Grän | Dame sticht Bube | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Grän Dame sticht Bube


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95530-197-2
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-95530-197-2
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Dr. Eva Röhm ist dem Tod sehr nahe und hütet die Geheimnisse ihres Lebens. Eva liebt das Schweigen und die Lüge, auch wenn es bei ihrer Arbeit am rechtsmedizinischen Institut stets um das Finden von Wahrheit geht. Die Lüge hat sie ihr ganzes Leben begleitet. Angefangen hat alles in ihrer Kindheit und Jugend, die sie in einem österreichischen Kaff im Mief des Kleinbürgertums und der sexuellen Repression verbrachte, und endete im Scheitern ihrer Ehe und dem Verlust des Sorgerechts für ihr Kind. Doch kampflos ergibt sie sich ihrem Schicksal nicht. Von der Kunst des Lebens, der Vergeblichkeit der Liebe und Begegnungen mit dem Tod handelt dieser vielschichtige Roman.

Christine Grän, geb. 18. April 1952 in Graz, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Anglistikstudium in ihrer Heimatstadt als Gesellschafts-Redakteurin beim Bonner Generalanzeiger. Insgesamt fünf Jahre lebte sie in Botswana / Afrika, wo sie eine Lodge leitete. Dort enstand auch erste Anna-Marx-Krimi »Weiße sterben selten in Samyana«, der nach ihrer Rückkehr 1986 veröffentlicht wurde. Seither arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin, u. a. für die »Welthungerhilfe«. Christine Grän ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt heute in München.
Grän Dame sticht Bube jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2. Kapitel


Der Kirschbaum im Garten bot kein Versteck vor Magda, der Unbarmherzigen. Sie wußte, wie gern ich die süßen Kirschen aß, oben in den Ästen sitzend, wo ich auf sie herabsehen konnte und über sie hinweg auf die Straße, die vom Grundstück meines Vaters durch eine Steinmauer getrennt war.

Meine Mutter stand unter mir, und ich widerstand der Versuchung, einen Kirschkern auf die akkuraten braunen Locken zu spucken. Sie waren eingelegt wie Zwiebelringe und mit Spray zementiert. Kein Haar hätte es gewagt, die abscheuliche Perfektion durch Widerspenstigkeit zu torpedieren. Ich spuckte den Kern über die Mauer.

«Komm sofort runter, Eva». Die Stimme meiner Mutter war leise und durchdringend.

«Warum?» Wir kannten die Antwort, doch ich versuchte, sie hinauszuzögern.

«Das weißt du ganz genau. Die Kirschen sind noch nicht reif. Und WENN sie reif sind, werden wir sie gemeinsam pflücken, und wir werden Kirschmarmelade kochen, wie in jedem Jahr. Du wirst mir helfen, die Kirschen zu entsteinen – und nur so viel essen, wie es bekömmlich ist.»

«Bekömmlich», das war eines ihrer Lieblingsworte. Sie spitzte ihre schmalen Lippen, wenn sie es aussprach, dieses Wort. Ich sagte «Sie sind aber schon reif», bevor ich vom Baum kletterte, und sie sagte «Ich weiß es besser, mein Kind», als ich vor ihr stand. Nicht laut, sie wurde sehr selten laut, meine Mutter, doch die Summe ihrer leisen Worte war infernalisches Geschrei. Sie nahm meine Hand und lächelte beinahe. «Außerdem wirst du langsam zu alt, um in Bäumen rumzuklettern. Es gehört sich nicht.»

Auch dieser letzte Satz fand häufige Verwendung in unserem Haus. Magda setzte ihn gegen das Hausmädchen, meinen Vater, die Sprechstundenhilfen und gegen mich ein. Es gab sehr viele Dinge, die Mutter ungehörig fand, und ganz am Anfang stand die Beziehung zwischen meinem Vater und einer Sprechstundenhilfe namens Dorothea. Dorothea trug einen dicken, blonden Zopf, sie hatte blaue Augen und war sehr lustig, noch war sie es, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß es auf Dauer gutgehen konnte. Möglich, daß Mutters Lippen noch ein bißchen schmaler geworden waren. Sie wird Vater ein Ultimatum stellen, und Dorothea wird gehen, dachte ich. Sie wird ihre leisen Sätze wie Messer auf ihn werfen, und er wird nachgeben, weil er ein Feigling ist. Ein unmoralischer Feigling natürlich. Seit einer Woche, seit Mutter sie bei einem Kuß in der Toilette ertappt hatte (ausgerechnet, ich hätte mir etwas mehr Romantik gewünscht), betrat sie die Praxis nicht mehr und konzentrierte ihre Energie auf meine Person. Mutters Energie drückte sich in Wortschwallen aus, sie redete un- unterbrochen, so kam es mir jedenfalls vor, und ihre beherrschte, eindringliche Stimme verfolgte mich bis in meine Träume.

