PROLOG
Devon Hamilton-Zemaitis war eine schöne Frau. Dass sie tot war, änderte nichts daran.
An einem trostlosen, wolkigen Freitagnachmittag waren sich alle in der Grace Baptist Church, Ecke Thirty-first und Elm, einig, dass Devon eine gut aussehende Leiche war. Sogar noch als Tote war sie hinreißend, elegant und beneidenswert – lauter Eigenschaften, auf die ihre Mutter bei der Erziehung immer sehr viel Wert gelegt hatte. Sie lag ganz friedlich im blassrosa Satin ihres Mahagonisargs, und das gedämpfte Licht leuchtete in ihrem aschblonden Haar und umschmeichelte ihr glattes Gesicht, das dank eines jahrelangen strengen Hautpflegeprogramms und Botox makellos war. Zarte Tätowierungen umrandeten ihre Augen und schattierten ihre Lippen, und Oscar Seinger vom Bestattungsinstitut Seinger and Sons hatte hervorragende Arbeit geleistet und die klaffende Wunde links an der Stirn und die Beule am Kopf perfekt kaschiert.
Als ihre Freundinnen und Klubkameradinnen aus der Junior League am Sarg defilierten, weinten sie ein paar Tränen in mit Monogrammen bestickte Taschentücher und dankten dem Herrn, dass es Devon gewesen war und nicht sie, die das Stoppschild an der Kreuzung Vine und Sixth überfahren und einen Wilson-Brothers-Müllwagen gerammt hatte.
Ausgerechnet einen Müllwagen, dachte Meme Sanders entsetzt, als sie auf ihre Freundin seit der ersten Klasse herabblickte. Kein sehr würdevolles Ende, aber mal wieder typisch Devon, mit ihrem Chanel-Kostüm aus Boucle-Tweed und den Mikimoto-Perlen dabei so gut auszusehen.
Ausgerechnet einen Müllwagen. Genevieve Brooks tupfte sich die Augenwinkel und verbarg ein leises Lächeln hinter ihrem Taschentuch. Noch am selben Tag, als Devon dagegen gestimmt hatte, Lee Ann Wilson in die Junior League aufzunehmen, hatte sie ein Müllwagen der Wilson Brothers aus dem Weg geräumt. Genevieve fragte sich, ob sich außer ihr noch jemand dieser herrlichen Ironie bewusst war. Natürlich sah Devon wunderschön aus, musste Genevieve zugeben, als sie auf die Frau herabblickte, die sie schon seit ihrem ersten »Little Miss Sparkle«-Schönheitswettbewerb kannte. Devon wäre lieber gestorben, als – nun ja – tot auszusehen, und Genevieve fragte sich, ob Devon die zum Kostüm passenden zweifarbigen Chanel-Pumps trug oder ob man wirklich ohne Schuhe begraben wurde.
Ausgerechnet einen Müllwagen. Cecilia Blackworth Hamilton Taylor Marks-Davis weinte in das Revers des Brooks-Brothers-Anzugs ihres neuesten Ehegatten. Ihr kleines Mädchen von einem Müllwagen getötet? Wie grauenvoll! Erst zweiunddreißig und schon tot. Was für eine Vergeudung einer schönen Frau und eines schönen Lebens. Wenigstens hatte ihr Ehemann dafür gesorgt, dass sie gut aussah, auch wenn weißer Boucle eigentlich schon wieder out war.
Cecilia warf einen Blick auf ihren Schwiegersohn und ihre Enkelin. Das arme Ding klammerte sich an seinen Daddy und vergrub das Gesicht in seinem maßgeschneiderten schwarzen Anzug. Cecilia hatte Zachary Zemaitis nie gemocht. Hatte nie verstanden, warum Devon so erpicht darauf gewesen war, ihn zu bekommen. Natürlich sah er gut aus, aber er war einfach so... männlich. Dieser muskulöse Oberkörper, diese kräftigen Arme! In Gegenwart von Männern, denen lupenreines Testosteron durch die Adern floss, hatte Cecilia sich noch nie wohl gefühlt.
Ausgerechnet einen Müllwagen. Um Gottes willen! Zach Zemaitis saß in der vordersten Kirchenbank, den Arm tröstend um seine zehnjährige Tochter gelegt. Devon hätte das gehasst, und Zach war überzeugt, dass seine Frau, wo immer sie jetzt auch war, einen Riesenaufstand machte...
»Ausgerechnet einen Müllwagen«, beschwerte sich Devon Hamilton-Zemaitis bei dem Toten, der hinter ihr in der Schlange stand. Er hatte so schlechte Manieren, die Augen zu verdrehen.
»Gute Frau, wir haben alle unsere Probleme«, gab er zurück. Devons Meinung nach bestand das größte Problem des Mannes darin, dass seine Familie ihn in einem billigen Anzug beerdigt hatte. Wahrscheinlich von JCPenney.
Devon erschauderte, so wie es sich für eine Dame gehörte. Wenigstens hatte Zach sie die Reise in den Himmel im Chanel-Kostüm und mit ihrer besten Perlenkette antreten lassen. Auch wenn Boucle im Grunde schon wieder out war und sie ihre dazu passenden zweifarbigen Pumps vermisste. Sie blickte auf ihre nackten Füße, die unter weißen Wolkenschwaden verschwunden waren. Sie hoffte doch stark, dass Zach ihre Sachen nicht für die Junior-League-Auktion spendete, sonst landeten die Chanel-Pumps noch bei Genevieve Brooks. Genevieve hatte Devon schon seit ihrem ersten »Little Miss Sparkle«-Schönheitswettbewerb beneidet, und Devon hasste die Vorstellung, dass Genevieve ihre großen, knochigen Füße in diese schönen Schuhe zwängte.
