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E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Graf Bolwieser

Roman einer Ehe
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0867-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman einer Ehe

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0867-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als der Bahnhofsvorsteher Xaver Bolwieser erfährt, dass seine Frau ihn betrügt, gerät seine kleinbürgerliche Welt ins Wanken. Die Gerüchteküche brodelt. Um seine Ehe und seine Ehre zu retten, schwört Bolwieser einen verhängnisvollen Meineid. Der erste »Spießerroman« Grafs , tragikomisch und realistisch erzählt: Ein Mann ist seiner Frau hörig, seine blinde Liebe treibt ihn in die Katastrophe.

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.
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II.


Wenn ein kleinstädtischer Familienmensch, der gewohnt ist, tagaus, tagein streng eingeteilt seine liebgewonnene Arbeit zu verrichten, auf einmal zwei, drei Stunden in einer fremden, heißen, lärmenden Großstadt wartend zubringen muß, das macht ihn müde und unlustig. Anfangs hat er noch einen klaren Kopf. Er überlegt geruhig, wie er seiner Frau eine Freude machen könnte. Tausend wünschenswerte Dinge sieht er in den Auslagen aufgestapelt. So viele Nettigkeiten entdeckt er darunter, daß ihm die Wahl schwer wird. Endlich geht er doch in einen Laden, kauft schüchtern etwas, freut sich darüber, aber schon drei, vier Schritte weiter, in einer anderen Auslage oder im Warenhaus, fällt ihm weit Schöneres in die Augen und ist womöglich noch billiger. Er ärgert sich, daß er sich beim ersten Antrieb gleich so überrumpeln ließ. Die Fülle der Abwechslung verwirrt ihn. Die Menge stumpft ihn schnell ab. Er sieht zuletzt überhaupt nichts mehr und will auch nichts mehr sehen. Er läuft planlos durch die Straßen und weiß nicht, was er unter den vielen hastigen Menschen anfangen soll. Jeder und jede ?iehen an ihm vorüber, seine Blicke wollen verweilen, wollen ein Bild, ein Ganzes, aber ehe er richtig zum Schauen kommt, ist alles schon wieder weggeweht. Die grellen Farben kühner Damenkleider, ein schöngeschwungenes, glänzend bestrumpftes Bein, verstörte und heitere Gesichter, eine geschwinde Welle Duft, ratternde Trambahnen, surrende Autos, Schutzmannshelme, Hupen, Klingeln, Signale, Krachen und Wortfetzen – alles wirbelt als undeutliches Gemeng durch ihn, und er wird mehr und immer mehr interesselos. Verhetzt kommt er in ein Café, durchblättert gleichgültig die Zeitungen, er verdöst da und dort die Zeit, steht zum Schluß noch verdrießlicher auf, geht wiederum zwecklos herum und kommt sich ganz ausgepumpt und verloren vor.

So kam Bolwieser viel zu früh in den Justizpalast. Mißmutig suchte er die Türe des auf seiner Vorladung bezeichneten Sitzungssaales, doch sie war verschlossen.

Was nun? Etwa wieder auf die Straßen? Die restliche Zeit abermals so sinnlos in einem Café oder Wirtshaus verwarten? Unschlüssig tappte er in den leeren, kühlen, hochgewölbten Gängen hin und her. Einsam hallten seine Schritte auf dem glatten Steinp? aster.

In seiner Mappe hatte er zwei Paar Seidenstrümpfe für seine Frau und eine nettbedruckte Schachtel wohlriechender Seife. In einem daneben baumelnden Päckchen trug er ein Hemdhöschen, Größe 44. Die Nummer hatte er sich einmal gemerkt. Sie paßte. Er sah Hanni in dem anschmiegsamen, ?ießenden Crêpe de Chine und wurde sekundenlang freudig erregt. Doch das Päckchen genierte ihn fürchterlich. So verräterisch sichtbar stand die Firma auf dem weißen Papier. Jeder Mensch witterte schnell, was er bei sich trug, und belächelte ihn insgeheim.