Ich bedauerte, daß ich erst siebzehn war und Ferien hatte, und daß Vater und die kleine Blonde einander in der Toilette gefunden hatten. Es war, als hätten sich alle Erwachsenen gegen mich verschworen mit dem Ziel, mich unglücklich zu machen.

«Robert kommt heute nachmittag vorbei, ich habe ihn zum Kaffee eingeladen. Er ist ein so netter junger Mann, und ich wünschte, du würdest ihn etwas liebenswürdiger behandeln. Schließlich hat er sich bereit erklärt, dir Nachhilfestunden in Mathematik zu geben, und weiß Gott, du bist nicht in der Situation, ein so großherziges Angebot auszuschlagen, Eva. Ich weiß wirklich nicht, was du gegen ihn hast.»

«Er ist ein Idiot.» Wir waren in der Küche angelangt, und ich nahm mir ein Stück Extrawurst aus dem Kühlschrank. «Und wenn du nicht dabei bist, legt er seinen Kopf an meinen Busen. Er ist ein Busenfetischist.»

«Du bist unmöglich. Ich glaube dir kein Wort. Und du sollst nicht vor dem Mittagessen naschen, wie oft soll ich dir das noch sagen.»

Ich stopfte die Wurst in den Mund. Aus dem Wohnzimmer war das Geräusch des Staubsaugers zu hören. Emma, unser aller Hausdrachen, schmetterte ein Volkslied dazu, obwohl ihr unter Mutters Regime das Singen längst hätte vergehen müssen. Emma war fünfundsechzig und ein bißchen taub, vielleicht lag es daran, daß sie noch bei uns war. Emma kochte wie eine Göttin und putzte wie der Teufel. Doch Emma liebte den Schnaps, ein Laster, das Mutter ihr nur nachsah, weil sie ihn selten vor Sonnenuntergang trank.

Es gab Ausnahmen mit dazugehörigen Katastrophen. Letzte Weihnachten hatte Emma, offenbar im Halbrausch, Salz statt Zucker in den Apfelstrudel getan, dies jedoch auf Vorhalt meiner Mutter heftig bestritten. Auch, als sie ihn kosten mußte, widersprach sie Magda, was diese so in Rage brachte, daß wir uns den Rest des Abends Emmas Sündenregister anhören mußten. Mutter hatte alles parat, auch, daß Emma mich als Baby vom Wickeltisch fallen ließ. Sie vergaß nichts und sie verzieh nichts, meine Mutter, und sie brachte es fertig, daß ich mich in ihrer Gegenwart stets schuldig fühlte.

Jeden Mittag, um zwölf Uhr, wurde im Speisezimmer, das an die Küche grenzte, gegessen. Emma servierte, durfte aber mit uns am Tisch sitzen. Früher waren auch die Sprechstundenhilfen dabeigewesen, ein soziales Arrangement, das Mutter zur Zeit außer Vollzug gesetzt hatte. Vater sprach wenig bei Tisch, nun eigentlich gar nichts mehr. Er salzte seine Speisen, bevor er sie probierte, dann senkte er den Kopf und widmete sich schweigend den Braten oder Knödeln oder Krautfleckerln, allem, was Emmas böhmisch-österreichische Kochkunst hergab. Mutter pickte allzu demonstrativ von ihrem Teller.

Ich hatte meine Mutter nie viel essen sehen, sie jedoch im Verdacht, heimlich an den Kühlschrank zu gehen oder an die Schublade, in der Süßigkeiten aufbewahrt wurden. Sie war ein Heimlichfresser und sie fand es sehr ungerecht, daß mein zierlicher Vater in aller Öffentlichkeit so viel essen konnte, wie er wollte, ohne jemals zuzunehmen.

«Nun iß doch, Kind», sagte Emma und hielt mir die Schüssel mit den Krautfleckerln hin.

