Giddens | Wandel der Intimität | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Giddens Wandel der Intimität

Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-561085-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-10-561085-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit der 'sexuellen Revolution' der siebziger Jahre ist das Thema Sexualität in aller Munde. Der Feminismus und das Coming-Out der Homosexuellen haben die tradierten Geschlechterrollen ebenso in Frage gestellt wie die sexuelle Moral. Trotzdem gelten Sex, Liebe und Erotik immer noch als ausschließlich private Bereiche. Der Wandel der Intimität, so zeigt Giddens, betrifft aber ebenso wie unsere ganz persönlichen Beziehungskrisen die Demokratie unserer modernen Gesellschaften. Dieser Wandel geht nicht etwa, wie Konservative behaupten, in die Richtung immer größerer Permissivität und ungehemmten Sex mit möglichst vielen Partnern. Vielmehr entwickeln sich unsere Liebesbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen hin zu mehr Partnerschaft und Gegenseitigkeit. 'Demokratie', dafür plädiert Giddens’ umfassende Analyse, ist daher nicht nur eine politische Forderung, sondern ein Schlüsselbegriff für die neue Partnerschaftlichkeit im privaten Leben.
(Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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1. Alltägliche Erfahrungen, Beziehungen, Sexualität
In seinem Roman Als sie mich noch nicht kannte stellt Julian Barnes das Schicksal eines gewissen Graham Hendrick dar, eines Historikers, der seine Frau verlassen hat, um eine Beziehung mit einer anderen Frau einzugehen. Am Anfang des Romans ist Graham in den späten Dreißigern, seit 15 Jahren verheiratet und spürt schon in der Mitte seines Lebens, »wie es bergab ging«. Auf einer ansonsten eher trüben Party trifft er Ann, die einmal als Filmschauspielerin gearbeitet hatte und nun Modeeinkäuferin ist. Aus irgendwelchen Gründen rührt beider Begegnung in ihm kaum mehr erwartete Gefühle von Hoffnung und Erregung auf. Er fühlt sich, »als sei eine lang abgerissene Verbindung zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Ich plötzlich wiederhergestellt worden«, und er »traute sich wieder Verrücktheiten und Idealismus zu«. Nach einer Reihe von heimlichen Treffen, die zu einer ausgewachsenen Affäre führen, verläßt Graham Frau und Kind und fängt an, sich mit Ann einzurichten. Nachdem er geschieden ist, heiraten die beiden. Der Kern des Romans besteht jedoch darin, daß Graham nach und nach Anns Liebhaber entdeckt, mit denen sie zusammen war, bevor Graham in ihr Leben eingetreten ist. Ann verheimlicht wenig, gibt aber nichts freiwillig preis, es sei denn, Graham stellt ganz konkrete Fragen. Für Graham wird es zunehmend zu einer Obsession, die sexuellen Details aus Anns Leben zu enthüllen. Wieder und wieder schaut er sich die Rollen an, die Ann auf der Leinwand gespielt hat, um so einen Blickwechsel oder andere Zeichen zu erhaschen, die als Indiz dafür herangezogen werden können, daß Ann und der jeweilige Mann, mit dem sie gerade auftrat, eine Affäre hatten. Manchmal gibt sie zu, daß es eine sexuelle Beziehung gegeben hat, meistens beharrt sie jedoch darauf, daß nichts vorgefallen ist. Der letzte Teil der Geschichte ist grausam, ihr Ende unterläuft fast vollständig den Stil des nichtssagenden Humors, in dem nahezu das ganze Buch verfaßt ist. Nach beharrlicher Forschung entdeckt Graham schließlich, daß sein bester Freund Jack – dem er seine Probleme mit Anns Leben, »bevor sie mich traf«, anvertraut hatte – vor mehreren Jahren selber eine sexuelle Beziehung mit Ann gehabt hatte. Graham arrangiert daraufhin ein Treffen mit seinem Freund unter dem Vorwand, das Gespräch mit ihm fortzusetzen. Er nimmt