Was hatte er nicht ohnehin schon beim Einkauf ausgestanden! Tölpisch und mit beklommener Verlegenheit verlangte er, und die Verkäuferin zeigt ihm eine verführerisch wirre Auswahl der neuesten Modelle. Sie richtete kecke Fragen an ihn, und er wußte kaum zu antworten. Er empfand ihre Überfreundlichkeit als beschämenden Spott, als eine derartige Bloßstellung seiner geheimsten Regungen, daß er brandrot wurde und sich das teuerste Ding willenlos aufschwatzen ließ.

Und jetzt? Er schämte sich noch mehr. Hil? os schaute er auf das Päckchen. Endlich nahm er sich ein Herz und pfropfte es in die Mappe, die sich nun prall bauchte. Mit aller Kraft zog er die Schließe zu. Gott sei Dank! Er war wieder ein Mensch ohne jede Verfänglichkeit. Sein Geheimes war wieder geheim und unsichtbar.

Aus purer Langeweile ging er in den nächstbesten Zuhörerraum einer Schwurgerichtsverhandlung. Er wollte eigentlich nur ausrasten und setzte sich still zwischen die vielen Leute. Seine Mappe legte er auf den Schoß. Langsam verebbte das tausendfache Geräusch der Straßen in ihm. Beruhigt atmete er und hörte anfangs kaum hin. Vorläu?g vergewisserte er sich nur über seine Umgebung. Er betrachtete den langschädeligen, bebrillten Vorsitzenden mit dem grauen Bart, er schaute der Reihe nach jedes Gesicht am Richtertisch an. Wie ein praller Steinpilz sah der schiefbekappte Kopf des Staatsanwaltes aus. Dicke, rote Schmisse waren auf den Backen. Die beiden Beisitzer lispelten einander manchmal etwas ins Ohr, dann spielte der eine wieder mit seinem Bleistift. Die meisten Geschworenen starrten wie Ölgötzen geradeaus und hatten ihre Hände auf dem Tisch. Zwei Bauern waren darunter mit breiten, braungerösteten Schädeln. Die hatten lebhaftere Augen. Der Gerichtsschreiber beugte sich hin und wieder tief ins Papier und schrieb hastig.

Ausschließlich bäuerliche Leute saßen auf der Zeugenbank: Dör?er mit ledernen Gesichtern und hängenden Bärten, zerfaltete Weiber mit enganliegenden Spenzern, langen, wallenden Röcken und Kopftüchern, festgewachsene, unruhig dreinschauende Mägde, ein Gendarm und etliche Knechte.

Bolwieser hatte draußen vor der Tür nicht einmal das Register gelesen und wußte nun nicht, was hier verhandelt wurde. Auch zu fragen wagte er niemanden, da alle höchst gespannt lauschten. Das beein?ußte auch ihn. Seine Gleichgültigkeit wich. Nach den ersten vier oder fünf Fragen war auch er gebannt.

Eine rothaarige Magd stand vor den Richtern. Ein breitbeiniges, kräftiges Gestell machte sie her und redete merkwürdig gehemmt. Sie ?el vom halbwegigen Hochdeutsch immer wieder in den Dialekt. Sie ?ng an wie ein benommenes Schulkind, kaum aber war sie im Schwung, so wurde sie sicherer.

»Ja«, erzählte sie, »das ist g’wesen am Rosenkranzsonntag. Da hat der Baur zu mir gesagt, ich soll ihm den Wagen reinschieben helfen … Es regnet ihn sonst voll, sagt er. Und wie wir in der Tenn’ g’wesen sind, geht er von der Deichsel hinterwärts und sagt: ›Wart a bissl, Liesl!‹ Ich hab auf und davon wollen, aber er hat mich packt und gesagt hat er: ›Liesl, auf Ehr und Seligkeit, ich heirat’ di, wenn die Oit’ hin is! Es daurt sowieso nimmer lang bei ihr. Dofür konn i einsteh’!‹«

Der Vorsitzende nahm sie fest aufs Korn und fragte: »Können Sie sich ganz genau erinnern, daß er gesagt hat: ›Dafür kann ich einstehen‹?« Mit lauernd vorgebeugtem Kopf saß er da. Rundum stockte es.

»J- ja, g-nau so«, stotterte die Magd zaudernd.

