E-Book, Deutsch, 197 Seiten
Reihe: Orbis Romanicus
Graziadei / Sannders Macedonio Fernández: Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0387-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch mit philologischer und philosophischer Einführung
E-Book, Deutsch, 197 Seiten
Reihe: Orbis Romanicus
ISBN: 978-3-8233-0387-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Totalität eines wachsamen Zustands des Wachens verneint der Titel des 1928 erschienenen Erstlingswerks No toda es vigilia la de las ojos abiertos des argentinischen Philosophen Macedonio Fernández, das nun erstmals in deutscher Sprache erhältlich ist. Bei dem Autor handelt es sich um den wichtigsten Vorläufer von Jorge Luis Borges, der 1952 über den eben Verstorbenen sagte, dass er ihn jahrelang bis hin zum passioniert-devoten Plagiat imitiert habe. Das Werk ist eine leidenschaftliche, träumerisch-verspielte Kritik an jeglicher Philosophie der Vernunft. Ein dekolonialer Angriff auf die großen europäischen Philosophen (von Kant bis Hobbes) voller Ironie und Parodie erwartet Sie!
Die Publikation umfasst eine Einführung in Autor und Werk (Michael Rössner) sowie eine philosophische Einordnung (Victor Ferretti), die Übersetzung (Daniel Graziadei und Florencia Sannders) sowie ein Nachwort der Übersetzerin und des Übersetzers.
Daniel Graziadei ist Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München, literarischer Übersetzer und Dichter.
Florencia Sannders ist Literaturwissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Alles ist Macedonio, was uns vor die Augen kommt: Die vielen Gesichter des Macedonio Fernández
Michael Rössner
Außerhalb Argentiniens, ja außerhalb von Buenos Aires, ist Macedonio Fernández bis zu seinem Tod 1952 ein weitgehend unbekannter Autor geblieben. Das ändert sich mit der Grabrede des damals bereits zu Ruhm gelangten Jorge Luis Borges, in der er nicht nur gestand, er habe ihn „imitiert, bis zur Transkription, bis zum leidenschaftlichen und hingebungsvollen Plagiat“1, sondern den Verstorbenen auch zum Ziel und Höhepunkt der Literatur schlechthin erklärte: „Die, die ihm vorangegangen sind, können in der Geschichte glänzen, aber sie waren bloß Vorentwürfe für Macedonio, unvollendete und vorausgehende Versionen von ihm“2. Auch wenn man die Regeln der Grabrede kennt – und auch wenn man Borges‘ histrionischen Drang zur (ironischen?) Herabsetzung seiner eigenen Bedeutung berücksichtigt – war und ist das aus seinem Mund ein beeindruckendes, ja überwältigendes Urteil. Es hat dazu geführt, dass Macedonio tatsächlich zu einem Mythos der argentinischen und langsam auch allgemeiner der lateinamerikanischen Literatur geworden ist, jemand, der in die Literatur erfolgreicherer Autoren wie Julio Cortázar, Ricardo Piglia und vieler anderer als expliziter oder impliziter Bezug eingegangen ist. Nicht unwichtig ist dabei auch die Beschreibung, die Borges von seinem eben verstorbenen Freund gibt: „Ein Philosoph, ein Dichter und ein Romancier sterben in Macedonio Fernández, und diese Begriffe bekommen, wenn man sie auf ihn anwendet, einen Sinn, den sie üblicherweise hierzulande nicht haben“.3 Was ist darunter zu verstehen? Worin besteht die Einmaligkeit Macedonios, aus der sich die Neudefinition jener Begriffe ergeben soll, die auf einen „homme des lettres“ angewendet werden? Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Mythos Macedonio in den letzten Jahren auch zu einer verstärkten Beschäftigung der Forschung mit ihm geführt hat, und dass dabei einige Mystifikationen aufgedeckt wurden. Denn Borges hat Macedonio tatsächlich ab dem Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung am 24. März 1921 im Hafen von Buenos Aires bei der Rückkehr der Familie nach sieben Jahren aus Europa „gemacht“4, nicht nur zur geheimnisvollen Größe der argentinischen Literatur, die überall aufzutauchen scheint, sondern auch zu einem in fortgeschrittenem Alter, nach dem tragischen Tod seiner Frau Elena („Elena Bellamuerte“),5 aus dem bürgerlichen Leben eines Juristen im Staatsdienst ausgestiegenen Kaffeehausliteraten, der mündlich unvergleichlich bessere Literatur produzierte als schriftlich.6 Macedonios Vorgeschichte – oder: Wie aus einem juristischen Problem ein philosophisches und seine Übersetzung in die Literatur wird
