Goetze Schülerverhalten ändern
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-17-022861-0
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Bewährte Methoden der schulischen Erziehungshilfe
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-17-022861-0
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Prof. Dr. Goetze taught special education at the university of Potsdam and currently teaches at the Indiana University Northwest.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Titel;1
2;Inhaltsverzeichnis;6
3;1 Einleitung;12
3.1;1.1 Grundlegende Überlegungen zu Methoden in der schulischen Erziehungshilfe;12
3.2;1.2 Methoden in der schulischen Erziehungshilfe im Spannungsfeld;12
3.3;1.3 Konsequenzen für die Ausführungen in diesem Band;14
3.4;1.4 Charakterisierung der Methoden;15
3.5;1.5 Das Inhaltsangebot dieses Buches;16
3.6;1.6 Ziele dieses Buches;18
3.7;Literatur;19
4;2 Verhaltensstörungen und ihr Umfeld;20
4.1;2.1 Definitionsprobleme;20
4.2;2.2 Theoretische Zugänge;22
4.2.1;2.2.1 Verhaltensstörung als Pathologie der Person;23
4.2.2;2.2.2 Verhaltensstörung als sozio-kulturelle Abweichung;24
4.2.3;2.2.3 Verhaltensstörung als Ergebnis der Entfremdung von sich selbst;28
4.2.4;2.2.4 Perspektivenvergleich;30
4.3;2.3 Resümee;33
4.4;Literatur;33
5;3 Verhaltensmodifikation;34
5.1;3.1 Einleitung;34
5.2;3.2 Konzept;34
5.2.1;3.2.1 Die Funktionale Verhaltensanalyse;38
5.3;3.3 Interventionen ;40
5.3.1;3.3.1 Verhaltensdiagnostik;40
5.3.2;3.3.2 Erhöhung erwünschten Verhaltens – positive Verstärkung;44
5.3.3;3.3.3 Weitere Möglichkeiten, Verhalten zu ändern;58
5.4;3.4 Schulische Umsetzungen;60
5.5;3.5 Empirische Fundierungen;65
5.6;3.6 Kritische Würdigung;66
5.7;Literatur;68
6;4 Kognitive Verhaltensmodifikation;69
6.1;4.1 Einleitung;69
6.2;4.2 Konzept;70
6.3;4.3 Interventionen;72
6.3.1;4.3.1 Selbstkontrolltraining;72
6.3.2;4.3.2 Selbstinstruktionstraining;77
6.4;4.4 Schulische Umsetzungen;80
6.4.1;4.4.1 Selbstgespräche führen;80
6.4.2;4.4.2 Selbstaufzeichnungen durchführen;81
6.4.3;4.4.3 Sich selbst bewerten;82
6.4.4;4.4.4 Die notwendigen Denkschritte lernen;82
6.4.5;4.4.5 Resümee;84
6.5;4.5 Empirische Fundierungen;85
6.6;4.6 Kritische Würdigung;86
6.7;Literatur;88
7;5 Rational-emotive (Verhaltens-)Therapie und Erziehung;90
7.1;5.1 Einleitung;90
7.2;5.2 Konzept;91
7.2.1;5.2.1 Die rational-emotive Grundgleichung;93
7.2.2;5.2.2 Typische zwanghafte Grundhaltungen und irrationale Einstellungen;94
7.3;5.3 Interventionen;96
7.4;5.4 Schulische Umsetzungen;98
7.4.1;5.4.1 Überblick über ein REE-Curriculum;99
7.4.2;5.4.2 Hinweis auf Beispielplanungen;101
7.5;5.5 Empirische Fundierungen;102
7.6;5.6 Kritische Würdigung;103
7.7;Literatur;104
8;6 Steigerung von Resilienz;106
8.1;6.1 Einleitung;106
8.2;6.2 Konzept;106
8.3;6.3 Interventionen;112
8.4;6.4 Schulische Umsetzungen;113
8.4.1;6.4.1 Das Trainingsprogramm „Enhancing Resilience in Children“;114
8.4.2;6.4.2 Training zur Erhöhung kognitiver Ressourcen nach Grünke (2002) und Julius und Goetze (1998);115
8.5;6.5 Empirische Fundierungen;118
8.6;6.6 Kritische Würdigung;119
8.7;Literatur;121
9;7 Realitätstherapie;122
9.1;7.1 Einleitung;122
9.2;7.2 Konzept;122
9.3;7.3 Interventionen;123