«Sie sollte sich mäßigen, sie wird zu dick», sagte Mutter und stellte die Schüssel zurück. Mein Vater warf mir seinen Laß-sie-reden-Blick zu. Magda und Emma begannen über Begriffe der Leiblichkeit zu streiten, wobei letztere keine Chance hatte, auch wenn sie ihre Argumente zunehmend im Ottakringer Dialekt vortrug, den im Haus zu sprechen Mutter ihr verboten hatte. Emma schnaufte vor Zorn, als sie die Teller und Schüsseln abtrug, und Magda sagte: «Ich weiß nicht, womit ich all das Ungemach verdient habe.» Mit Blick auf Vater, Emma und mich. Der Rundumschlag. In wohlgesetzten Worten vorgetragen und durch Leidensmiene verstärkt.

Ich hielt meine Augen gesenkt und wippte aufrührerisch mit den Zehenspitzen. Vater stand auf. «Jeder bekommt letztendlich, was er verdient», sagte er und flüchtete sich zurück in die Praxis.

Mutters Gesicht war so hart, daß ich dachte, ein Messer würde abprallen, wenn man es denn zu werfen wagte. «Darf ich aufstehen?» Sie nickte, und als ich ihr den Tochterkuß auf die rechte Wange gab, meinte ich, Tränenflüssigkeit in ihren Augen zu sehen, aber das konnte nicht sein, ich mußte mich getäuscht haben. «Ich bin noch ein bißchen mit dem Fahrrad unterwegs.»

«Sei vorsichtig. Und denk daran, rechtzeitig zu deiner Verabredung zurück zu sein.»

Nicht MEINE Verabredung, ich würde mich nie mit einem Jungen einlassen, der schweißnasse Hände und gierige kleine Augen hat, die an meinem Busen klebten. Robert war ein ekliges Ferkel, und daß er der Sohn des Bürgermeisters war, vermochte mich nicht zu beeindrucken. Was war schon Obrigkeit in einem Kaff irgendwo zwischen Wien und der Provinzsteppe? Zehntausend Seelen, die meisten katholisch, überwiegend Nichtakademiker und in der Feuerwerkskörperfabrik beschäftigt, die dem Direktor Paschel gehörte, mit dessen beiden Töchtern ich dieselbe Klasse des Gymnasiums der Kreisstadt teilte. Ich fuhr mit dem Bus hin, die beiden wurden chauffiert. Vielleicht meinten sie deshalb, etwas Besonderes zu sein. Doch Kaff ist Kaff. In unserem gab es zwei Kirchen und vier Gasthäuser, zwei Arztpraxen und eine Apotheke, eine Konditorei mit angeschlossenem Kaffeehaus, den Fleischer und den Bäcker und drei Gemischtwarenläden. Ich sehnte mich an jeden Ort, der außerhalb unseres Kaffs lag. Hier kannte jeder jeden, und nichts blieb unbemerkt, ungestraft. Vermutlich wußten sie bereits alle von der Geschichte zwischen meinem Vater und Dorothea. Flüsterten darüber im Kaffeehaus, in ihren kleinen Vorgärten vor ihren kleinen Häusern aus schmutzigem Weiß, empörten sich in ihren Wohn- oder Bauernstuben und liefen dann in die Praxis meines Vaters, wo sie stundenlang im Wartezimmer saßen und bedeutungsvolle Blicke auf Dorothea warfen, die tückische Ehebrecherin mit dem blonden Zopf und dem unverschämten Lachen. Und sah der Doktor nicht immer kränklicher aus, was kein Wunder war bei dem unsittlichen Lebenswandel, und die arme Frau Doktor, die man gar nicht mehr in der Praxis sah, so eine Schande, weil sie doch immer so freundlich mit einem geredet hatte ...

Ich radelte durch das Kaff und spürte ihre neugierigen Blicke im Rücken. Frau Pöschl würde sich später bei meiner Mutter beschweren, daß ich sie nicht gegrüßt hatte. Tante Ludovika sah ich im Kaffeehaus sitzen, als ich vorbeiradelte, das tat sie immer um diese Zeit, sie war eine Tratsche von besonderer Bösartigkeit und eine meiner ärgsten Feindinnen. In der Aufzählung der örtlichen Sehenswürdigkeiten habe ich meine Verwandtschaft mütterlicherseits vergessen, die Tanten und Cousinen, ein Stall von Frauen, in dem die paar Männer kaum ins Gewicht fielen. Mutters kastenförmige Schwestern waren allesamt gewaltige Wortmaschinen. Es gab wirklich nichts, das sie bei den allseits gepflegten...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.