E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Glöckler Vulkanische Reise
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-941184-74-9
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Azoren-Saga
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-941184-74-9
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ralph Roger Glöckler (geb. 1950) studierte in Tübingen u. a. Ethnologie. Im Elfenbein Verlag erschien - neben der Azoren-Trilogie - bereits der Gedichtband 'Das Gesicht ablegen' (2001) sowie die Romane 'Mr. Ives und die Vettern vierten Grades' (2012) und 'Tamar' (2014).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Tellurische Messe
Es ist noch früh. Ein trüber Morgen. Ich sitze in der Biblioteca Pública, um Nachrichten und Reportagen über die crise sísmica in den regionalen Zeitungen zu lesen. Die Bibliothek befindet sich in der ersten Etage über dem Stadtarchiv von Horta und wirkt mit ihrem dunklen Dielenboden, den Holzregalen, den massiven, lederbespannten Mahagonitischen wie ein Institut in den ehemaligen Kolonien. Der Bibliothekar, ein junger, einsilbiger Mann, blond wie viele Azoreaner, hat mich gebeten zu warten. Er müsse die Ausgaben der vergangenen Monate aus dem Magazin holen.
Ich bin allein. Schüler, die Arbeiten für den Unterricht vorbereiten, werden später kommen. Zeitungsleser erst in der Mittagspause. Ich lasse meinen Blick über die Bücher in den Regalen wandern, über den Arbeitstisch des Bibliothekars. Ein Kartenspiel schimmert auf dem Bildschirm des Computers. Zeitungen, Zeitschriften liegen auf dem großen Tisch vor den Fenstern. Die Lehnen der Stühle sind dicht an die Platte herangeschoben.
Es ist still. Drückend. Es riecht modrig, nach feuchten Mauern, nach feuchtem Papier. Regentropfen rinnen über die Fenster, verschleiern das gegenüberliegende Gebäude der Segurança Social. Bücherregale spiegeln sich in den Scheiben.
Der Bibliothekar legt die in Horta erscheinenden Tageszeitungen O Telégrafo und O Correio da Horta, monateweise und in kräftiges braunes Papier verpackt, vor mich auf den Tisch. Ich verlange auch den Açoreano Oriental, Portugals älteste Tageszeitung, die in Ponta Delgada auf São Miguel erscheint. Er blickt mich merkwürdig aus seinen dicken Brillengläsern an, beeilt sich jedoch, die angestaubten Packen zu holen. Viele Azoreaner sind gegen São Miguel voreingenommen. Es ist die größte, bevölkerungsreichste Insel. Man wirft den Leuten dort vor, sie wollten den Archipel beherrschen.
Die crise sísmica hat vor ein paar Monaten, am fünfundzwanzigsten November, begonnen. Die Nachrichten sind bis zum einundzwanzigsten Januar recht spärlich, auch wenn O Telégrafo die auf den mittleren Inseln gemessenen Intensitätsgrade der Beben Tag für Tag dokumentiert.
Das Epizentrum liegt im Nordwesten, fünfzehn bis vierzig Kilometer vor Capelinhos, Norte Pequeno und Praia do Norte entfernt. Flugzeuge der Marine, die dieses Gebiet überflogen, haben keine außergewöhnlichen Erscheinungen wie Gasblasen, Dampf, tote Fische im Wasser beobachtet. Nichts Bedenkliches also. Was beunruhigen könnte, ist die Nähe des Epizentrums zum neunzehnhundertsiebenundfünfzig entstandenen Vulkan von Capelinhos, der die Insel um zwei Quadratkilometer vergrößert, die umliegenden Dörfer und Felder mit Asche überschüttet und tausende Existenzen vernichtet hat. Die Dörfer Norte Pequeno und Praia do Norte wurden ein Jahr später bei Erdbeben zerstört, die auf der Mercalli-Skala Intensitätsgrad »zehn« erreichten. Diese Beben leiteten neunzehnhundertachtundfünfzig die letzte effusive Phase des Vulkanausbruchs ein.
Am zwanzigsten Januar, so ergibt ein Vergleich der Zeitungsmeldungen, erfolgte ein heftiges Beben um vierzehn Uhr neunundvierzig, das die Insel Faial mit Stärke »fünf« erschütterte. Die Zeitungen widmen der crise sísmica am ein- beziehungsweise zweiundzwanzigsten Januar erste und letzte Seiten. Man ist erschreckt, alte Ängste sind wieder da. Victor Hugo Forjaz, Direktor des Zentrums für Vulkanologie der Universität der Azoren, dessen Äußerungen zitiert werden, versucht, die Leser zu beruhigen. Die crise criptovulcânica könne drei bis vier Monate dauern, da sich entlang der geologischen Brüche des Archipels immer neue Bebenherde bilden würden. Die Bevölkerung jedoch habe nichts zu befürchten, alles sei ganz normal, so sich die Erscheinungsformen der Beben nicht veränderten oder sich das Epizentrum zur Küste hin verlagerte. Im Übrigen habe die Universität einen Techniker nach Praia do Norte geschickt und damit beauftragt, eine Erdbebenstation zu installieren. Wolle man die azoreanischen Erdbebenschwärme jedoch genauer beobachten und alle Daten maximal auswerten – dies ein nicht ganz unpolitischer Hinweis in eigener Sache –, müsse das Institut endlich mit jenen Geräten ausgestattet werden, um die es schon lange nachsuche.
