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E-Book, Deutsch, 390 Seiten

Getty / Winkelmann / Tuschick Die Zwillinge

oder vom Versuch, Geist und Geld zu küssen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86337-056-5
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

oder vom Versuch, Geist und Geld zu küssen

E-Book, Deutsch, 390 Seiten

ISBN: 978-3-86337-056-5
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwei Mädchen, Zwillinge, hübsch, unzertrennlich, begabt, die 'Sterntaler' genannt. Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom, Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, 'Geist und Geld zu küssen'. Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines Milliardärs. Sie ziehen mit ihm zusammen, aber bald danach wird der junge Getty entführt, ihm wird, um die Zahlung von Lösegeld zu erpressen, das Ohr abgeschnitten, und das Leben der Zwillinge ändert sich über Nacht. Zwischen Amerika und Europa begeben sich die beiden Frauen, Sucherinnen, auf verwegene Reisen - von einem Abenteuer zum anderen, von einer Herausforderung zur nächsten, getrieben von der Sehnsucht, sich ausschweifend endlich selbst zu finden. Dieses Buch erzählt ein Leben, das sich ein Romancier nicht hätte ausdenken können, erzählt von der Macht und Tragik des Zwilling-Seins und davon, dass es von der Hölle zum Himmel und umgekehrt nicht weit ist.

Die Zwillingsschwestern Gisela Getty und Jutta Winkelmann, geboren Ende der vierziger Jahre in Kassel, leben heute beide in München. Sie arbeiten dort als Filmemacherinnen, Fotografinnen, Designerinnen und Schriftstellerinnen. Jamal Tuschick, geboren Anfang der sechziger Jahre in Kassel, lebt seit 1987 in Frankfurt am Main. Er ist Journalist und Schriftsteller, Autor von drei Romanen, zuletzt 'Bis zum Ende der B-Seite'.
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1


Ein Tag am Meer – Die Vision


Gisela und ich haben vor, am Strand zu schlafen. Wir nehmen ein paar Tücher mit, viel brauchen wir ja nicht. Die Nächte sind warm.

In Sperlonga steht nur ein Gebäude dicht am Meer, eine alte weiße Villa, mit einem riesigen Tomatenfeld als Vorgarten. In der Dämmerung greifen wir durch den Zaun und angeln Gemüse. Abendbrot und Vorrat. Wir schwimmen zu den Klippen, bevor es ganz dunkel wird. Wir ernten Muscheln. Ganz leicht ist das nicht, das Meer spielt ruppig mit den Felsen. Eine Zitrone haben wir schon am Spätnachmittag gepflückt. Hier wachsen überall wild Zitronen und Oliven. Zwischen antikem Schrott und wie von Gram gebeugten, windschiefen Nespolibäumen wächst Salbei. Hinter dem seit Anbeginn der Welt existierenden Ort scheint die Welt aufzuhören. Wir fühlen uns wie angeschwemmt, ein bisschen wie zu Besuch auf einem besonders rückständigen Planeten. Mit all den Rudimenten niedergegangener Kulturen wirkt unsere Umgebung wie ein Freilichtmuseum und auch wie die schiere Wildnis. Man fühlt sich zivilisationsfern und zugleich als Fährtenleser der Geschichte.

Wir wollen heute nicht mehr viel essen, wir möchten leicht in den nächsten Tag gehen. Es soll ein besonderer Tag werden.

Schweigend liegen wir nebeneinander und überlassen uns der Betrachtung einer natürlichen Prachtentfaltung. Wir sind eingeschüchtert von der ganzen, so wollen wir das sehen, mystischen Erhabenheit der Leuchtkörper am nächtlichen Himmel. Das ist alles sehr effektvoll arrangiert vom großen Beleuchtungsmeister Mister Big, auch Gott genannt und von uns einst Herr Göttle. Ich bringe die Nacht mit einem dunklen Gewand in Verbindung und mit leichter Melancholie, die zum Stummbleiben Anlass gibt. Wir finden dann aber doch noch Gelegenheit, uns in unserem Entschluss zu bestärken, mit dem nächsten Sonnenaufgang aufzustehen, gemeinsam zu schwimmen und dann unseren ersten gemeinsamen Acidtrip zu starten.

Ich werde vor Gisela wach und sehe sie eingerollt wie eine kleine Schmetterlingspuppe auf dem weißen Sand liegen. Die Sonne behält ihre Kraft noch für sich. Später wird sie damit den Strand leer fegen und alle in den Schatten treiben, mit Ausnahme einiger Skarabäen.