Ohne einen Schritt zu machen, bewegte sich Devon in der Schlange nach vorne. Es war ein sonderbares Gefühl, vorwärtszugleiten wie auf einem unsichtbaren Fließband. Aber tot zu sein, war eben sonderbar. Eben noch war sie nach Hause gerast, um Zach zur Rede zu stellen, und im nächsten Moment war sie von einem weißen Licht aufgesaugt worden und an einem Ort ohne jegliche Materie gelandet. Ihrer Schätzung nach stand sie seit etwa einer Stunde in der Schlange, vielleicht auch seit zwei, aber das konnte nicht stimmen. Ihr Unbewusstes sagte ihr, dass es eine Beerdigung gegeben hatte und dass sie in ihrem weißen Kostüm begraben worden war. Seit dem Unfall mussten vier oder fünf Tage vergangen sein, aber wie war das möglich?
Sie dachte an ihr kleines Mädchen und verspürte ein sonderbares Gefühl in der Brust. Es war kein richtiger Schmerz, wie damals, als sie noch am Leben war. Eher ein angenehmes, warmes Kribbeln voller Liebe und Sehnsucht. Was sollte aus ihrer armen kleinen Tiffany werden? Zach war ein guter Vater, wenn er mal zu Hause war. Was nicht oft vorkam, und ein Mädchen brauchte seine Mutter.
Sie glitt weiter vorwärts und kam vor einem riesigen goldenen Tor an einem hochragenden weißen Pult zum Stehen. »Endlich«, seufzte sie erleichtert.
»Devon Zemaitis«, brummte der Mann hinter dem Pult, ohne den Mund zu öffnen oder auch nur von der Schriftrolle vor ihm aufzusehen.
»Devon Hamilton-Zemaitis«, korrigierte sie ihn.
Endlich blickte er auf, und in seinen Augen spiegelten sich die weißen Wolkenschwaden. Auf einen teilnahmslosen Wink hin erschien eine ältere Frau, die ihre Haare in einem strengen Knoten trug und ein lavendelfarbenes Kostüm mit Goldknöpfen anhatte.
»Mrs. Highbanger?«
»Highbarger«, korrigierte ihre Lehrerin aus der sechsten Klasse sie grimmig.
»Seit wann sind Sie denn tot?«
»Nach menschlicher Zeitrechnung seit fünf Jahren, aber ein Tag beim Herrn zählt tausend Jahre, und tausend Jahre zählen als ein Tag.«
Devon hatte das Gefühl, wieder die Schulbank zu drücken und Mrs. Highbargers endlosem Geschwätz über Brüche zuzuhören. »Was?«
»Gott setzt die Tage nicht fest wie der Mensch auf Erden.«
»Ach so.« Das erklärte vermutlich auch, warum sie das Gefühl hatte, erst seit einer Stunde tot zu sein. »Dann sind Sie hier, um mich in den Himmel zu holen?«, fragte sie, bestens gerüstet, vor Gott zu treten. Sie hatte ein paar Fragen an ihn. Wichtige Fragen. Zum Beispiel, warum er Katastrophen wie Cellulitis, Ballenzehen und brüchige Haarspitzen zuließ. Und danach würde sie Antworten auf die größten Rätsel des Lebens verlangen, zum Beispiel, wer J. F. Kennedy erschossen hatte und -
»Nicht ganz«, unterbrach Mrs. Highbarger Devons Liste für das Frage-Antwort-Spiel mit Gott.
»Was?« Sie musste sich verhört haben. »Ich komme doch in den Himmel, oder?«
»Während deiner Zeit auf Erden hast du dir deinen Platz im Himmel nicht verdient.«
»Ist das ein Scherz?«
Statt zu antworten, glitt Mrs. Highbarger ohne ihr Zutun vorwärts, und Devon wurde hinter ihr hergezogen.
»Verdient hab ich eine Menge! Ich hab mehr Geld aufgetrieben als alle anderen in der Junior League. Meine Benefizveranstaltungen waren immer die tollsten.«
»Du hast anderen nur geholfen, um dir selbst zu helfen, damit dein Foto auf der Gesellschaftsseite erschien und du deine Freundinnen rumkommandieren konntest.«
Wen kümmert’s?, dachte Devon.
»Gott«, antwortete ihre alte Lehrerin.
»Sie können meine Gedanken lesen?«
»Ja.«
Scheiße.
Genau.
Sie glitten wie auf einer unsichtbaren Rolltreppe abwärts, und Devon verspürte den ersten Anflug von Panik. »Ich komme doch nicht in die Hölle? Zu Satan in eine Feuergrube?«
»Nein.« Mrs. Highbarger erschauderte. »Du kommst in einen Raum irgendwo dazwischen, wo jeder seine eigene Vorstellung von der Hölle hat.«
Devon musste an Genevieve Brooks denken, wenn diese das Protokoll der Junior-League-Treffen verlas, und verspürte dabei leichte Kopfschmerzen. Bis in alle Ewigkeit Genevieve zuzuhören, wäre für sie die Hölle.
»Weil der Herr voller Liebe ist, wird dir die Chance gewährt, dich hochzuarbeiten.«
...