jedoch ein Messer mit, mit einer »15-Zentimeter-Klinge, die von einer Breite von drei Zentimetern in eine nadelscharfe Spitze auslief«. In dem Augenblick, in dem Jack – mit einer gänzlich unwichtigen Sache beschäftigt – Graham den Rücken zukehrt, sticht Graham auf ihn ein. Während Jack sich total verwirrt umdreht, stößt Graham ihm das Messer mehrmals »zwischen Herz und Genitalien«. Nachdem er seinen Finger, in den er sich während des Mordes geschnitten hat, mit einem Pflaster versorgt hat, setzt er sich mit dem Rest des Kaffees, den Jack für ihn gemacht hatte, auf einen Stuhl. Mittlerweile versetzt Grahams Abwesenheit, die sich über die ganze Nacht hingezogen hat, Ann zunehmend in Beunruhigung. Nach ergebnislosen Telephonanrufen bei der Polizei und in Krankenhäusern, die über seinen Verbleib keine Auskunft geben können, fängt sie schließlich an, Grahams Schreibtisch zu durchwühlen und entdeckt dabei Unterlagen, die Grahams zwanghaftes Durchforsten ihrer Vergangenheit verraten. Außerdem findet sie heraus, daß Graham von ihrer Affäre mit Jack (die einzige sexuelle Begegnung, die sie Graham bewußt verschwiegen hat) weiß. Sie geht in Jacks Wohnung und findet dort Graham und den blutüberströmten Körper von Jack. Obwohl sie nicht versteht warum, läßt sie es zu, daß Graham sie beruhigt und währenddessen ihre Handgelenke mit einem Stück Wäscheleine zusammenbindet. Graham geht davon aus, daß ihm dies genug Zeit verschaffen wird, um sein Vorhaben durchzuführen, bevor Ann zum Telephon stürzen kann, um Hilfe zu holen. »Keine Schlußworte, kein Melodrama.« Graham nimmt das Messer und schneidet sich auf beiden Seiten tief in die Kehle. Aber er hatte nicht mit Ann gerechnet – »er liebte Ann; da bestand nicht der geringste Zweifel«. Laut schreiend stürzt sie sich, mit dem Kopf zuerst, durch ein Fenster. Zu dem Zeitpunkt, als die Polizei ankommt, ist der Sessel unwiderruflich mit Blut durchtränkt, und Graham ist tot. Die letzten Absätze des Romans deuten darauf hin, daß auch Ann sich umgebracht hat – unabsichtlich oder absichtlich, das bleibt offen. Als sie mich noch nicht kannte ist kein Roman, in dem es primär um Eifersucht geht. Während Ann sich das Material durchliest, das Graham über sie zusammengebracht hatte, erkennt sie, daß Eifersucht nicht das Wort war, »das sie auf ihn anwenden würde«. Das ausschlaggebende war, daß Graham mit »ihrer Vergangenheit nicht klar« kam.[1] Das Ende, das nicht zu dem halbkomischen Ton paßt, der dem Buch sonst eigen ist, ist gewaltsam, wenn auch recht cool. Grahams Gewalt ist ein vergeblicher Versuch, sie in den Griff zu bekommen. Der Autor läßt die Ursachen dieser Gewalt relativ im Dunkeln, was Grahams eigene diesbezügliche Unsicherheit widerspiegelt. Die Geheimnisse, die Graham in Anns sexuellem Leben ausfindig machen will, passen nicht zu seinen Vorstellungen darüber, was eine Frau zu sein hat – Anns Vergangenheit ist nicht mit Grahams Idealen zu vereinbaren. Das Problem ist ein emotionales; und Graham sieht ein, wie absurd es ist, davon auszugehen, daß Ann ihr vorheriges Leben hätte im Wissen darum gestalten können, Graham später zu treffen. Trotzdem kann er ihre sexuelle Unabhängigkeit, auch wenn er zu jenem Zeitpunkt für sie nicht existiert hat, nicht akzeptieren – bis er zu jenem Punkt gelangt, der in die gewaltsame Zerstörung mündet. Es spricht für Graham, daß er versucht, Ann vor der Gewalt, die sie in ihm provoziert hat, zu bewahren; trotzdem wird natürlich auch sie von ihr eingeholt. Die Ereignisse, die in diesem Roman beschrieben sind, gehören eindeutig in unsere Zeit; ein Jahrhundert früher hätte dieser Roman als Beschreibung des Lebenszusammenhangs ganz gewöhnlicher Menschen nicht verfaßt werden können. Er setzt nämlich eine bestimmte Form