E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Grän Hurenkind
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95530-199-6
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-95530-199-6
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
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Christine Grän, geb. 18. April 1952 in Graz, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Anglistikstudium in ihrer Heimatstadt als Gesellschafts-Redakteurin beim Bonner Generalanzeiger. Insgesamt fünf Jahre lebte sie in Botswana / Afrika, wo sie eine Lodge leitete. Dort enstand auch erste Anna-Marx-Krimi »Weiße sterben selten in Samyana«, der nach ihrer Rückkehr 1986 veröffentlicht wurde. Seither arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin, u. a. für die »Welthungerhilfe«. Christine Grän ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt heute in München.
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel
MARIE
S Die Frage steht im Raum, und die klugen Frauen winden sich in frigidem Schweigen. Die Männer lächeln, denn wer oben liegt, der weiß Bescheid. Sex ist ein Thema, das berührt. Sex steigert die Auflage. Sex ist die Aktie, die sich jeder kaufen kann, das Allgemeingut unserer Erfahrungen, Ängste und Begierden. Also sprechen wir darüber, als ob es auf überflüssige Fragen flüssige Antworten gäbe, und wir sind geübt darin, über alles zu reden, was wir nicht denken, woran wir nicht glauben, was wir nicht tun. Eine Allianz von Affen in intellektueller Rüstung, sexuell leicht erregbar. Wer nichts zu sagen hat, gilt als impotent. Also öffne ich meinen Mund. »Ficken kluge Männer aufregender?«
Conrad bestraft mich mit einem sehr irritierten Blick. An seinem Oberlippenbart kleben Spuren von Eigelb. Jeden Morgen isst Conrad Bartsch vier Scheiben Toast mit Diätmargarine und zwei gekochte Eier im Glas, außen fest und innen weich, exakt vier Minuten gekocht. Dazu trinkt er vier Tassen fair gehandelten Kaffees, der gute Mensch der globalen Gesten. Ich kenne seine Frühstücksgewohnheiten, denn ich habe drei Nächte mit ihm verbracht. Ich lag unter ihm, die Schwere des Chefredakteurs ertragend, um aufzusteigen. Eine Frau mit meiner Vergangenheit sucht Abkürzungen auf dem Weg nach oben. Jetzt bin ich Ressortleiterin, die jüngste der Zeitung. Ich möchte geliebt werden und weiß, dass all die Übergangenen, Erfolglosen, nicht mehr Jungen und niemals Schönen mich hassen und auf einen Fehler warten, der mich vernichten könnte.
Erfolgreiche Männer sind hastige Liebhaber, denn sie haben wenig Zeit zu vergeben. Ich spreche es nicht aus, denn ich will niemanden verletzen, der mir schaden könnte. Wir alle wollen geliebt werden.
Conrad hat eine Frau mit einem Bein geheiratet, und wir wissen, dass er etwas Besonderes ist. Einer, der Behinderungen als Herausforderung betrachtet. Unsere äußerliche Unversehrtheit reizt ihn zu moralischer Verstümmelung. Die Redaktionskonferenz ist sein Spielplatz zur Dressur von Labormäusen. Wir können uns ihm widersetzen, ihm widersprechen – oder den Weg des geringsten Widerstands gehen, den wir als angenehmer empfinden. Die Story schlachten, wenn er sie kritisch hinterfragt. Die Ideen anderer loben, bis er argwöhnisch blinzelt. Wir sind biegsam bis zum Umfallen, aber darin sind wir gut.
Keiner liebt uns, wenn wir zu den Verlierern zählen, und wer wüsste das besser als ich, die achtzehn lange Jahre im Hinterhof der Gesellschaft lebte, im Außentoilettenmilieu der lästigen Kinder und überforderten Mütter. Meine war schon tot, als ich auf die Welt kam, irgendwann im Lauf ihres Hurenlebens zur Hülle verkommen, die wie ein Mensch funktionierte, um zu trinken, zu essen, zu atmen und eine gute Mutter zu sein. Denn das war sie, wenn sie nicht betrunken war oder ihre Freier bediente, zuerst auf dem Straßenstrich und dann als Frau mit der Peitsche in einem zweitklassigen Bordell. Mein kleines Geheimnis, das ich hüte wie einen Schatz, der sich nicht begraben lässt.
Ich schätze meine Selbstdisziplin, die sich von den Schwächen der anderen wohltuend abhebt. Isolde kaut an ihren Fingernägeln. Sie neigt dazu, in Tränen auszubrechen, wenn Conrad sie verbal angreift, und er ist in einer seiner gefährlichen Stimmungen, in denen er ein Opfer braucht, um sich besser zu fühlen. Isolde präsentiert sich der Welt als Opfer, das Schonung verdient. Zwei Selbstmordversuche, von denen alle wissen, sind keine schlechte Rüstung gegen Conrads Attacken auf die Kulturredaktion, obwohl sie als bekennende Lesbierin bereits Artenschutz genießt. Wir alle, die wir unsere unsichtbaren Behinderungen vor den anderen zu bewahren suchen, verachten sie für den tauglichen Versuch, Schwächen in Stärken zu verwandeln. Conrad fürchtet ihre Tränen und belässt es bei einem milden Tadel. Er beauftragt mich, das Thema Sex und IQ zu recherchieren, und ich könnte es als Affront betrachten oder auch als Auszeichnung für geschlechtsneutrale Professionalität. Es gibt nicht genug Kriege und Katastrophen, um alle Seiten zu füllen. Wir leben in einer Welt, die sich durch Grausamkeit und Dummheit auszeichnet. Wir leben gut darin und sind, wie gesagt, sehr anpassungsfähig.
