenn oben die Tür offen steht, was im Sommer fast immer der Fall ist, hört sie jedes Wort, das in der Küche gesprochen wird.
Noch vor wenigen Monaten konnte sie auf den Kieseln sitzen, mittlerweile muss sie den Kopf einziehen und die Schultern beugen. Sie legt sich stattdessen hin, auf den Rücken, blinzelt ins Licht, das zwischen den Verandabrettern durchblitzt. Greta schaut nach links, nach rechts, weiße, graue und braune Steine, an der Hauswand Spinnen und mit Blättern verklebte Haarknäuel, sie stellt sich Charlotte vor, ohne Rock, aber mit den langen Haaren, und fragt sich, ob sie ihre Mutter wohl dazu kriegen kann, am Nachmittag mit Karl und ihr baden zu fahren. Im Kopf macht sie eine Liste von Dingen, die sie sich von Charlotte wünscht. Die guten Tage in der Familie sind voller Pläne.
In der Küche ist es jetzt still. Bestimmt sind Charlotte und Simon nach oben gegangen.
Wieder robbt Greta vorwärts, streckt sich. Die Blechkiste mit ihren wichtigsten Schätzen klemmt zwischen einer der Holzstützen und der Hauswand. Sie fährt mit der Hand über den Deckel, bevor sie ihn öffnet. Da liegen das Schweizer Taschenmesser, mehrere bunte Scherben, der Stift mit der unsichtbaren Tinte, Simons Kompass, den hat sie geklaut, und die Blisterpackung mit der einzelnen Tablette. Die besaß Greta schon, als sie ganz klein war, damals hat sie beim Einschlafen auf die winzigen Plastikbeulen gedrückt, in denen ebenfalls mal Tabletten gesteckt haben müssen, geknistert hat das, geknackt.
Am Nachmittag holt Charlotte Karl vom Kindergarten ab, und Greta steht wartend am Gartentor, denn jetzt will sie fragen. Um ins Spaßbad zu kommen, müssen sie mit der Straßenbahn fahren, sie hat schon die Tasche gepackt. Es ist der erste Sommer, in dem sie auf die Riesenrutsche darf, im vergangenen Jahr war sie noch zu klein und zu leicht dafür.
Simon ist nach dem Essen verschwunden, Greta weiß nicht wohin. Charlotte und Karl tauchen an der Ecke auf, Karl läuft wie immer zwei Meter hinter Charlotte. Seine Windjacke ist bis obenhin geschlossen, obwohl die Sonne scheint. Greta versucht, den Ausdruck auf Charlottes Gesicht zu erkennen, es ist ein guter Tag, nach dem Mittagessen gab es Joghurt und Schokoladeneis, und Greta hat auf Charlottes Schoß gesessen, während sie alle drei ihre Schälchen ausgeleckt haben. Simons Zunge ist die längste. »Guckt mal«, hat Greta gesagt, »das machen wir jetzt immer, das spart Abwasch.« Die abgeleckten Schälchen waren so sauber, als kämen sie frisch aus dem Schrank, Charlottes Bauch zuckte vor Lachen.
Jetzt trägt Greta ihre glitzernden Plastiksandalen, sie knibbelt an einem alten Nagel herum, der rostig und locker im Holzzaun sitzt, sich aber nicht herausziehen lässt, und dann sind Charlotte und Karl endlich bei ihr, und Greta reißt das Gartentor auf und ruft über die Straße: »Können wir ins Spaßbad fahren ich habe schon alles eingepackt Handtücher deinen Bikini sogar die eklige Sonnencreme also können wir bitte sag Ja!«
Sie hat wieder viel zu schnell geredet. Sie merkt es selbst, Charlotte hat kein Wort verstanden, zieht nur die Augenbrauen hoch.
Als sie alle im Vorgarten stehen, stellt Greta die Frage noch einmal.
»O ja!«, ruft Karl.
Charlotte schaut von ihm zu Greta, zurück in Karls strahlendes Gesicht, dann sagt sie: »Geh schon mal rein, kleiner Mann, ich komme gleich.«
Das Strahlen verschwindet, als hätte er es ausgeknipst. Karl lässt die Schultern hängen und schlurft die zwei Stufen hoch.
»Es ist gar nicht so warm«, sagt Charlotte zu Greta.
»Mir ist total heiß, es hat ewig nicht geregnet.«
»Und auch schon ziemlich spät. Ich muss die Küche putzen, außerdem haben wir noch kein Brot da für heute Abend.«
»Wir können doch Pommes essen.«
Manchmal findet Greta es unangenehm, wie gut sie ihre Mutter kennt. Sie sieht in dem Zucken unterm Auge, den angespannten Wangenknochen, wie Charlotte kämpft. Sie will den Kindern den Wunsch erfüllen, hat aber auf der anderen Seite keine Lust; sie war nicht darauf eingestellt, jetzt das Badezeug zusammenzusuchen, die Picknickbox zu füllen, Wasser und Apfelsaft in die Strohhalmflaschen zu füllen …
»Die Tasche habe ich schon gepackt«, wiederholt Greta schnell.
Aber die Enttäuschung steht bereits neben ihr, denn Greta weiß, welches Gefühl gewinnt, wenn Charlotte nicht sofort einverstanden ist. Sie hat es falsch angefangen, sie hätte eher fragen müssen, vielleicht beim Mittagessen.
Genau in diesem Moment schiebt sich wirklich eine Wolke vor die Sonne.
»Siehst du?«, sagt Charlotte und setzt sich auf die obere Stufe, sodass sie genauso groß ist wie Greta. Sie zwinkert. »Was hältst du davon, wenn wir das am Wochenende machen? Dann haben wir mehr Zeit, dann bleiben wir den ganzen Tag. Und heute dürft ihr zur Kiesgrube gehen. Ich finde, da ist es genauso schön.«
Ist es nicht, das wissen sie beide.
»Komm mal her«, sagt Charlotte, öffnet weit die Arme.
Und Greta geht hinein in die Umarmung, verschränkt die Hände hinter Charlottes Hals, drückt die Nase an ihre Haut, bevor sie sich, ohne...




