Gessen | Ein schreckliches Land | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Gessen Ein schreckliches Land


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95988-198-2
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-95988-198-2
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



»Um Russland zu verstehen, müssen Sie dieses Buch lesen.« (The Times) Andrej Kaplan, geboren in Russland, aufgewachsen in den USA, steckt beruflich in einer Sackgasse, und auch privat läuft es mies für den unterbezahlten jungen Literaturdozenten. Als ihn sein Bruder um Hilfe bittet, willigt er spontan ein - und findet sich kurz darauf in Moskau wieder, wo er sich um seine wunderlich werdende Großmutter kümmern soll, eine Frau, die die dunklen Tage des Kommunismus kennt und die rücksichtslose kapitalistische Transformation Russlands hautnah miterlebt hat. Andrej lernt, sich in Putins Moskau zurechtzufinden: Es ist immer noch seine Geburtsstadt, nur mit sehr viel teurerem Kaffee. Er zieht bei seiner überraschend schlagfertigen Großmutter ein, findet einen Ort zum Eishockeyspielen, ein Café mit kostenlosem WLAN und schließlich auch neue Freunde. Als er sich in die schöne Aktivistin Yulia verliebt, steht er schließlich vor einer folgenschweren Entscheidung. »Gessens besondere Gabe ist seine Fähigkeit, sich mühelos und charmant auf große Ideen einzulassen - Macht, Verantwortung, Despotismus verschiedener Couleur, die Schwierigkeit, hehre Ideale im Leben auch tatsächlich umzusetzen - und dennoch eine bewegende, unterhaltsame und menschliche Geschichte zu erzählen.« George Saunders »Ein witziges und sehr einfühlsames Porträt eines Enkels, einer Großmutter und eines komplizierten Landes.« Jewish Weekly »Ich frage mich, wie viele unter Drogen gesetzte Spione, gefälschte Wahlen und politische Morde es noch braucht, bis der Rest der Welt begreift, dass es aus existenziellen Gründen klug wäre, wenn wir Russland etwas mehr konsequente und nuancierte Aufmerksamkeit schenken würden. Ein schreckliches Land bietet eine ausgezeichnete und unterhaltsame Möglichkeit, damit zu beginnen.« The Guardian

Keith Gessen wurde 1975 in Moskau geboren und immigrierte 1981 mit seiner Familie in die USA. Er ist Mitbegründer der literarischen Zeitschrift n+1, arbeitete als Übersetzer und schrieb u. a. für die New York Times, die London Review of Books und den New Yorker. Gessen unterrichtet Journalismus an der Columbia University und lebt in New York. Sein Debütroman »All die traurigen jungen Dichter« erschien 2009 auf Deutsch.