Ich finde eine Notiz in der Ausgabe des Telégrafo vom achtundzwanzigsten Januar, dass die Korvette António Enes, ein Schiff, das ich oft in den Häfen von Ponta Delgada und Horta gesehen habe, auf Bitten des Instituto Nacional de Meteorologia e Geofísica in der Region des Epizentrums kreuze, um unter Leitung von Professor Ávila Martins und zweier Techniker tiefenspezifische Messungen vorzunehmen.
»Kryptovulkanische wechselt mit typisch tektonischer Tätigkeit. Symptome für hohen Stress. In den Brüchen von Faial. Assoziierte geologische Strukturen.«
Die Notiz vom letzten Januarwochenende liest sich wie ein Fax des Instituto Nacional oder des Centro de Vulcanologia an die Redaktionen. Es muss unredigiert veröffentlicht worden sein. Ich bin vom kryptischen Vokabular fasziniert, kann mich nicht von den Wörtern losreißen. Die rhythmische Folge von hellen und dunklen Vokalen, die Stöße von »K« und »T«, das knisternde »S«, das weichere Lettern bedrängt, verwandelt sich in meiner Phantasie in das Fließen auf- und absteigender Magmamassen, die Druck auf rissiges Gestein ausüben. Es wird nachgeben, bersten, Beben auslösen. Mehr. In diesen Worten höre ich die Stimme Vulcanus’. Tellurisches Tosen. Erdklänge. Wer vermöchte sie zu notieren? Wuchtige Choräle, dissonante Kantilenen. Eine tellurische Messe. In fax.
Mein Erdbeben sorgte schließlich für Schlagzeilen: Bereits fünftausend Beben auf Faial registriert. Die Möglichkeit eines Vulkanausbruchs kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Allein am fünfundzwanzigsten Februar wurden, so lese ich, einhundertzwölf Beben gemessen, von denen zehn die Intensitätsstärken »fünf«, »vier« beziehungsweise »zwei« erreichten. Achtzig Prozent der Bevölkerung sei davon aus den Betten geschüttelt worden. Wie wahr! Der Açoreano Oriental veröffentlichte drei Tage später eine Karte, auf der die Region des Epizentrums und seiner focos eingezeichnet ist. Pfeile markieren die Richtung der Stöße.
Ich erfahre aus einem Artikel, die Intensität habe sich verringert, doch die Zahl der Beben sei gestiegen, was auf die Bewegung von Magmaströmen hinweise. Die unterseeische Eruption, die zum Aufbau des Vulkans führen könne, bedeute aber keine Gefahr für Faial. Der Ausbruch würde sich, wenn überhaupt, weit draußen ereignen. Es wäre nicht der erste Vulkan, der im Bereich des Archipels aus der Tiefe heraufdrängt und wegen seines lockeren, schlackigen Materials von den Fluten rasch wieder abgetragen wird.
José Agostinho, einer der Wegbereiter der portugiesischen Vulkanologie, erwähnt in seinem Aufsatz über Actividade Vulcânica nos Açores, der neunzehnhundertsechzig erschienen ist, die achtzehnhundertelf aus einer submarinen Eruption entstandene Insel Sabrina. Sie war nach monatelangem Beben vor der westlichen Spitze von São Miguel aufgetaucht und bald wieder verschwunden.
Offenbar ereignen sich Eruptionen im Bereich der Azoren meistens »nordwestlich« bestehender vulkanischer Systeme. Sabrina, benannt nach einer englischen Fregatte, die sich damals in azoreanischen Gewässern aufhielt und deren Besatzung den Vulkanausbruch beobachtete, baute sich nordwestlich vor der Caldeira von Sete Cidades auf. Der Ausbruch, der im Jahre sechzehnhundertzweiundsiebzig zur Bildung des Cabeço do Fogo auf Faial führte, ereignete sich nordwestlich der Caldeira des Cabeço Gordo, und der submarine neunzehnhundertsiebenundfünfzig vor Capelinhos vergrößerte die Insel mit seinen Lava- und Schlackenmassen an der nordwestlichen Spitze. Muss man sich demnach wundern, dass sich das Zentrum vulkanischer Aktivität der gegenwärtigen crise sísmica fünfzehn bis vierzig Kilometer nordwestlich von Capelinhos befindet, in der submarinen Verlängerung der Falha da Ribeirinha, einer geologischen Verwerfung, die auf der Insel ein schmales, üppig bewachsenes, sich zur Südküste hin öffnendes Tal bildet?
Ich stelle mir das Tal vor, gerate ins Träumen: Lorbeerbäume, Incenso, Faia auf den steilen Hängen, überwuchern sie mit ihren dichten gelbgrünen Kronen. Hohes Schilf säumt die Sandpiste, die zum Meer hinunterführt. Blumen wachsen am Wegesrand, bunte, endemische Gewächse. Schmetterlinge saugen an den Blüten. Libellen fliegen vorbei, halten flügelschwirrend in der Luft an, zucken empor. Ich atme den Duft des Incenso ein, den eine morgendliche Brise aufs Meer hinausweht.
Die leisen Stimmen von Schülern, die sich in der Bibliothek eingefunden haben, lösen den Traum auf, holen mich in die...