E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Grace Potiki
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30620-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-30620-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der alte Maori-Holzschnitzer konnte sein größtes Lebenswerk, das Versammlungshaus mit den Ahnenfiguren, nicht vollenden; der letzte Pfosten blieb leer. Und Toko, das Kind mit den hellseherischen Kräften, empfängt eines Tages bedrohliche Visionen von der Zukunft seines Dorfes. So kommt Unruhe in den magischen Kreislauf von Mensch und Natur, Tag und Nacht, Leben und Tod in der Maori-Siedlung an der Küste Neuseelands. Der »Dollarmann« taucht auf: Ein moderner Freizeitpark an der Küste verheißt Fortschritt und Einkommen. Die Dorfgemeinschaft versucht den Bulldozern und der Verlockung des großen Geldes zu widerstehen. Da wird Tokos Vision wahr: Die Dollarmänner überfluten die Felder und den Friedhof, und eines Nachts steht sogar das heilige Versammlungshaus in Flammen.
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Prolog
Aus der Mitte Aus dem Nichts Aus dem, was man nicht sieht Aus dem, was man nicht hört Da kommt Ein Schieben Ein Rühren Und ein Vorwärtskriechen Da kommt Ein Stehen Ein Springen In einen äußeren Kreis Da kommt Ein Einziehen Von Atem – Tihe Mauriora Es war einmal ein Holzschnitzer, der beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit Holz, damit, die Figuren, die darin verborgen waren, auszumachen und bloßzulegen. Diese wunderlichen oder mutigen, mürrischen, schrulligen, verschlagenen, betörenden, peinigenden Figuren des Leides oder der Liebe entwickelten sich zunächst in den Wäldern, im Schoß der Bäume, aber es kam auf den Meister mit seinem karakia und seinen Werkzeugen, seinem Verstand und seinem Empfinden, seinem Atem und seiner Besonderheit an, sie in diese Welt zu bringen. Der Baum trägt nach einem Leben des Früchtetragens, nach seinem ersten Tod, in den Händen eines Meisters weiterhin Früchte. Das heißt weder, dass der Mann Herr des Baumes ist. Noch ist er Herr dessen, was schließlich durch seine Hände entsteht. Er ist nur Meister des Handwerks, das zutage bringt, was schon in dem Schoß lag, im Schoß, der ein Baum ist – ein Baum, der seine weitere Zukunft als Haus oder Klassenzimmer oder als Brücke oder Mole zugebracht haben könnte. Oder er könnte auf dem Meer oder einem Fluss dahingetrieben oder von einem Sumpf verschlungen worden sein oder als Uferbefestigung gedient oder sich am Strand hingebreitet haben, wo er zwischen Sand, Steinen und Sonne ausblich. Es ist, als würde ein Kind seinen Vater oder seine Mutter zur Welt bringen, weil das, was unter des Meisters Händen entsteht, älter ist als er, schon aus vergangener Zeit stammt. Wenn der Holzschnitzer stirbt, lässt er ein Haus für sein Volk zurück. Er hinterlässt auch einen Teil seines Selbst – Späne von Herz und Sein, Hunger und Angst, Liebe, Unglück, Hoffnung, Sehnsucht, Freude oder Verzweiflung. Er hat dem Volk sein Selbst gegeben, und er hat mit den eigenen Vorfahren dem Volk auch die seinen gegeben. Und diese Vorfahren kommen mit riesigen Köpfen, die rund oder eckig, spitz oder oval sein können, zu ihrem Volk. Sie haben weit aufgerissene Münder mit herausgestreckter Zunge; aber manchmal ist die Zunge eine Hand oder ein Schwanz, die hinter dem Kopf hervorkommen, oder sie ist wie ein Trichter geformt oder gespalten, wobei beide Teile in verschiedene Richtungen weisen. Es wird einen Grund geben für diese Art von Köpfen oder Zungen, die die Figuren erhalten haben. Die geschnitzten Ahnen sind breitschultrig, haben aber einen gedrungenen Rumpf und kurze Beine und stehen fest auf ihren dreizehigen Füßen. Oder ihr Körper kann groß und gewunden und schuppig sein, Schwimmer, für den Fluss oder das Meer geschaffen. Nach dem Herausformen von Kopf, Körper und Gliedmaßen macht sich der Holzschnitzer ans Glätten der Figuren und schmückt sie dann fein aus. Als letzten Schliff erhalten sie Augen. Das frühere Leben, das Leben im Schoß des Baumes, war eine Zeit ohne Augen, des Wartens, Anschwellens, Erhärtens. Es war eine Zeit des Vorhandenseins, schon mit Augenbrauen, Zunge, Schultern, Fingern, Genitalien, Füßen, Zehen, und des Wartens darauf, als solche zum Vorschein zu kommen. Aber noch ohne Augen. Augen, die sich im Kreise drehen und tanzen, sind die letzte Gabe des Holzschnitzers, aber die Augen sind ebenso eine Gabe des Meeres. Wenn alles beendet ist, hat das Volk seine Ahnen. Es schläft zu ihren Füßen, es lauscht ihren Geschichten, es nennt sie beim Namen, widmet ihnen seine Lieder und Tänze, scherzt mit ihnen, wird zu ihren Kindern, ihren Sklaven, ihren Feinden, ihren Freunden. Auf diese Weise bleiben die Ahnen bekannt und in Erinnerung. Aber an den Holzschnitzer erinnert sich vielleicht keiner mehr, außer einige wenige. Diese wenigen, die mit ihm zusammen aufgewachsen sind oder an seiner Seite gesessen haben, werden hin und wieder an ihn denken und sagen: »Ja, ja, ich erinnere mich an ihn. Er arbeitete Tag und Nacht für unser Volk. Er war ein Meister.