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1. Ich ziehe nach Moskau
Im Spätsommer 2008 zog ich nach Moskau, um mich um meine Großmutter zu kümmern. Sie wurde bald neunzig, und ich hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen. Unsere Familie bestand nur noch aus meinem Bruder und mir; ihre einzige Tochter, unsere Mutter, war vor vielen Jahren gestorben. Jetzt lebte Baba Sewa allein in ihrer Moskauer Wohnung. Als ich anrief und ihr sagte, dass ich komme, schien sie sich zu freuen, wirkte aber auch ein bisschen verwirrt. Meine Eltern und mein Bruder und ich hatten die Sowjetunion 1981 verlassen. Ich war sechs, und Dima war sechzehn, und das war ein entscheidender Unterschied. Ich wurde Amerikaner, während Dima im Grunde ein Russe blieb. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging er sofort zurück nach Moskau und machte ein Vermögen. Seitdem hat er viele Vermögen gemacht und auch wieder verloren; wie es im Moment aussah, wusste ich nicht genau. Aber eines Tages schrieb er mich auf GTalk an und fragte, ob ich nach Moskau kommen könne, um mich um Baba Sewa zu kümmern, weil er für unbestimmte Zeit nach London müsse. »Was willst du denn in London?« »Das erklär ich dir, wenn wir uns sehen.« »Du verlangst von mir, alles stehen und liegen zu lassen, um ans andere Ende der Welt zu fahren, und willst mir noch nicht mal sagen, warum?« Ich war immer sehr schnell gereizt, wenn ich mit meinem älteren Bruder zu tun hatte. Das gefiel mir nicht, aber ich konnte es einfach nicht ändern. Dima schrieb: »Wenn du nicht herkommen willst, dann sag es einfach. Aber ich werde es dir ganz bestimmt nicht auf GTalk erklären.« »Weißt du«, antwortete ich, »man kann die Einstellungen auf vertraulich setzten. Dann sieht es niemand.« »Du bist ein Idiot.« Damit wollte er sagen, dass er es mit einigen echt finsteren Typen zu tun hatte, die sich nicht so leicht davon würden abhalten lassen, seine Chats zu lesen. Vielleicht war es die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Dima bewegte sich diesbezüglich in einer permanenten Grauzone. Was mich anging: Ich war nicht wirklich ein Idiot. Aber ich war auch nicht kein Idiot. Ich hatte vier lange Jahre am College und dann acht noch viel längere Jahre an der Grad School damit verbracht, russische Literatur und Geschichte zu studieren, Bier zu trinken und das Eishockeyturnier um den Grad Student Cup zu gewinnen (fünfmal!). Und anschließend hatte ich mich drei Jahre lang ohne jedes Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt herumgetrieben. Als Dima mich anschrieb, hatte ich alle verfügbaren Postgraduiertenstipendien ausgeschöpft und mich verpflichtet, ein paar Onlinelektionen in der neuen Universitätsinitiative BOMOK – Abkürzung für »bezahlte offene Massen-Online-Kurse« – zu übernehmen, wobei sich der »bezahlte« Teil vor allem auf die Studierenden bezog, die wirklich ziemlich bluten mussten, und nicht so sehr auf die Lehrenden, die nur sehr wenig bekamen. Viel zu wenig, um weiterhin in New York leben zu können, wie sparsam man auch war. Kurz gesagt, wenn es darum ging, ob ich ein Idiot war oder nicht, ließen sich Argumente für beides finden. Dass Dima mir gerade jetzt schrieb, kam so gesehen eigentlich genau zur richtigen Zeit. Allerdings hatte er auch ein Händchen dafür, Leute in etwas hineinzuziehen, das nicht in ihrem besten Interesse lag. Einmal hatte er seinen mittlerweile ehemals besten Freund überredet, nach Moskau auszuwandern und eine Bäckerei zu eröffnen. Bedauerlicherweise lag Toms Bäckerei zu nah an einer anderen Bäckerei, und er hatte Glück gehabt, Moskau lediglich mit einer ausgekugelten Schulter wieder verlassen zu können. Ich ging jedenfalls mit äußerster Vorsicht vor. Ich fragte: »Kann ich in deiner Wohnung wohnen?« Dima hatte damals, nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft 1999, die Wohnung direkt gegenüber meiner Großmutter gekauft. Mich von dort aus um sie zu kümmern wäre ziemlich praktisch. »Die ist untervermietet«, meinte Dima. »Aber du kannst in unserem alten Schlafzimmer in Großmamas Wohnung schlafen. Es ist ordentlich und sauber.« »Ich bin dreiunddreißig«, antwortete ich und meinte damit, ich sei zu alt, um bei meiner Großmutter zu wohnen. »Wenn du dir deine eigene Wohnung mieten willst, nur zu. Aber es sollte in Großmamas Nähe sein.« Unsere Großmutter wohnte im Zentrum von Moskau. Die Mieten dort waren fast so hoch wie in Manhattan. Von dem, was ich mit meinen BOMOKs verdiente, würde ich mir gerade mal einen Schlafsessel leisten können. »Kann ich dein Auto benutzen?« »Das habe ich verkauft.« »Alter! Wie lange wirst du denn weg sein?« »Weiß nicht«, schrieb Dima. »Und ich bin schon weg.