9.4;7.4 Schulische Umsetzungen;126
9.4.1;7.4.1 Die Klassenversammlung („classroom meeting“);127
9.4.2;7.4.2 Konfliktgespräche;128
9.4.3;7.4.3 Fragenkatalog zum realitätstherapeutischen Ansatz;129
9.4.4;7.4.4 Demonstration einer Umsetzung;130
9.5;7.5 Empirische Fundierungen;131
9.6;7.6 Kritische Würdigung;133
9.7;Literatur;134
10;8 Die Lehrer-Schüler-Konferenz nach Thomas Gordon;135
10.1;8.1 Einleitung;135
10.2;8.2 Konzept;135
10.2.1;8.2.1 Die Humanistische Psychologie als Basis;135
10.2.2;8.2.2 Übertragung auf ein personenzentriertes Lernen;136
10.2.3;8.2.3 Der Ansatz der Lehrer-Schüler-Konferenz;137
10.3;8.3 Interventionen ;138
10.3.1;8.3.1 Schüler-Problembesitz;138
10.3.2;8.3.2 Lehrer-Problembesitz;139
10.3.3;8.3.3 Schüler-Lehrer-Problembesitz;141
10.4;8.4 Schulische Umsetzungen ;145
10.4.1;8.4.1 Schüler-Problembesitz;145
10.4.2;8.4.2 Lehrer-Problembesitz;148
10.4.3;8.4.3 Der Lösungsansatz „ohne Verlierer“;150
10.4.4;8.4.4 Resümee;154
10.5;8.5 Empirische Fundierungen;155
10.6;8.6 Kritische Würdigung;158
10.7;Literatur;159
11;9 Spieltherapie;160
11.1;9.1 Einleitung;160
11.2;9.2 Konzept;160
11.2.1;9.2.1 Spielmerkmale;160
11.2.2;9.2.2 Das Spiel von Kindern mit Verhaltensstörungen;162
11.2.3;9.2.3 Begriff der Spieltherapie;164
11.2.4;9.2.4 Grundlagen des personenzentrierten Ansatzes;165
11.3;9.3 Interventionen;167
11.3.1;9.3.1 Rahmenbedingungen;167
11.3.2;9.3.2 Therapeutische Kommunikationen;168
11.3.3;9.3.3 Grenzsetzungen;169
11.3.4;9.3.4 Medien und Materialien;170
11.4;9.4 Schulische Umsetzungen;170
11.4.1;9.4.1 Spielgruppenprojekte im schulischen Rahmen;171
11.4.2;9.4.2 Die Arbeit mit Sandkästen im Klassenraum;173
11.4.3;9.4.3 Spieltherapeutisch orientierte Schülertutorenprogramme;174
11.5;9.5 Empirische Fundierungen;176
11.6;9.6 Kritische Würdigung;179
11.7;Literatur;180
12;10 Life-Space-Crisis-Intervention;182
12.1;10.1 Einleitung;182
12.2;10.2 Konzept;183
12.3;10.3 Interventionen;186
12.4;10.4 Schulische Umsetzungen;195
12.5;10.5 Empirische Fundierungen;197
12.6;10.6 Kritische Würdigung;199
12.7;Literatur;201
13;11 Entspannung und Meditation;203
13.1;11.1 Einleitung;203
13.2;11.2 Konzept;204
13.3;11.3 Interventionen;207
13.3.1;11.3.1 Progressive Muskelentspannung;207
13.3.2;11.3.2 Biofeedbacktraining;208
13.3.3;11.3.3 Autogenes Training;208
13.3.4;11.3.4 Geleitetes Bilderleben (Traumreisen, „guided imagery“);208
13.3.5;11.3.5 Meditation und Yoga;209
13.4;11.4 Schulische Umsetzungen;210
13.5;11.5 Empirische Fundierungen;212
13.6;11.6 Kritische Würdigung;215
13.7;Literatur;216
14;12 Der Umgang mit beruflich bedingtem Stress in der schulischen Erziehungshilfe;218
15;Literatur;223
16;Sachwortregister;230
17;Personenregister;234
2 Verhaltensstörungen und ihr Umfeld
Wie man sich die Entstehung von
Verhaltensstörungen erklären kann
In der Einleitung waren Probleme erörtert worden, die im Zusammenhang mit der Anwendung pädagogisch-therapeutischer Methoden in der schulischen Erziehungshilfe stehen. In diesem Kapitel soll nun geklärt werden, um welche Zielgruppenprobleme es geht, an wen sich also die später dargestellten Methoden richten. Wir haben danach zu fragen:
- Welche Begriffe sind für die Zielgruppe optimalerweise zu verwenden?
