E-Book, Deutsch, 1468 Seiten
Goddard Lied der Toten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-747-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Harry-Barnett-Trilogie: "Dunkles Blut","Dunkle Sonne" und "Dunkle Erinnerung"
E-Book, Deutsch, 1468 Seiten
ISBN: 978-3-96655-747-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall. Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane: »Im Netz der Lügen« »Der Preis des Verrats« »Eine tödliche Sünde« »Ein dunkler Schatten« »Denn ewig währt die Schuld« »Das Geheimnis von Trennor Manor« »Das Geheimnis der Lady Paxton« »Das Haus der dunklen Erinnerung« »Das Geheimnis von Malborough Downs« »Dunkles Blut - Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall« »Dunkle Sonne - Harry Barnett ermittelt: Der zweite Fall« »Dunkle Erinnerung - Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall« Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane: »Die Sünden unserer Väter« »Die Schatten der Toten« »Jäger und Gejagte« »Die Klage der Toten« »Der Kartograf von London«
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Kapitel 1
Wenn sie jetzt zurückkäme, oder sogar erst in fünf Minuten, dann wäre es natürlich immer noch in Ordnung. Der Gedanke, daß er sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde, könnte dann als Einbildung, als absurde, übertriebene Reaktion auf ein Übermaß an Einsamkeit und Stille abgetan werden. Und von der Vorstellung, daß sie jede Sekunde zurückkehren, ihm schon beim Herunterkommen vom Weg aus zurufen würde, ließ sich ein Teil seines Verstandes, nämlich der methodisch denkende, durch Erziehung geprägte Teil, nicht abbringen. Nur in dem chaotischen Bereich des Instinkts und Gefühls hatte sich eine andere Vermutung eingenistet, gewissermaßen nur in dem Teil seines Wesens, den er nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Außerdem hatte Harry ja auch allen Grund, seine Besorgtheit der Situation zuzuschreiben, in der er sich befand. Eine Dreiviertelstunde auf einem gestürzten Baumstamm auf halber Höhe eines mit Fichten bestandenen Berghanges zu sitzen, während sich die Nachmittagssonne allmählich in eine dämmrige Kühle und Stille verwandelte – eine absolute, unbewegliche, unbarmherzige Stille –, das zerrte an seinen Nerven, strapazierte seine Selbstbeherrschung. Jetzt wünschte er, er wäre mit ihr zum Gipfel hinaufgestiegen oder im Auto geblieben, um Radio zu hören. So oder so hätte er es eigentlich besser wissen müssen und nicht gerade an dieser Stelle warten sollen.
Er drückte nun schon die vierte Zigarette aus, seit er hier saß, und holte tief Atem. Im Schatten des Berges wurde es jetzt allmählich kalt, doch die Küstenebene dort unten war immer noch in warmes, goldenes Sonnenlicht getaucht. Nur hier an dem dicht mit Koniferen bestandenen Hang oder da draußen konnte das unmerkliche, aber in der klaren, eisigen Luft spürbare Dahinschwinden des Tages nicht länger ignoriert werden.
Weshalb war sie noch nicht zurückgekehrt? Verirrt konnte sie sich wohl kaum haben, nicht mit dem Reiseführer und einem Kompaß. Schließlich war sie, im Gegensatz zu Harry, schon vorher auf dem Profitis Ilias gewesen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nie wieder dorthin. Vor zwei Stunden hatte er sich noch an einem Tisch auf der Terrasse einer Psarotaverna unten an der Küste in der Sonne gewärmt, sich gemächlich zum Abschluß eines köstlichen Essens die erste Zigarette dieser Packung angezündet und überlegt, wie sehr der Ober wohl einen übergewichtigen Engländer mittleren Alters darum beneiden würde, daß er so ein attraktives Mädchen gefunden hatte, das mit ihm zu Mittag aß. Jetzt hatte er sogar Mühe, sich die Szene vorzustellen, denn der Profitis Ilias besaß die Kraft, jede Erinnerung und Wahrnehmung außerhalb seines eigenen Dunstkreises in weite Ferne zu rücken. Und es war Heathers Wunsch gewesen, auf den Profitis Ilias zu fahren.