Eckhardt träumt von einem Glas Whisky. Unser Redaktionsalkoholiker, der sich von den Gewohnheitstrinkern abgesetzt hat. Eckhardt war ein guter Journalist, der seine Karriere allmählich in Flaschen abfüllte. Ich mag ihn, weil er unwiderruflich aus dem Rennen ist und dies mit gewisser Würde trägt. Eines Abends versprach er mir, mit dem Trinken aufzuhören, wenn ich ihm meine Gunst schenkte. Ein fünfzigjähriger Mann, der Conrad verachtet und in Egon Erwin Kisch den letzten großen deutschen Journalisten sieht. Nichts ist erregender als die Wahrheit. Ich hätte ihm von den drei Entziehungskuren meiner Mutter und ihren unausweichlichen Rückfällen erzählen können. Was ich nicht tat, weil ich die Frau aus meiner offiziellen Biografie gestrichen habe. Statt dessen brachte ich die Anonymen Alkoholiker ins Spiel, und Eckhardt antwortete, dass er den Anblick von Säufern nicht ertragen könne. Er betrachtete sich in der spiegelnden Scheibe des Fensters, lächelte melancholisch und griff zur Flasche, die er in seinem Computerschreibtisch aufbewahrt. Eckhardt trinkt aus einem angelaufenen Silberbecher, stilvoll und mit unerbittlicher Konsequenz. Er trinkt, während meine Mutter aus der Flasche soff. Sie war eine gute, lallende Mutter, die ich später, als ich älter war, vor Kneipen aufsammelte, wo sie manchmal in ihrem Urin lag. Der Geruch macht mich krank, heute noch, und ich habe meine Blase dahingehend trainiert, öffendiche Toiletten zu meiden.
Eckhardt hat alles im Griff und nichts unter Kontrolle. Ihm unterlaufen Fehler, manchmal, und wir fragen uns, warum Conrad ihn nicht längst gefeuert hat. Weil ich es liebe, das Schlechteste von anderen zu denken, stelle ich mir eine Leiche in Conrads Keller vor, von der Eckhardt weiß. Er ist der dienstälteste Redakteur und mit Conrad befreundet. Seine Verehrung meiner Person ist sexuell schmeichelhaft und, wie ich hoffe, taktisch verwertbar. Uns trennen zwanzig Jahre, die ich ungleich besser nutzen werde als er.
Eines Tages werde ich auf Conrads Stuhl sitzen, denn ich beobachte ihn und lerne von ihm. Die Zeit der jungen Frauen ist angebrochen, er weiß es nur noch nicht. Fette, despotische, mit ihrer umfassenden Bildung prahlende Chefredakteure sind im Aussterben begriffen. Er kann mit Computern nicht umgehen und benutzt für seine Leitartikel immer noch die Schreibmaschine. Er ist tot. Ich habe seiner Urne einen Platz auf meinem Schreibtisch zugewiesen, im großen Acrylaschenbecher.
Conrad raucht nicht mehr. Es wird nicht mehr gequalmt in den Redaktionskonferenzen. Die Luft wäre gut, wenn sie nicht verbraucht wäre von unserem konkurrierenden Atem und dem Kohlenmonoxyd des Neids. Die Fenster sind verriegelt, weil wir in klimatisierten Räumen arbeiten, in einem Glashaus mit Betonpfeilern, in dem die Architekten ihre Vorstellung von Macht und Transparenz verwirklichten.
Im innersten Kern sitzt ein ansehnlicher Haufen von Jasagern, die gelegentlich Bedenken äußern und noch seltener zu ihren Meinungen stehen. Haben wir eine? Brauchen wir eine? Wir sind doch nur Chronisten einer Zeit, die von Tagesaktualitäten lebt. Gestern interessiert keinen. Der Krieg und die Katastrophe finden morgen woanders statt, und Politikerworte sind ohnehin eine Endloskette von Lügen oder Halbwahrheiten. So ist es, und wer bin ich, die Welt neu erschaffen zu wollen? Die Maxime des Handelns erfordert eine gewisse Reduzierung des Denkens. Und Konzentration auf das Wesentliche: Karriere, Lebensqualität, die Besinnung auf alle Äußerlichkeiten, deren Wirkung auf andere unser einsames Streben durchaus erwärmen kann. Ich meine Sex.
Wir sind unter den ersten fünf der deutschen Zeitungswelt, und Conrad wird nicht ruhen, bis wir ganz oben sind. Auflagen und Anzeigen sind das Gebet und die Peitsche, mit der er uns treibt. Redaktionskonferenzen sind Messen mit satanischem Einschlag. Das Ritual besteht darin, dass stets einer geschlachtet und einer gepriesen wird. An diesem Vormittag ist Ulrike der Star, während Oswald zu guter Letzt für einen Wirtschaftskommentar gezüchtigt wird. Er trägt es mit einem Lächeln, denn sein Gesicht kennt nur zwei Grundeinstellungen: die andere ist ernste, teilnahmsvolle Aufmerksamkeit. Gottes Hand ist ebenso wenig erkennbar wie die des Teufels. Der junge Smarte ist ein Neffe der Verlegerin, und einige sagen, dass wir ein perfektes Paar abgeben könnten. Was soll ich mit einer schlechten Kopie meiner selbst? Ich flirte mit ihm und warte auf den Tag, an dem er mich fürchten lernt. Weil ich der Typ bin, der Gegnern ins Gesicht lächelt und in den Rücken schießt. Ich glaube, dass auch er dazu neigt, weshalb ich vorsorglich das Gerücht streute, dass er ein Schwuler mit sehr bedenklichen sexuellen Präferenzen sei.
Ulrike glaubte es nicht so recht, obwohl wir gewissermaßen befreundet sind. Sie ist geschieden und allein erziehende Mutter von zwei Söhnen, die in Rauchwolken aufwachsen. Sie hasst ihre...