Gisela erwacht. Sie friert und will nicht ins Wasser. Wir hocken zusammen und teilen die letzte Tomate. Dann packt uns aber doch die Lust zu baden, und wir rennen ins Wasser.

Außer uns ist kein Mensch am Strand. Wir beschließen, mit freier Brust auf die Reise zu gehen. Doch dann macht sich ein Landarbeiter am Zaun des Tomatenfeldes zu schaffen. Ungeschickt kaschiert er sein Interesse an weiblicher Schönheit. Wir bedecken uns hawaiianisch mit einem Vorhang aus Sandblumenblüten. Der Mann zieht Leine und wir lösen unsere Tickets am Gaumenschalter ein. Wir sind bereit, gemeinsam in ein geheimes Reich des Geistes einzutreten.

Ich habe erstmal nur einen Metallgeschmack im Mund. Wir frösteln einvernehmlich und strecken uns am Wasser aus. Plötzlich fängt der Sand an zu leuchten, jedes Korn leuchtet. Ich kann also jedes Korn einzeln sehen, aber nicht wie unter einer Lupe. Vielmehr offenbaren mir die Körner ein wunderbares Eigenleben. Sie verraten mir, dass sie sich als Sand nur ausgeben, in Wirklichkeit jedoch vor Energie pulsierende Wesen sind und vielleicht auch Diamanten. Am Himmel ziehen direkt aus dem Nirgendwo Wolken auf, selbstverständlich so weiß wie Schnee. Auch sie entpuppen sich und stellen sich mir dar als Göttergestalten, die sich nun paaren, so lustvoll wie feierlich.

„Siehst du das auch?“ frage ich Gisela. Die Worte bilden auf meinem Lippenrand Blasen. Die Blasen schweben, Lichtperlen gleich, zu meiner Schwester. Sie haben ihren eigenen Atem, der wie eine göttliche Melodie klingt oder wie Meeresrauschen.

Mit geschlossenen Augen belausche ich mein Herz. Ich höre auch Giselas Herz schlagen, es hat den gleichen Rhythmus. Ich dehne mich aus, alles fällt mir zu und landet in mir, die ewigen Töne der Welt sind in mir, der pulsierende Strand, die Wolken, das Meer, die ganze Welt.

Ich schaue direkt in die Sonne, ohne mit einem Wimpernhaar zu zucken. Das Licht ist in mir und es spricht, wenn auch nicht mit Worten. Es sagt mir geheime Dinge, die ich sofort begreife … die ich bin. Das Licht spricht, du bist das Licht. Ich bin das Licht und ich schaue in die Sonne, die immer heller wird und in meinen Augen wohnt. Ich schließe die Augen und alle Dunkelheit ist verflogen.

Ich betrachte Gisela. Ich sehe sie in ihrer unfassbaren Schönheit und weiß, dass ich nur sie liebe. Auch ihre Augen haben die Welt aufgenommen. Gelassen lagert sie auf dem leuchtenden Sand, die Frau aller Frauen, das ewig Weibliche … unendlich gelassen. Sie ist Krishnas Gemahlin, angetan mit überirdischen Preziosen und mit mystischen Zeichen bemalt.

Licht überflutet uns. Ich bin … wir sind aufgehoben in der Ewigkeit. Und Ewigkeit, das ist Liebe, Schönheit, Gott. Ewigkeit ist absolute Stille. So trete ich denn vor Gott.

Es gibt mich nicht mehr.

Ein leises Rauschen tritt ein in meinem Bewusstsein. Das Meer lässt sich mit seinem Walgesang vernehmen. Ich oder das, was von mir übrig geblieben ist, schaut sich erstaunt um. Weinend und lachend laufe ich ins Meer.