»Wir könnten von hier aus mit dem Auto in einer halben Stunde dort oben sein«, hatte sie gemeint. »Es ist ein phantastischer Ort. Verlassene, zerfallende alte Villen, die noch aus der italienischen Besatzungszeit stammen. Und eine herrliche Aussicht. Du mußt es einfach sehen.«
Harry hatte eigentlich keine derartige Verpflichtung verspürt, da er die Innenausstattung von einem Dutzend Bars, die ihm einfielen, durch die Brechung eines entsprechend gut gefüllten Glases gesehen, jedem Ausblick auf die Natur vorzog, und mochte er noch so atemberaubend sein. Dennoch hatte er keinen Einwand erhoben.
Und so waren sie die gewundene Straße durch das Dorf Salakos hinauf zum bewaldeten Berggipfel gefahren und kamen langsam, aber stetig immer höher, bis sie den übrigen Verkehr völlig hinter sich gelassen hatten und ihnen nur noch die endlosen Fichten- und Föhrenreihen auf ihrer Fahrt begegneten. Anfangs war Harry die immer größer werdende Einsamkeit nicht als etwas Unangenehmes aufgefallen. Erst als sie das Hotel, zu dem die Straße führte, erreicht hatten und es, wie erwartet, für den Winter geschlossen vorfanden, hatte sich diese Eigenart des Profitis Ilias bemerkbar gemacht.
Stille, so glaubte er fast, war die Grundstimmung dieses Berges. Stille, die nur darauf gewartet hatte, daß sie aus dem Wagen stiegen und die Türen zuschlugen, die dann mitten aus dem Wald hervorsprang und sie so einschüchterte, daß sie sich nur flüsternd miteinander unterhielten. Stille, die das leere Hotel und die Ruinen der Villen in den umliegenden Wäldern nur noch zu verstärken schienen, als seien verlassene Häuser schlimmer als überhaupt keine Häuser. Und eine Stille, auf die sogar die Natur Rücksicht nahm, denn hier bewegte kein Wind die Bäume, kein Vogel sang in den Zweigen, kein Eichhörnchen huschte die Äste entlang. Auf dem Profitis Ilias war alles ruhig, aber nichts ruhte.
Noch vor zwei Monaten wäre das Hotel für die Saison geöffnet gewesen, die Kinder der Gäste hätten auf dem Gelände gespielt, wären vielleicht sogar auf demselben Baumstamm herumgeklettert, auf dem Harry nun saß. Lärm, Leben, Gelächter, Geselligkeit – zu anderen Zeiten mochte ihm das auf die Nerven gehen, jetzt sehnte er sich aus tiefster Seele danach. Er war überrascht, als er plötzlich entdeckte, wie unbehaglich ihm so allein zumute war. Das heißt, wenn er wirklich allein war. Denn er mußte daran denken, daß er, als sie aus dem Wagen ausgestiegen und hinunterspaziert waren, um die Aussicht, die man vom Hotel aus hatte, zu bewundern, zu den Holzbalkonen und den rotgestrichenen Fensterläden, die dem Gebäude einen bodenständigen, alpenländischen Anstrich verliehen, hinaufgeblickt – und eine Gestalt gesehen hatte, die sich abrupt von einem der nicht verriegelten Fenster des ersten Stockwerkes zurückzog. In jenem Moment hatte er es als Täuschung des Lichts abgetan, doch jetzt trug die Erinnerung daran noch zu der übrigen Unruhe bei, die ihn überkommen hatte.
