E-Book, Deutsch, 106 Seiten
Gomes / Serra / Silver Revolver 32
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7396-1692-6
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 106 Seiten
            ISBN: 978-3-7396-1692-6 
            Verlag: BookRix
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
Was bleibt von einem Film? Woran erinnern wir uns? An die Geschichte oder an die Gesichter? An die Worte oder die Stimmen? Oder geht es um jene Momente, die Albert Serra 'magisch' nennt und Nathan Silver den 'Wahnsinn des Lebens'? Aber was ist dann mit dem Rest davor, danach, dazwischen? Die Frage nach dem Moment als kleinster dramaturgischer Einheit jedenfalls ist das geheime Zentrum, in dem sich die Texte und Interviews kreuzen. Die Herausgeber Inhalt: Revolver live! Albert Serra Monte Hellman, Filmography Revolver live! Ruben Östlund Wortwechsel: Louie Revolver live! Close-up Arsenal Christoph Hochhäusler: Frankenstein-Technik Interview Nathan Silver Marcus Seibert: Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen Revolver ist eine Filmzeitschrift von Filmemachern herausgegeben und erscheint halbjährlich. Der Schwerpunkt liegt auf Werkstattgesprächen 'auf Augenhöhe'. Die Redaktion sind Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Franz Müller, Nicolas Wackerbarth, Marcus Seibert, Saskia Walker, Zsuzsanna Kiraly und Hannes Brühwiler.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Kurzfilm Scen nr: 6882 ur mitt liv (Autobiographical Scene Number 6882). Eine kleine Gruppe junger Menschen Anfang Dreißig steht auf einer Brücke. Es geht um eine Mutprobe. Einer der Männer will den anderen beweisen, dass er von der Brücke in den Fluss springen kann. Ruben Östlund Der Kurzfilm war eine Art Vorstudie für De ofrivilliga (Involuntary). Mich hat interessiert, wie sehr Gruppen das Verhalten des Einzelnen beeinflussen oder begrenzen. Wir haben alle große Angst, das Gesicht zu verlieren vor den Anderen. Die Idee geht zurück auf einen historischen Vorfall, den in Schweden jeder kennt. Ein Mann namens Salomon August Andrée hatte versucht, mit einem Heißluftballon zum Nordpol zu fliegen. Die ganze Crew kam bei dieser Expedition ums Leben. Vor etwa zehn Jahren fand man seine Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, dass er selbst nie an den Erfolg des Unternehmens geglaubt hat. Er war sogar überzeugt davon, dass es schiefgehen würde. Und trotzdem stieg er in diesen Ballon. Das hat mich fasziniert. Er hatte mehr Angst vor der öffentlichen Bloßstellung als vor dem Tod. Das ist eine ganz fundamentale Tatsache des Menschseins. Die Vorstellung unser Gesicht zu verlieren wiegt schwerer als das eigene Leben. Das war die Grundidee des Kurzfilms und in De ofrivilliga habe ich das dann weiter ausgebaut. Es geht um verschiedene Formen von Druck, der durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe erzeugt wird, und der oft zu wirklich fragwürdigen Aktionen führt. Peter Hecker Der Film heißt Scen nr: 6882 ur mitt liv, ein ziemlich langer Titel. Handelt es sich tatsächlich um eine Szene aus deinem Leben? Gibt es auch eine Szene mit der Nummer 6881? Nein, die Geschichte auf der Brücke ist überhaupt nicht autobiografisch. Ich hatte davon in der Boulevardpresse gelesen. Aber ich fahre häufig zum Skifahren in die Berge zusammen mit anderen. Und da versucht man immer sich gegenseitig zu übertrumpfen. Wer ist der Mutigste? Wer macht die spektakulärsten Sprünge? Ich konnte mich also gut mit dieser Situation der Mutprobe identifizieren. Ich weiß, was es heißt, an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu gehen. Aber ‚autobiografisch“ habe ich es genannt, weil