- Wie sind Verhaltens- bzw. emotionale Störungen zu definieren?
- Welche theoretischen Perspektiven erklären die Entstehung dieser Störungen?
2.1 Definitionsprobleme
An erster Stelle ist in diesem Kapitel die Frage zu klären, was unter einer Verhaltens- bzw. einer emotionalen Störung zu verstehen ist. Dazu ist zuvor die Begrifflichkeit – Verhaltens- bzw. emotionale Störung – zu klären, die für diesen Text maßgeblich sein soll. Es gibt nämlich die unterschiedlichsten Bezeichnungen, die in der Fachwelt verwendet werden, wie z.B.:
- Verhaltens- bzw. emotionale Störung,
- Verhaltensauffälligkeit,
- emotionale Fehlanpassung,
- psychiatrische Auffälligkeit,
- psychosoziale Störung,
- Erziehungshilfebedarf.
Keiner dieser Begriffe kann für sich in Anspruch nehmen, den Gegenstand optimal zu bezeichnen. In diesem Band wird für die Bezeichnung „Verhaltens- und emotionale Störung“ auch die Kurzform „Verhaltensstörung“ verwendet, weil damit dem internationalen Sprachgebrauch gefolgt und Sprachökonomie berücksichtigt wird. Die Bezeichnung deckt zudem logisch-inhaltlich ein weites Spektrum an Störungen ab, die entweder auf ungenügendes soziales und personales Lernen zurückgehen oder inhärente Psychopathologien mit eher psychiatrischer Natur betreffen.
Wenn damit eine Entscheidung für die Begrifflichkeit gefallen ist, stellt sich als Nächstes die Frage nach der Begriffsbestimmung, eine Frage, die in der Fachliteratur viele Antworten findet. Warum „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ so unterschiedlich definiert werden kann, liegt an der wenig objektivierbaren Natur dieses Gegenstandes: In jeden Definitionsversuch gehen nämlich unterschiedliche Erziehungsphilosophien, Menschenbilder, wissenschaftliche Paradigmen und letztlich auch Subjektivismen ein. Je nach Arbeitsfeld der Fachleute muss die Antwort also unterschiedlich ausfallen. So wird ein Psychoanalytiker bei einer Verhaltensstörung an eine inadäquate Ich-Entwicklung denken, ein Verhaltenstherapeut verfehltes Lernen für ausschlaggebend und ein Psychiater abnormale Persönlichkeitsentwicklungen für entscheidend halten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es eine alles umfassende Definition für „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ nicht geben kann.
International haben sich zwei Definitionen durchgesetzt, für die der pragmatische Zugriff und die weitgehende Operationalisierbarkeit der verwendeten Begriffe sprechen.
Ein länger zurückliegender Definitionsversuch stammt von Bower (1981). Es handelt sich hier um eine Merkmalsdefinition, nach der man dann von einer Verhaltensstörung spricht, wenn
- eine Störung des Lernens vorliegt, die nicht auf intellektuelle, sensorische oder gesundheitliche Faktoren zurückgeführt werden kann,
- eine Unfähigkeit vorliegt, befriedigende soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten,
- unangepasste Verhaltensweisen oder unangemessene Gefühle auftreten, auch wenn die Umstände dazu keinen Anlass geben,
- eine generalisierte negative Dauerstimmung oder Depression den Alltag kennzeichnen,
- tendenziell psychosomatische oder Angstsymptome entwickelt werden, die zusammen mit persönlichen und schulischen Problemen auftreten.
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wichtigsten, empirisch ermittelten Merkmale einer Verhaltensstörung widerzuspiegeln. Von Nachteil ist allerdings, dass die Symptome additiv nebeneinandergesetzt erscheinen und unverbunden sind; man weiß also nicht, wie viele der genannten Merkmale in welcher Ausprägung zusammenkommen müssen, damit das Definitionskriterium einer Verhaltensstörung erfüllt ist. So entscheidende Kriterien wie das Entwicklungsalter, Nachbarschaft und soziales Milieu oder die Normenproblematik werden ebenfalls nicht thematisiert.
Eine andere Definition, die diese Probleme zu überwinden sucht, geht auf eine US-amerikanische Vorlage des Council for Children with Behavioral Disorders zurück und ist z.B. für das Bundesland Brandenburg maßgeblich geworden (Goetze 2001, 17):
Der Begriff der emotionalen Störung oder Verhaltensauffälligkeit bezeichnet eine soziale Behinderung, die durch abweichende Verhaltens- oder sozial-emotionale Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen gekennzeichnet ist. Die Normabweichungen in entwicklungsbezogener und gesellschaftlicher (kultureller, ethnischer) Hinsicht lassen die weitere Bildung und Erziehung des Schülers bzw. der Schülerin als gefährdet erscheinen. Symptomatisch sind im Allgemeinen sozial-emotionale und schulleistungsbezogene Störungen.
Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit tritt über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) in mehreren (mindestens zwei) Lebensbereichen auf, wovon einer die Schule ist, und ist also mehr als eine zeitlich begrenzte Reaktion auf besondere Stressereignisse; eine emotionale Störung bzw. Verhaltensauffälligkeit ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie mit den Möglichkeiten der allgemeinen Schule nicht ausreichend abgebaut werden kann. Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit kann in der Regel durch ein abgestuftes Fördersystem so weit abgebaut werden, dass Betroffene möglichst unter Regelbedingungen unterrichtet und zu einem qualifizierten Schulabschluss geführt werden.
Wie man dieser Definition entnehmen kann, geht es einerseits um Abweichungen von gesellschaftlichen Normen, andererseits um länger andauernde personale Symptome, die nicht auf identifizierbare Stressereignisse zurückgeführt werden können; schließlich soll eine Verhaltensstörung in zwei unterschiedlichen Settings auftreten, wovon eines die Schule ist. Es ist auch festgelegt, dass die Regelschule mit den ihr eigenen Ressourcen augenscheinlich das pädagogische Problem zu lösen nicht in der Lage ist – man denke nur an Kinder mit extrem ausgeprägten psychiatrisch zu behandelnden Symptomen, die oft nicht einmal zeitweise integrativ beschult werden können. Als weiteres Kriterium tritt hinzu, dass Verhaltensstörungen auch in Verbindung mit anderen Behinderungen oder Störungen auftreten können. Eingeschlossen sind ausdrücklich psychiatrische Auffälligkeiten wie affektive Störungen.
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wesentlichen Aspekte abzudecken. Entscheidend ist die letzte Aussage, dass sämtliche sonderpädagogischen Bemühungen darauf auszurichten sind, einen qualifizierten Schulabschluss zu ermöglichen; denn zu leicht kann dieser zentrale Aspekt aus dem Blickwinkel geraten, wenn die Anwendung pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen, wie sie im Hauptteil dieses Buches dargestellt werden, allein der psychosozialen Rehabilitation dienen, ohne dass der junge Mensch auch für seine berufliche Zukunft fit gemacht wird.
2.2 Theoretische Zugänge
Nachdem eine längere Begriffsbestimmung für eine Verhaltens- bzw. emotionale Störung diskutiert worden ist, sollen nun knapp einige theoretische Perspektiven erörtert werden, denen die im Hauptteil dieses Buches diskutierten Methoden zugrunde liegen.
In der Fachliteratur wird ein breites, auch zahlenmäßig umfängliches Spektrum an theoretischen Konzepten diskutiert. Um die Leserschaft dieses Bandes knapp zu orientieren und nicht mit einer Überfülle an Informationen zu konfrontieren, werden die drei bedeutsamsten theoretischen Perspektiven nach Newcomer (2003) vorgestellt, die dann auch zum Verständnis der Interventionen notwendig sind:
- Verhaltensstörung als Pathologie der Person,
- Verhaltensstörung als sozio-kulturelle Abweichung,
- Verhaltensstörung als Ergebnis der Entfremdung von sich selbst.
2.2.1 Verhaltensstörung als Pathologie der Person
Unter dem Etikett der Pathologie werden Verhaltensstörungen als Erkrankung verstanden, die sich nach außen hin als Verhaltenssymptome äußern. Verhaltensweisen tragen dann gewissermaßen Signalcharakter und geben zu erkennen, dass innerhalb des Organismus nach außen nicht sichtbare Störungen vorhanden sind. Wenn die Verhaltensstörung als Krankheit begriffen wird, dann wird die betroffene Person nicht für ihre Störung und damit für ihr Verhalten verantwortlich zu machen sein, sie wird von Antrieben gesteuert, die außerhalb der Reichweite ihrer Kontrolle liegen, die entweder – physiologisch – durch neuronale Bedingungen oder – psychoanalytisch – durch ihr Triebschicksal verursacht sind. Es muss also ungünstige Bedingungen gegeben haben, die im weiteren Verlauf zu pathologischen Erscheinungen geführt oder sie zumindest ausgelöst haben.
Eine Verhaltensstörung wird also als Symptom gesehen, hinter dem sich Ursachen verbergen, die von außen nicht ohne...