Weshalb war sie nicht zurückgekehrt? Sie hatte so zuversichtlich gewirkt, so ermutigend sicher, daß sie zurück sein würde, ehe er überhaupt dazu gekommen wäre, sie zu vermissen. Es war ein steiler Aufstieg gewesen vom Hotel hinauf zu dem holprigen, überwachsenen Pfad, der zum Gipfel führte, und Heather hatte ein scharfes Tempo angeschlagen. Außer Atem und weit von seinem gewohnten Terrain entfernt, war Harry unter diesen Umständen nur zu gerne bereit, an der Stelle, wo ein umgestürzter Baum den Weg blockierte, anzuhalten, während sie bis zum Gipfel weiterging. »Nimm die Schlüssel«, hatte sie gesagt, »falls du zum Auto zurück willst.« Dann, als sie sein Stirnrunzeln bemerkte, hatte sie noch hinzugefügt: »Keine Angst, ich werde auf dem Weg bleiben. Und ich werde nicht lange brauchen. Aber ich kann doch jetzt nicht kehrtmachen, oder?« Und mit diesen Worten war sie über den Baum geklettert, hatte noch einmal zu ihm zurückgelächelt und war dann weitergegangen.
Vor fast einer Stunde und, so schien es Harry, in einer anderen Welt hatte ihn dieses letzte Lächeln von dem bewaldeten Hang herunter gegrüßt. Seine Seelenruhe, so überlegte er jetzt, hatte nicht länger als die erste Zigarette angehalten. Seither hatten sich seine Gedanken mit den verschiedensten Dingen beschäftigt, waren aber immer wieder auf das zurückgekommen, was sich in dieser Umgebung einfach nicht ignorieren ließ – diese Stille, die so absolut war, daß das Ohr einen fast hörbaren Chor flüsternder Stimmen in den Baumen um ihn herum erfand, eine Stille, die so vollkommen war, daß seine angespannten Sinne ihm beharrlich vorgaukelten, daß ihn irgendwo, über ihm oder um ihn herum, etwas beobachtete.
Harry sah auf seine Uhr. Es war kurz vor vier, und das bedeutete, daß es nur noch etwas über eine Stunde lang hell sein würde, eine armselige, eisige, ihn bis auf die Knochen abkühlende Stunde in dieser Höhe und zu dieser Jahreszeit. Mühsam zwang er sich, eine Reihe anderer brauchbarer Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Er könnte zum Wagen zurückkehren, für den Fall, daß Heather eine andere Route genommen hatte und dort wartete. Doch wenn sie das getan hätte, dann wäre sie sicher jetzt schon gekommen; um ihn zu holen. Er könnte bleiben, wo er war, mit der Begründung, daß sie erwarten würde, ihn hier zu finden. Aber ein Blick in die Runde sagte ihm, daß er es nicht ertragen konnte, noch länger zu bleiben. Oder er könnte dem Pfad bis zum Gipfel folgen, falls sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte oder einfach das Zeitgefühl verloren hatte. Das, so schloß er, war wirklich die einzige Möglichkeit, die ihm blieb.
Er hob die Beine an, drehte sich auf dem Baumstamm herum und glitt auf der anderen, höheren Seite herunter. Da war der Pfad, der trotz all der Jahre, die er nicht mehr benutzt und instand gehalten worden war, immer noch von einer Einfassung mit Kieselsteinen markiert wurde, und wand sich vor ihm den Abhang hinauf. Er fing an, bergan zu steigen, und fühlte dabei sofort jene Erleichterung, die immer dann eintritt, wenn man nach einer angespannten Zeit der Unentschlossenheit zu handeln beginnt.
Bald wurden die Bäume immer spärlicher, und der Gipfelgrat kam in Sicht. Nun kam es Harry absurd vor, daß er nicht darauf bestanden hatte, Heather die ganze Strecke zu begleiten, denn es war weder so weit noch so steil, wie er befürchtet hatte. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie ihre Trennung nicht bewußt herbeigeführt hatte, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, weshalb sie das getan haben sollte. Und er war sich auch dessen bewußt, daß vielleicht schon der Gedanke an sich eine Einbildung war, daß er ihren Worten und Handlungen eine Bedeutung beimaß, die sie gar nicht hatten.
Als er einen sonnenbeschienenen Fleck kurz vor dem Bergkamm erreicht hatte, hielt Harry an, um Atem zu schöpfen. Rechts vor ihm krönte eine rot-weiße, aus einem kleinen Gebäude hoch aufragende Radioantenne den Gipfel. Es sah aus wie ein...