In diesem Augenblick erhob sich der Angeklagte, ein riesenhafter Bauer mit viereckigen Schultern, und schrie dazwischen: »Dös is lauter Lug und Trug! Dö lüagt, wenn s’ ’s Mäu aufmacht!«

Der Verteidiger wollte ihn mit einer Handbewegung besänftigen. Doch der Bauer stand steil da und schrie schon wieder: »Jed’s do herinn’ hot si’ geg’n mi verschwor’n!«

»Ruhe! Wenn Sie nicht endlich Ihre Zwischenrufe lassen, werden Sie abgeführt. Reden Sie, wenn Sie gefragt werden!« donnerte ihn der Vorsitzende an. Aufregung schwirrte durch den Saal.

»Na, gor it bin i stad … Gor it aa! I loss mi it ’neireiten von dö Saumenscher!« plärrte der Bauer. Zwei Schutzleute näherten sich auf ein Zeichen des Vorsitzenden dem Angeklagten. Er machte eine Gebärde, als wolle er auf sie losspringen, und brüllte wild auf: »Ungerechtigkeit …!« Da faßten ihn die beiden Polizisten und zerrten ihn aus dem Saal. Noch an der Türe schrie er zurück: »Wenn Sie fünf Johr lang a lahm’s Weib hob’n und san g’sund, nachher gehnger S’ aa neb’n naus!«

Einige Zuhörer waren halb aufgestanden. Ein Gemurmel ging um. Wie gelähmt saßen die Zeugen da. Die Magd vor dem Richtertisch hatte sich umgedreht und sah unruhig in die Gegend der Türe. Ihr sommersprossiges Gesicht wurde blaß, dann ebenso schnell rot. Ihre kleinen stechenden Augen ?ackerten kurz auf.

»Ruhe!« wiederholte der Vorsitzende und wandte sich erneut an die Zeugin: »Also er hat gesagt: ›Dafür kann er einstehen, daß seine Frau nicht mehr lange lebt‹?«

»Daß ’s nimmer lang daurt bei ihr«, verbesserte ihn die Magd.

»Jajaja, aber gemeint hat er doch, daß sie nicht mehr lang lebt?« beharrte der Vorsitzende: »Oder wie haben Sie das verstanden, Fräulein Hocheder?«

»Sie is ja scho hübsch schwaar dro’gwen, d’ Bichlerin … Ob er grod gmoant hot, er raamt s’ weg, dös will i’ it behaupten«, redete sich die Magd geschickt hinaus. Es ging eine Zeitlang hartnäckig hin und her. Der Ausdruck: »Dafür kann ich einstehen« galt als erwiesen.

»Also und dann, damals am Rosenkranzsonntag nachts um neun Uhr … Wie ist das dann weitergegangen?« half der Vorsitzende der etwas eingeschüchterten Zeugin nach, und sie fuhr fort: »Und ich hab zu ihm g’sagt: ›I mog net. Baur! A Schand’ is’s! Wennst a Wittiber waarst, nachher tat i nix sog’n.‹ Und auf das hin bin i dieselbige Nacht noch auf und davon, weil ich mich gforchten hab.«

»Und dann sind Sie aber doch wieder zurückgekommen am Dienstag drauf? Warum haben Sie denn das gemacht?« erkundigte sich der Vorsitzende. Die Magd schien schwer zu überlegen.

»Nach dem was vorgefallen war, hätten Sie doch auch wegbleiben können – oder?« ließ der Vorsitzende nicht nach.

Da sagte sie endlich: »Ja, aber ich hab das G’red’ von dö Leut’ net ming …«

»Und die Frau Bichler ist Montag nachts gestorben?« warf der Vorsitzende ganz arglos dazwischen. Jetzt schauten alle vom Richtertisch auf die Zeugin. Die zappelte schweigend. So totenstill wurde es, daß man eine Maus hätte laufen hören.

»Jaja, daß d’ Bichlerin g’storben is, das haben mir die Leut’ schon voreh g’sagt«, antwortete die Magd holperig.

»Welche Leute waren denn das?« wollte der Staatsanwalt wissen. »Tja mei’ … D’ Leut’ halt … Der Mesma, glaab i, hat mir’s am ersten g’sogt«, erwiderte die Magd.

»Genau wissen Sie...


Graf, Oskar Maria
Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten 'Verbrennt mich!'-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.



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