das automatisch eine bestimmte Aufmerksamkeit mit sich bringt. ‚Der Künstler gibt etwas von sich preis“, heißt es dann. Beim Drehen ging es mir darum, diesen Moment auf der Brücke möglichst genau zu rekonstruieren und so die Mechanismen herauszuarbeiten, die zu dieser Situation führen. Deshalb haben wir auch nur mit festen Kameraeinstellungen gearbeitet – es sind insgesamt drei – denn so erkennt man ganz genau, ob etwas funktioniert und ob es sich glaubwürdig aus sich heraus entwickelt. In einer festen Totalen siehst Du genau, was möglich ist, wo man hinlaufen und wie man stehen kann, solche ganz einfachen Sachen. Christoph Hochhäusler Ich würde gerne noch einen Schritt zurück gehen zu deinen frühen Skifilmen. Was genau waren das für Filme und inwiefern haben sie etwas mit dem zu tun, was du heute machst? Man kennt doch diese Skateboardclips, in denen junge Männer möglichst halsbrecherische Tricks versuchen; genau so etwas, nur eben auf Skiern. Es ging immer darum, noch höher, noch weiter zu springen, es war ein Wettbewerb. Und es war spannend, das zu filmen. Was passierte dann mit den Filmen? Wurden Sie weitergereicht unter Fans? Ich kenne das von Skaterfreunden: Man nimmt die schlimmsten Unfälle auf und zeigt sie dann anderen Gruppen. Das Publikum für so etwas ist überschaubar. Skifahrer, Leute aus der oberen Mittelschicht, die sich dieses Hobby leisten können, kaufen solche Filme. Es war aber auch toll, das zu drehen, besonders, wenn ich es mit heute vergleiche. Denn wir hatten bis zu hundert Drehtage für einen halbstündigen Film. Wir gingen einfach jeden Tag hoch, egal bei welchem Wetter, filmten und hofften, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Als ich dann an die Filmschule kam, konnte ich gar nicht glauben, dass wir plötzlich einen Langfilm in nur dreißig Tagen drehen sollten. Man entwickelt eine gewisse Ausdauer, wenn man unter diesen Bedingungen in den Bergen dreht, und ich glaube, dass ich heute noch davon profitiere. Wir haben auch gelernt, uns wirklich für das zu interessieren, was sich vor der Kamera ereignet. Denn wir hatten keinen großen Film vor Augen. Unser ganzes Interesse galt den Skifahrern, die Kamera war nur ein technisches Hilfsmittel. Und ich hoffe sehr, dass sich diese Haltung bis heute erhalten hat. Die Kamera ist nur ein Aufnahmegerät, mein Interesse als Filmemacher sollte dem Geschehen vor der Kamera gelten. Es klingt banal, aber das ist es nicht. Was du sagst, entspricht auch deiner grundsätzlichen Ablehnung eines Blickes, der eintauchen, der teilhaben will. Dieser Kurzfilm ist das perfekte Beispiel dafür. Meistens versuchst du, Distanz zu waren. Dein neuester Film, Turist (Höhere Gewalt) weicht etwas davon ab und versucht, das Geschehen dramatisch zu perspektivieren. Dazu kommen wir aber später noch. Siehst Du dich selbst eigentlich als Geschichtenerzähler? Sicherlich, aber der Begriff hat auch einen unangenehmen Beigeschmack für mich. Es gibt so viele Konventionen und Traditionen, die damit verbunden sind, wie eine Geschichte erzählt werden sollte. Wenn man versucht sich daran zu halten, verliert man allzu leicht aus dem Blick, was einen eigentlich interessiert hat. Plötzlich denkst Du, du musst die Kamera in eine andere Richtung schwenken, weil man es eben so macht und weil du es so in anderen Filmen gesehen hast. Es passiert sehr leicht, dass man dann den eigentlichen Gegenstand aus den Augen verliert. Ich finde es interessanter diese Traditionen und Konventionen zu brechen. Was ist also die Funktion der Kamera für dich? Nimmt sie wirklich einfach nur auf? Oft hörst Du Leute sagen, die Kamera ist wie ein Pinsel, mit dem du malst, aber