sexueller Gleichberechtigung voraus, die erst für unsere Zeit typisch ist, und geht dabei davon aus, daß es heutzutage gewöhnlich ist, daß Frauen vor (und selbst während und nach) einer ›ernsthaften sexuellen Beziehung‹ mehrere Liebhaber gehabt haben. Selbstverständlich hat es immer eine Minderheit von Frauen gegeben, für die sexuelle Abwechslung, und in einem bestimmten Maß auch sexuelle Gleichberechtigung, möglich war. Aber zu fast allen Zeiten wurden Frauen entweder als tugendhafte oder als gefallene Frauen eingestuft; und die ›Gefallenen‹ existierten nur am Rande der respektablen Gesellschaft. ›Tugend‹ ist sehr lange als Weigerung der Frauen verstanden worden, der sexuellen Versuchung zu erliegen – eine Weigerung, die noch gestützt wurde durch verschiedenste institutionelle Schutzvorkehrungen wie etwa dem keuschen ›Umwerben‹, Zwangsehen und so weiter. Auf der anderen Seite wurde den Männern traditionellerweise immer – und nicht nur von ihnen selbst – sexuelle Abwechslung für ihr körperliches Wohlbefinden zugestanden. Bei Männern war es immer akzeptiert, daß sie vor der Eheschließung mehrere sexuelle Beziehungen gehabt hatten, und die doppelte Moral nach der Heirat war keineswegs ungewöhnlich. So beschreibt Lawrence Stone in seiner Arbeit über die Geschichte der Scheidungen in England, daß noch bis vor kurzem die sexuellen Erfahrungen von Männern und Frauen strikt mit zweierlei Maß gemessen wurden. Der Tatbestand eines einzigen Fehltritts von seiten einer Frau stellte einen unverzeihlichen Bruch mit dem Eigentumsrecht und dem Konzept der Erbfolge dar, und seine Entdeckung zog unweigerlich scharfe Strafmaßnahmen nach sich. Ehebruch von seiten des Ehemannes wurde demgegenüber allgemein als bedauernswerte, aber nachvollziehbare Schwäche gedeutet.[2] In einer Welt zunehmender sexueller Gleichberechtigung – auch wenn eine solche Gleichberechtigung noch lange nicht vollkommen ist – müssen beide Geschlechter fundamentale Änderungen in ihren Standpunkten und in ihrem Verhalten zueinander hinnehmen. Die geforderte Gleichstellung der Frau ist in dem Roman Als sie mich noch nicht kannte beachtenswert, aber – vielleicht weil er von einem männlichen Autor verfaßt worden ist – weder vollständig dargestellt, noch mit viel Sympathie präsentiert. Grahams erste Frau Barbara wird als schrilles, anspruchsvolles Geschöpf beschrieben, deren Einstellungen Graham schlicht verwirrend findet. Obwohl er für Ann wirkliche Liebe empfindet, geht sein Verständnis ihrer Sichtweisen und Handlungen kaum tiefer. Man könnte sogar sagen, daß er sie, trotz seiner intensiven Nachforschungen in Anns früherem Leben, überhaupt nicht wirklich kennenlernt. Graham neigt dazu, Barbaras und Anns Verhalten in einem traditionellen Sinn abzulehnen: Frauen sind emotionale, launische Gestalten, deren Gedankengänge keiner Rationalität folgen. Trotzdem hat er mit beiden Mitleid, und während der Geschichte besonders mit Ann. Seine neue Ehefrau ist keine »lockere Frau«, und es gibt auch keinerlei Grund, daß Graham sie so behandeln sollte. Wenn sie nach ihrer Heirat Jack trifft, weist sie konsequent dessen Avancen zurück. Dennoch gelingt es Graham nicht, die Bedrohung aus seinem Kopf zu bannen, die von dem ausgeht, was passiert ist, bevor Ann »unter seine Kontrolle« gekommen ist. Der Autor vermittelt sehr gut die Vorläufigkeit von Grahams zweiter...


Giddens, Anthony
Anthony Giddens war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science und zuvor Professor der Soziologie an der University of Cambridge.

Anthony GiddensAnthony Giddens war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science und zuvor Professor der Soziologie an der University of Cambridge.



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