Gerster | Verlangen nach mehr | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

Gerster Verlangen nach mehr

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-922-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

ISBN: 978-3-85787-922-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Hätte man das nicht bereits beim Betreten des Gebäudes spüren müssen? Ahnen, dass man eine halbe Stunde später als geschasster Geschäftsführer mit Rollkoffer und leerer Laptoptasche die Firma wieder verlassen wird?« Fristlos wird Alber Dillig gekündigt, seine Frau Hanna erfährt anderntags aus der Zeitung vom Tod ihres Liebhabers Maxim. Der Verlust lässt beide straucheln, Hals über Kopf fliehen sie ihr Zuhause: er in die Bündner Berge, sie nach Berlin. An ihren Fluchtorten beginnen die Skurrilitäten: Alber schließt auf einer Alp Freundschaft mit einem Kalb, Hanna hat ein Rendezvous mit Harald, der allein für sie existiert. Maxims Beerdigung führt die beiden und ihre drei erwachsenen Kinder Mia, Lena und Clemens wieder zusammen, doch jeder hat eigene Pläne. »Das ist Literatur, Mia!« Der Deutschlehrer hatte sich von ihrem Manuskript begeistert gezeigt, ein Verlag ist schnell gefunden. Doch schon bald wird ihr Roman von der Wirklichkeit eingeholt. Was ist real, was fiktiv? Andrea Gerster komponiert ein dichtes literarisches Vexierbild. Ihr hintersinniger Roman überrascht mit verblüffenden Wendungen und Perspektivwechseln.

Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat bisher drei Romane, drei Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.
Gerster Verlangen nach mehr jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Dienstag


Am Hang vor ihrem Fenster weidet eine Herde Schafe, mehr Aussicht lässt der Nebel nicht zu. Gegen Mittag wird es aufklaren und der See zum blauen Fleck mutieren, falls der Wetterbericht stimmt. Hanna wollte nie auf dem Land wohnen. Sie schliesst das Fenster. Am Abend wird sie mit einem Karton Lebensmittel in die Stadt fahren und damit die Treppen zur WG ihrer Töchter hinaufkeuchen. Ihr gefällt die Altbauwohnung, ihren Töchtern gefällt nicht, dass sie mit Lebensmitteln ankommt und ihren Besuch nebenbei zur Inspektion von Zimmer, Küche und Kühlschrank benutzt.

Sie hätten es ihrer Mutter verbieten können. Wir sind erwachsen, hätten sie sagen können, oder Einmal Kontrollfreak, immer Kontrollfreak. Hanna fragt nicht, warum die beiden lieber in einer WG wohnen, über die sie sich laufend beschweren, weil sich die Mitbewohner nicht an Regeln halten, an Rauchverbote, Putzlisten und dergleichen, wo sie doch nur gerade zehn Bahnminuten entfernt in ihrem Elternhaus ein grosses Zimmer mit eigenem Bad hätten.

Lena ist Goldschmiedin, Mia bald Lehrerin. Hanna hatte damals im Konvikt des Lehrerseminars gewohnt. Ihre Mutter hatte sie nie besucht, den Geruch der alten Spannteppiche hätte sie nicht ausgehalten. Zwei Toiletten, eine Badewanne und eine Küche für zwölf Personen. Einmal im Monat frische Bettwäsche. Hannas Töchter haben es besser, aber das können sie nicht wissen, denn ihnen fehlt der Vergleich.

Alber hat nicht wie üblich angerufen, fällt ihr ein, dabei muss er seit gestern in Hannover sein. Hanna ist es recht. Bei Pflichttelefonaten geht ihnen der Gesprächsstoff nach kurzer Zeit aus. Früher stellte Alber Fragen, und sie rekapitulierte als Antwort ihren Tag mit den Kindern. Die Schüler der Lerngruppe, der sie Nachhilfe erteilt, interessieren Alber nicht.

Clemens’ Schlafstimme mit dem sonoren Guten Morgen, Mum wird sie vermissen, wenn er in einem Jahr sein Studium aufnimmt und deswegen auszieht. Vielleicht lässt sie den Besuch bei den Mädchen ausfallen, somit fiele auch der Einkauf weg, sie müsste nicht unter die Leute, könnte am Tisch sitzen bleiben bis zum Abend. Das wäre ihr am liebsten.