das sehe ich überhaupt nicht so. Filmemachen ist etwas sehr Praktisches. Es gibt ein Bild und du betrachtest es und überlegst, ob du etwas ändern möchtest. Es ist wie beim Grafikdesign oder der Fotografie: Worum geht es mir? Kann ich es sehen oder nicht? So einfach ist das. Die wirklich aufregenden Bilder sind heute auf Youtube zu sehen, nur noch sehr selten im Kino. Das Kino nähert sich mehr und mehr der Oper an. Es läuft Gefahr, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Auf Youtube nehmen die Leute einfach ihre Kamera und filmen das, was sie interessant finden. Sie haben keinen filmgeschichtlichen Unterbau und dennoch sagen ihre Clips, indem sie das Leben zeigen, oft mehr aus über das Menschsein, als Kinofilme das noch tun. Und du versuchst, diese Unbefangenheit, die in diesen Bildern steckt, zu imitieren? Denn du stellst das ja ganz bewusst her, im Bauen von Bildern bist du ja Experte. In vielen Deiner Filme, De ofrivilliga zum Beispiel, hat man das Gefühl, die Kamera wäre nicht von Menschenhand geführt worden, sondern eher zurückgelassen, vergessen worden. Das erinnert manchmal an die Bilder, die wir von Überwachungskameras kennen. Du bedienst dich einer Rhetorik des Registrierens, eines Blicks ohne spezifisches Interesse. Aber das ist natürlich konstruiert. Ja, das stimmt, und ich hatte große Angst demaskiert zu werden, dass die Konstruktion auffliegt. Wir hatten die Kamera ja eigentlich auch so weit entfernt vom Geschehen positioniert, um schlechtes Schauspiel kaschieren zu können. Aber es ging bei dieser Ästhetik auch darum sich abzuheben von anderen. Wenn alle 3 × 3 Meter große Bilder malen, malst du vielleicht besser ein ganz winziges. Es geht darum, Konventionen zu brechen, etwas Neues zu machen, interessanter zu sein als andere. So kamen wir auf die festen Totalen. Und auch auf den Echtzeitaspekt, der aber auch erzählerisch eine Rolle spielt. Die Nähe von Trivialem und Dramatischem und wie sich beides abwechselt und auseinander hervorgeht, das lässt sich in Echtzeit besonders gut herausarbeiten. Wenn in Turist zum Beispiel eine riesige Lawine auf die Leute zurast, und kurz zuvor sagt jemand ‚Ist noch Parmesan übrig?“ und im nächsten Moment fliehen alle in größter Panik, so etwas lässt sich in Echtzeit am besten erzählen. Wir sprachen schon vom Mittel der Distanz. Man ist immer ziemlich weit weg vom Geschehen, du schneidest Menschen am Bildrand ab oder verschiebst sie ins Off. Wie wichtig ist dir das Verständnis durch das Publikum? Ich habe das Gefühl, du vermeidest ganz bewusst eine allzu große emotionale Vereinnahmung. Ich finde diesen wiederkehrenden Aspekt deiner Arbeit sehr bemerkenswert, denn plötzlich fange ich an mich selbst zu befragen zu meiner eigenen Haltung und meinen eigenen Gefühlen zu dem, was auf der Leinwand passiert. Ich glaube, dieses Gefühl stellt sich automatisch ein, wenn man aus der Entfernung auf die Szene schaut, und wenn es keine klare Hauptfigur gibt, die dem Publikum die Gefühle vorlebt. Als ich angefangen habe meine Sachen so aufzunehmen, wollte ich mir auch selbst Grenzen setzen. Wie gesagt erleichtert es auch vieles, ganz praktisch: hier kann ich stehen, hier nicht, das ist möglich und das nicht. Diese Beschränkungen sind hilfreich; es ist einfach leichter Entscheidungen zu treffen, wenn nicht alles möglich ist. Viel interessanter als psychologische Erklärungen finde ich zu beobachten, wie die Figuren innerhalb der Gruppe agieren und wie sich Figurenhandlungen aus dieser Dynamik ableiten. Um das erfassen zu können, ist es, denke ich, einfach notwendig ein bisschen weiter wegzugehen, um die ganze Gruppe im Bild zu haben. ...