Gisela: Ich beobachte meine Schwester. Langsam geht sie ins Wasser, der Wellengang stockt in meiner Wahrnehmung. In einem Augenblick halte ich eine Erstarrung bis in alle Ewigkeit für wahrscheinlich. Zugleich erscheint mir der Kosmos gerade besonders lebendig. Ich sehe ihn pulsieren. Eine Aureole schließt Jutta ein; ihre schmale Figur leuchtet. Sie erscheint transparent. Mein Zeitgefühl kommt mir abhanden. Wortlos lässt mich Jutta wissen, dass es schon immer so war, dass alles das wahr ist, im Gegensatz zu dem Trashfilm, den man gewöhnlich Wirklichkeit nennt. Geburt und Tod sind eine Illusion. Wir werden nicht geboren und wir sterben nicht. Unser Alltagsbewusstsein zeugt furchtbare Schleier, die jeden blind und ängstlich in die Welt sehen lassen. Nun entdecke ich die wahre Gestalt meiner Schwester. Sie oszilliert in ihrer Schönheit und in ihrer Liebesbereitschaft. So kann nur ich sie sehen. Ich löse mich auf in reinem Schauen, ich zerfalle zu Staub, werde eins mit dem Sand, auf dem ich liege. Auch das war schon immer so, wie es mich auch immer schon gab, dieses unfassbar schöne, leuchtende Wesen. Ein Rätsel löst sich auf: In Wahrheit gibt es weder Schmerz noch Vergänglichkeit.

Wir sind Entkommene. Die Tentakel der Malavita können uns nicht mehr erreichen. Fast gestorben sind wir in Arturos Kammer: vor Lichtjahren. Endlich sind wir in der Wahrheit angekommen. Gott zeigt sich uns. Der Anblick meiner Schwester offenbart mir meine eigene Göttlichkeit, meine Schönheit, meine Liebe. Nichts weniger.

Jutta betrachtet mich. Sie hebt ihre Hand. Von ihren Fingerspitzen gehen Strahlen aus und verweben sich. Unter diesem Muster kommt das Meer wieder in Gang. Keine Spur hinterlässt Jutta auf dem Weg zu mir. Mir gegenüber lässt sie sich nieder. Gemeinsam lösen wir uns auf. Wir sind nur noch liebende Atome. Alles fließt über … heilig sind die Bäume, ist jedes Korn … und jedes Korn ist mit jedem Baum verbunden. Ich bin ebenso ruhig wie erschüttert … und endlich jenseits von Zeit und Raum.

Jutta bewegt eine Hand, ein Strahl folgt ihr, nein, die Hand ist der Lichtkern, wir sind jetzt in Indien und spielen als Götterkinder mit Göttern. Unsere Freude verwandelt sich in Perlen, die uns vor die Füße fallen.

Jutta steht an einem Jadebrunnen, wir beide tragen schwarze Schleier. Ihre Hand taucht in Wasser ein. Sie sagt, ohne eine Lippenbewegung: „Das sind die Tränen der Welt.“

Ich weiß Bescheid. Wir gehen durch einen Hof mit drei Toren aus sandfarbenem Marmor. Ich erinnere mich schwach, mal gehört zu haben, dass man auf Acid besser nicht zu lang in die Sonne schaut. Ich schaue trotzdem unentwegt in die Sonne, bis ich bemerke, dass ich in Juttas Augen schaue. Mein Herz bleibt stehen. Vielleicht sagt sie so etwas wie: „Ich bin dein Licht.“

Schon bin ich nicht mehr sicher, ob ich mich vielleicht nur selbst betrachte.

Im Lotussitz sitzen wir einander gegenüber. Wir berühren uns ganz leicht, kurz davor, uns in einem Atemzug aufzulösen. Plötzlich fasst Jutta an ihre Nase: „Dir läuft ja der Rotz.“

Er tropft in Eidechsenfarben auf meine transparente Haut.

Die Kinder Gottes übernachten wieder am Strand. Seine auserwählten Lieblingskinder, um genau zu sein. Ich liebe meine Schwester, sie sagt Worte von großer Weisheit. Wir reden leise. Unsere Liebe füreinander und für das Leben löst eine Welle aus; ich laufe über vor Rührung. Darüber lachen wir unbändig, eingehüllt vom Samt der Nacht.

Jutta leuchtet immer noch, ich möchte sagen, ein Licht geht von ihr aus … und auch von mir geht Licht aus. Wir sind zwei Leuchtkörper mit einer Mission auf diesem Planeten. Die Lehren Buddhas sowie die Lehren aller Heiligen haben...


Die Zwillingsschwestern Gisela Getty und Jutta Winkelmann, geboren Ende der vierziger Jahre in Kassel, leben heute beide in München. Sie arbeiten dort als Filmemacherinnen, Fotografinnen, Designerinnen und Schriftstellerinnen.

Jamal Tuschick, geboren Anfang der sechziger Jahre in Kassel, lebt seit 1987 in Frankfurt am Main. Er ist Journalist und Schriftsteller, Autor von drei Romanen, zuletzt "Bis zum Ende der B-Seite".



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