*

Einzelne schrille Vogelschreie, und plötzlich ist der Tag angebrochen. Hat Alber doch irgendwann in den Schlaf gefunden? Sein Mund ist offen und lässt sich nur mit Mühe schliessen, Schmerzen im Kiefer, die Mundschleimhaut ausgetrocknet. Seine klammen Finger tasten nach der Wasserflasche. Nach dem ersten Schluck ein Ziehen am Knöchel, das Kalb hat sich erhoben, stakst heran. Alber rappelt sich auf, lässt den Rest Flüssigkeit in die hohle Hand rinnen, fragt sich, ob das Tier mit seiner seltsam rauen Zunge überhaupt etwas davon abkriegt.

Bei Gummistiefel-Grossmutter war er nie in die Nähe der Kühe gekommen, hatte als Stadtkind gegolten und wurde deshalb geschont, aber auch ein bisschen dafür bewundert, dass er so bleich und dünn war. Auf dem Hof nebenan lebten vier Kinder, Alber traute sich nur bis zum Gartenzaun, um ihnen beim Ausmisten der Kaninchenställe, Füttern der Hühner oder Spielen zuzusehen. Die Kinder starrten ihn anfangs an und ignorierten ihn dann bald.

Gummistiefel-Grossmutter lebte nicht nur von den sieben Kühen, die sie besass, sondern auch von der Witwenrente. Ausserdem erhielt der geistig behinderte Sohn, der mit auf dem Hof lebte, eine Rente, und das ergab für Gummistiefel-Grossmutter ein weiteres Einkommen. Als sie starb, kam er in ein Heim. Mutter kümmerte sich nie um ihren jüngeren Bruder. Auch Matt interessierte sich nicht für ihn. Das hatte vielleicht alles seine Gründe, sagt Alber laut und löst die Seilenden, den Gurt belässt er um den Hals des Kalbes.

Gemeinsam nehmen sie nun den Abstieg in Angriff, warten gar aufeinander oder geben sich gegenseitig Halt. Es geht nur langsam voran, aber nie kommt Alber der Gedanke, er könnte das Kalb sich selbst über lassen. Sie begegnen niemandem, da es noch sehr früh und ausserdem kühl ist.

Gegen Mittag erreichen sie die ersten Häuser des Dorfes. Zuvor haben sie sich an einer ruhigen Stelle am Bach erfrischt, Alber hat das aufgerissene Fell des Kalbes inspiziert und Erleichterung darüber verspürt, dass es nur eine oberflächliche Verletzung zu sein scheint, während das Tier etwas unbeholfen an hellgrünem Klee gezupft hat. Auf der Dorfstrasse hat Alber das Seil wieder am Gurt befestigt. Nun geht das Kalb wie ein wohlerzogener Hund an seiner Seite. Miedi, liest er an einem Haus und dann gleich die Übersetzung Arzt. Alber lässt das Kalb beim Brunnen angebunden warten.

Ein Kalb?, fragt die Praxisassistentin.

Alber nickt und schiebt nach: mit einer Schürfverletzung am Hals.

Er ist froh, dass ihm der Begriff eingefallen ist. Ein Riss im Fell bis zum Hals hinauf ist ihm bis jetzt im Kopf herumgegeistert, und nun ist ihm gerade noch rechtzeitig das Wort Schürfverletzung eingefallen.

Die Frau kommt zurück und sagt: Der Doktor schlägt vor, den Tierarzt in Ilanz aufzusuchen.

Können Sie mir wenigstens etwas zum Desinfizieren geben?, bittet Alber.

Die Frau bedauert: Tiere funktionieren nicht wie Menschen.

Alber trollt sich aus der Praxis und spürt einen Muskelkater wie noch nie, will nur noch schlafen und das Kalb beim Brunnen stehen lassen. Wie soll er denn, bitte schön, ins zehn Kilometer entfernte Ilanz kommen? Das Kalb in das Postauto schieben? Rasch geht er am wartenden Tier vorbei und kann dann doch nicht anders, als zurückzublicken. Er sieht, wie es unbeholfen am Seil ruckt – es hat ihn erkannt! Alber, von Rührung überwältigt, geht zurück, löst den Strick, und zusammen trotten sie weiter.

In der Haustür eines Bauernhofs steht eine junge Frau.

Ich habe auf der Alp ein Kalb gefunden, sagt Alber.

Sie sagt: Schön für Sie.

Möchten Sie es haben?, fragt er.

Sie sagt: Anhand der Plakette am Ohr finden Sie heraus, wohin es gehört. Ist sicher ausgebüxt, ungewöhnlich für ein so junges Kalb.