« Sie mögen vielleicht hinzufügen, dass er obendrein ein bisschen porangi war oder ein Trunkenbold, ein Klatschmaul, ein Schürzenjäger, ein Spieler oder ein ganz beschissener Künstler. Abgesehen davon, dass er ein bisschen porangi gewesen sein mag und dass er gewiss ein Meister wurde, würde keine dieser Bezeichnungen auf den Holzschnitzer in diesem Kapitel unserer Geschichte zutreffen. Er war ein bescheidener und liebenswürdiger Mann. Er war das jüngste Kind von Eltern in mittleren Jahren, die entschieden, er solle nicht zur Schule gehen, da er ein kränkliches Baby gewesen war. Bevor sie starben und als der Junge zehn Jahre alt war, hüllten sie ihn in Schultertücher und setzten ihn einem Meisterschnitzer, der zu der Zeit gerade mit den Schnitzereien für ein neues Haus begann, zur Seite. Dieser Mann hatte keine Frau. Er hatte keine eigenen Kinder. Der Junge saß da und schaute und hörte zu; bis er vierzehn war, rührte er sich kaum, außer dass er die Späne wegfegte und Holz schmirgelte und polierte. Dann machte der Meister eines Tages aus einem Stück rimu einen neuen Fäustel und schnitzte an der Spitze des Griffs einen Kopf mit einem Schnabel und versah den Kopf mit zwei Augen. Er überreichte den Fäustel dem Jungen und sagte: »Leg deine Schultertücher ab, mein Sohn, und fang an zu arbeiten. Denk dabei immer an zweierlei: Schnitz niemals jemanden nach der eigenen Erinnerung und blas niemals auf die Späne, oder dein Holz wird sich erheben und dich erschlagen.« Der Junge ließ die Tücher fallen und nahm den Fäustel in die Hand. In dem Augenblick verspürte er einen Tritt in den Unterleib. Er kehrte nie wieder zu seinen Tüchern zurück. Er ließ sie genau da fallen, wo er an der Seite seines Mentors gesessen hatte, und griff nie wieder auf sie zurück. Später wurde er selber ein Meister seines Handwerks. Es gab niemanden, der ihm in seinem Können ebenbürtig gewesen wäre, und viele waren der Meinung, dass es niemanden gab, der ihn als Märchen- und Geschichtenerzähler hätte übertreffen können. Gegen Ende seines Lebens arbeitete der Mann an einem Haus, von dem er wusste, dass es sein letztes sein würde. Es war ein kleines und stilles Haus, und das gefiel ihm sehr. Darin steckte die beste Arbeit, die er je geleistet hatte. Es waren keine anderen Holzschnitzer da, um ihm bei seiner Arbeit zu helfen, aber die Leute kamen jeden Tag, um für ihn zu kochen und ihn zu versorgen und Motive zu malen und Bilder zu weben und ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Vor allem kamen sie, um seinen Geschichten zuzuhören, die aus lebendigem Holz waren, seinen Geschichten von den Ahnen. Er erzählte auch die Geschichten der Motive und was für eine Bedeutung die Motive für das Leben hatten. Er erzählte von der Wirkung von Wetter und Wasser auf das Holz und erzählte all das, was er an der Seite seines Meisters gelernt, all das, wofür er sein ganzes Leben gebraucht hatte. Zu der Zeit, als er das letzte poupou für das neue Haus anfing, wurde er krank. Um die anderen poupou, die schon fertig waren, hatte es viele Diskussionen, Streitereien und Entwürfe gegeben. Die Leute waren besorgt, dass auch ja alle Facetten ihres eigenen Lebens und das ihrer Ahnen in dem neuen Haus dargestellt würden. Sie wollten, dass alle bekannten Ahnen, mit denen sie zusammenhingen, mit einbezogen waren, und ebenso sollten die Ahnen mit einbezogen sein, die alle Menschen von der Vergangenheit bis in alle Zukunft mit der Erde und dem Himmel verbanden und die den Menschen von ihrer Beziehung zueinander, zum Licht und zum Wachsen erzählten. Aber über das letzte poupou war nicht debattiert worden, und um dem Mann die Ehre zu erweisen, die ihm gebührte, sagten die Leute: »Das hier ist deines, wir werden nichts dazu sagen. Du sollst selbst entscheiden.« Der Mann wusste, dass diese Arbeit seine letzte war. Er wusste, sie würde seine ganze verbleibende Kraft aufbrauchen, und er würde dennoch die Arbeit nicht vollenden. »Wenn ich das hier nicht zu Ende bringe«, sagte er, »dann deshalb, weil es noch nicht beendet werden kann und weil ich nicht die Kraft dazu habe. Ihr müsst es in euer Haus einsetzen, ob es nun fertig ist oder nicht. Da gibt es etwas, was ich gerne machen würde, aber es kann noch nicht vollendet werden. Es gibt noch keinen, der es für mich fortsetzen kann, weil da ein Teil ist, den noch niemand kennt. Es gibt noch keinen, der es vollenden könnte, das muss irgendwann in der Zukunft geschehen. Wenn es bekannt ist, wird es vollendet werden. Und da ist noch etwas, was ich euch erzählen muss. Der Teil, den ich mache, die Figur, die ich aus dem Holz herausarbeite, stammt aus meiner eigenen lebendigen Erinnerung. Es ist wohl verboten, aber es ist das, was ich unbedingt machen wollte.« Die Leute sagten nichts. Sie konnten es ihm nicht verbieten. Still gingen sie davon, als er sich der Werkstatt...