« »Oh«, erwiderte ich. Er war bereits in London. Er musste ziemlich überstürzt aufgebrochen sein. Und ich wiederum wollte ziemlich dringend New York den Rücken kehren. Der letzte meiner Kommilitonen aus dem Institut für Slawistik war gerade wegen eines neuen Jobs nach Kalifornien gezogen, und meine Freundin, Sarah, mit der ich ein halbes Jahr zusammen gewesen war, hatte vor Kurzem in einem Starbucks mit mir Schluss gemacht. »Ich weiß einfach nicht, wo das hinführen soll«, hatte sie gesagt und unsere Beziehung gemeint, glaube ich, aber eigentlich hatte sie mein ganzes Leben ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Und sie hatte recht: Selbst das, was mir immer am meisten Spaß gemacht hatte – mich mit russischer Literatur und Geschichte zu beschäftigen und sie zu unterrichten –, bereitete mir kein Vergnügen mehr. Ich steuerte auf eine Zukunft zu, in der ich bis ans Ende meiner Tage halbherzig die halb fertigen Arbeiten von halb interessierten Studierenden benotete. Moskau hingegen war ein ganz besonderer Ort für mich. Es war die Stadt, in der meine Eltern aufgewachsen waren und sich kennengelernt hatten; es war die Stadt, in der ich geboren worden war. Es war eine große, hässliche, gefährliche Stadt, aber zugleich die Wiege der russischen Zivilisation. Selbst als Peter der Große ihr 1712 den Rücken kehrte und nach St. Petersburg ging, selbst als Napoleon sie 1812 plünderte, blieb Moskau, wie Alexander Herzen es ausdrückte, die Hauptstadt des russischen Volkes. »Wie sehr ihnen Moskau im Blut lag, merkten sie an dem Schmerz, den sie spürten, als sie es vergossen.« Ja, das stimmte. Und ich war jahrelang nicht mehr dort gewesen. Im Verlauf einiger Grad-School-Sommer war ich ihrer Armut und ihrer Hoffnungslosigkeit überdrüssig geworden. Die aggressiven Betrunkenen in der Metro; die Schläger in Trainingsanzügen und Lederjacken, die überall herumliefen und einen anstarrten; der Typ, der jede Nacht aus den Mülltonnen neben dem Haus meiner Großmutter aß, als ich im Jahr 2000 den Sommer dort verbrachte, und immer wieder »Wichser!« und »Blutsauger!« schrie, während er sich weiter durch den Müll wühlte. Seitdem war ich nicht mehr dort gewesen. Trotzdem ließ ich die Finger von der Tastatur. Ich brauchte irgendein Zugeständnis von Dima, und wenn auch nur aus Stolz. »Kann ich da irgendwo Eishockey spielen?«, fragte ich schließlich. Im selben Maße wie es mit meiner akademischen Karriere bergab gegangen war, hatte sich mein Eishockeyspiel verbessert. Selbst im Sommer war ich drei Tage in der Woche auf dem Eis. »Soll das ein Witz sein?«, fragte Dima. »Moskau ist ein Eishockeymekka. Überall werden neue Eisbahnen gebaut. Sobald du dort bist, bringe ich dich in einem Spiel unter.« Ich ließ es sacken. »Ach so: Das WLAN-Signal aus meiner Wohnung reicht bis über den Flur«, sagte Dima. »Es gibt kostenloses Internet.« »Okay!«, schrieb ich. »Echt?« »Ja«, sagte ich. »Warum nicht.« Ein paar Tage später ging ich zum russischen Konsulat in der Upper East Side, stand eine Stunde lang mit meinem Antrag in der Hand in der Schlange und bekam ein Jahresvisum. Dann erledigte ich, was zu erledigen war: Ich vermietete mein Zimmer an einen Rockschlagzeuger aus Minnesota, brachte meine Bücher zurück in die Bibliothek und holte mein Eishockeyzeug aus dem Schließfach in der Umkleidekabine der Eishalle. Es war alles ein ziemlicher Aufwand und nicht gerade billig, aber ich dachte die ganze Zeit an das neue Leben, das vor mir lag, und den neuen Menschen, der ich bald sein würde. Ich stellte mir vor, wie ich meiner Großmutter die Einkäufe trug, mit ihr Ausflüge durch die Stadt unternahm, ins Kino ging (sie hatte das Kino immer geliebt), mit ihr Arm in Arm durch die vertraute Nachbarschaft schlenderte und ihren Geschichten über das Leben während des Sozialismus lauschte. Es gab so viel in ihrem Leben, von dem ich nichts wusste, so viel, nach dem ich sie nie gefragt hatte. Ich war gleichgültig und selbstvergessen gewesen; ich hatte mehr an Bücher geglaubt als an Menschen. Ich malte mir aus, wie ich morgens gegen Putin demonstrierte, nachmittags Eishockey spielte und abends meiner Großmutter Gesellschaft leistete. Vielleicht konnte ich sogar das Leben meiner Großmutter als Grundlage für einen Aufsatz nutzen. Ich stellte mir vor, wie ich mit den Geschichten meiner Großmutter in der Hand mönchisch in meinem Zimmer saß und meiner wissenschaftlichen Arbeit eine ganz neue Dimension hinzufügte. Vielleicht könnte ich ihre Erinnerungen als kursive Passagen in meinen Aufsatz einflechten – wie bei In Our Time auf BBC. An meinem letzten Abend in der Stadt schmissen meine Mitbewohner eine kleine Party für mich. »Auf Moskau«, sagten sie und hoben ihre Bierdosen. »Auf Moskau!«, wiederholte ich. »Und lass dich nicht umbringen«, fügte einer von ihnen hinzu. ...



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