Alber kontrolliert die Ohren, doch da ist keine Plakette, und die Frau ist bereits wieder im Haus verschwunden.

Vielleicht weiss der Metzger Rat, denkt Alber, doch angesichts der Aktionstafel Heute hausgemachte Kalbsbratwurst fährt ihm der Schreck in die Glieder. Rasch zieht er das Kalb fort, und die Erkenntnis, dass er keinen Plan hat, wie es mit ihm und dem Tier weitergehen soll, entmutigt ihn fast. Ausserdem stellt sich ein merkwürdiges Gefühl ein, es ist, als ob er und das Kalb sich auf der Flucht befänden. Darum, so glaubt er, dürfte es von Vorteil sein, sich möglichst schnell unsichtbar zu machen. Als Rückzugsort und einigermassen sicheres Versteck bietet sich einzig Michaels Wohnung an.

Das Haus scheint noch immer leer zu sein. Mit den drei Treppen können sich Alber und das Kalb Zeit lassen, und diese benötigen sie auch, denn das Tier hat Mühe mit den Stufen. Es versucht, sie einzeln oder dann mehrere im Galopp zu nehmen. Alber ist hinter ihm, fängt es auf, wenn es ausrutscht, schiebt es an, spricht ihm Mut zu. Als sie endlich oben angekommen sind, führt er es auf den Balkon, die Aussicht ist prächtig, aber dafür hat das Kalb jetzt kein Auge, im Gegenteil, es interessiert sich keinen Deut für die schöne Umgebung, sondern beginnt am ganzen Leib zu zittern.

Wir sind erschöpft, sagt Alber mit einer für ihn neuen Zartheit in der Stimme, lässt Wasser in eine Salatschüssel laufen, stellt sie dem Kalb hin, legt eine Wolldecke daneben und kurbelt die Sonnenstore herunter. Er schliesst die Balkontür. Dann geht er sich rasieren und duschen.

Später findet er das Kalb schlafend auf der Wolldecke, und endlich setzt er sich hin und entwirft einen rudimentären Plan. Dann klappt er Michaels angejahrten Laptop auf, neben sich die Notizen für das weitere Vorgehen. Das Hintergrundbild zeigt Tiziana mit einem übermütigen Lachen und in Kletterausrüstung an einer Felswand. Eine Strähne ihrer prächtigen roten Mähne weht in ihr Gesicht, der Rest des Haares ist unter einem Helm verschwunden. Kein Wunder, dass Michael die Berge ohne Gegenwart dieses Lachens nicht mehr reizten.

Alber sucht im Internet nach Informationen zur Aufzucht eines Kalbes. Viel falsch machen kann man nicht, stellt er mit Erleichterung fest. Vollmilch und Heu muss er besorgen und einen Kälberschoppen.

Leise verlässt Alber die Wohnung und mutiert nur Minuten später zu einem Kleinkriminellen, denn er entwendet in einem Kälberschuppen einen Schoppen und lässt ihn im Rucksack verschwinden. Im Dorfladen kauft er Brot und Beutelsuppen für sich und für das Kalb mehrere Liter Vollmilch. Auf dem Rückweg klingelt er beim letzten Bauernhof, und ein Mädchen verkauft ihm einen Strohballen. Der Preis dünkt ihn etwas hoch angesetzt, zudem lächelt das Mädchen beim Abschied verschmitzt. Im Gegenzug lässt Alber, von ihr unbemerkt, eine Rolle Plastikfolie mitgehen.

So beladen, kommt er keuchend in der Wohnung an. Das Kalb ist noch in tiefem Schlaf. Alber wärmt die Milch, rührt die Suppe an, schneidet Brot und öffnet einen Wein. Im Nu nuckelt das Kalb noch im Halbschlaf die Milchflasche leer und lässt sich bereitwillig von Alber von der einen Seite des Balkons auf die andere schieben, damit er die Folie ausbreiten kann. Das Heu verteilt er auf der Hälfte der Fläche, in der Hoffnung, das Kalb möge sich auf der anderen Seite versäubern.

Brot und Suppe schmeckten, Alber fühlt ein Wohlbehagen in sich und kommt sich keineswegs verrückt vor, obwohl dies in Anbetracht der Situation ein naheliegender Gedanke wäre. Die Tür zum Balkon steht offen, er lächelt dem Kalb zu, es scheint zufrieden und keinen Tierarzt zu...


Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat bisher drei Romane, drei Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. www.andreagerster.ch.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.