Allerdings hat die von Borges geschaffenen Figur Macedonio eine Vorgeschichte, die nicht nur das – gescheiterte – Projekt einer anarchistischen Kommune im Urwaldgebiet von Misiones umfasst, sondern auch zahlreiche kleinere Publikationen von Gedichten und Essays in Zeitschriften. Vor allem aber ist der Jurist Macedonio interessant, dessen Dissertation sich mit dem ungewöhnlichen Thema der „Person“ im Recht befasst (De las personas, Dissertation vorgelegt am 22. Mai 1897, also zwei Jahre vor Borges‘ Geburt). Der junge Jurist rechtfertigt die ungewöhnliche Themenwahl in der Einleitung mit der „unwiderstehlichen Faszination, die brennende Probleme, symbolisiert in Begriffen mit einem unerschöpflichen Inhalt wie dem des Subjekts, auf einen spekulativen Geist ausüben“7. Für Nicht-Juristen braucht diese „Faszination“ ein paar Erklärungen: Der Begriff der Person oder des Rechtssubjekts hat nämlich in der Rechtswissenschaft eine zentrale Stellung. Nicht nur, dass man dort zwischen „juristischen“ (Gesellschaften, Körperschaften, Vereinen, usw.) und „natürlichen“ Personen zu unterscheiden hat, was an und für sich für einen Schriftsteller-Philosophen Anlass zu einigen kreativen Reflexionen zu bieten vermag; nein, die Person, das Subjekt, ist schlechterdings die Voraussetzung dafür, Rechtsakte und damit auch Rechtswirkungen zuordnen zu können. Eine besondere Bedeutung bekommt das natürlich im Straf- und im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht, wo es nicht nur um die objektive Verursachung von Tatfolgen geht, sondern auch um die „subjektive“ Tatseite, also um die Frage der „Schuld“, die das Bewusstsein des rechtswidrigen Handelns voraussetzt, ohne die es keine Verantwortung, keine Haftung, keine Strafe geben kann. Wie kann ein junger Jurist, der im geistigen Klima der Jahrhundertwende aufwächst und vermutlich Ernst Machs provozierenden Satz „Das Ich ist unrettbar“ aus seinem Buch Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) kannte8, diese Dekonstruktion des Subjekts mit der rechtlichen Notwendigkeit der Annahme eines solchen in Einklang bringen? Tatsächlich scheint es, als hätte Macedonio nicht auf die Auseinandersetzung mit dem jungen Borges und seinen avantgardistischen Freunden in den 1920er Jahren warten müssen, um die fundamentalen Aporien zu entwickeln, die ihn ein Leben lang beschäftigt haben und zu der Theorie des „almismo ayoico“ (des „entichten Seelismus“) geführt haben, die sein Werk durchzieht. Aber Macedonio ist anders als Mach – und dessen Schüler Robert Musil – niemand, der zu dieser Auflösung des Ich von den Naturwissenschaften herkommt, sondern eher von einer Mischung aus Poesie und radikaler Metaphysik. So ergibt sich für ihn auch nicht die Musilsche Utopie der taghellen Mystik, die mathematische Schärfe mit einem mystischem Seelenzustand verbindet, aber doch etwas nicht ganz Unähnliches, wie Ana Camblong festgestellt hat: die Verbindung von Mystik und pragmatistischem Ansatz in der Nachfolge des von Macedonio hochgeschätzten William James.9 Diese Spannung prägt einige der frühen Texte Macedonios, die zum Großteil in dem Band Obras completas, Papeles antiguos (1981) enthalten sind, teilweise aber auch in spätere Ausgaben der 1928 erstmals erschienenen Abhandlung No toda es vigilia la de los ojos abiertos aufgenommen wurden. Ausgangspunkt von Macedonios intellektueller Reflexion (und Borges bezeichnet ihn ja vor allem als „pensador“) ist also nicht zuletzt das juristische Problem der notwendigen und doch unmöglichen Zuschreibung eines Handelns und seiner Konsequenzen an ein einheitliches „Ich“ – ein Problem, das zur selben Zeit auch andere Autoren beschäftigte, wie etwa den in den 1920er Jahren in Argentinien sehr populären Luigi Pirandello in dem Roman Einer, keiner, hunderttausend, aber auch in zahlreichen Bühnenwerken, von denen eines, Quando si è qualcuno („Wenn man Jemand ist“) sogar in Buenos Aires uraufgeführt wurde. Somit erscheint die von Borges vorangetriebene Mystifikation, dass erst das traumatische Erlebnis des frühen Todes seiner Frau Macedonio zum Philosophen und Literaten gemacht hätte, zumindest abgemildert. Offenbar war dieser Tod im Jahr 1920 nur der letzte Anstoß für einen Schritt, der für den Juristen als die logische Folge aus der kritischen Beschäftigung mit den Grundannahmen des Rechts erscheinen mochte, die schon den Staatsanwalt Fernández zu manch seltsamen und für die Angeklagten günstigen Plädoyers angeleitet hatte.10 Diese Zweifel an der Existenz einer einheitlichen und konstanten persona führten Macedonio nämlich sehr bald zu einem grundlegenden Zweifel an der Tradition der abendländischen Philosophie seit Descartes berühmtem „Cogito ergo sum“, das gleichzeitig auch Friedrich Nietzsche als Illusion der „grammatischen Gewohnheit“ entlarvt hat, der zufolge eine Tätigkeit immer ein tätig werdendes Subjekt voraussetze.11 Das trifft sich nun exakt mit Macedonios Zweifeln an einem solchen, und davon ist auch in der radikalen Metaphysik von No toda es vigilia la de los ojos abiertos die Rede. Wie aber kann man weiter als Jurist Recht auf Personen anwenden, an deren Existenz man nicht glaubt? Der Schritt vom juristischen Schreibtischtäter zum philosophischen, der sich dem Konsequenzzwang der Wirkung seiner Gedanken in der Wirklichkeit entziehen konnte, lag nahe, und der heimgekehrte Sohn seines Freundes Jorge Borges, der Sehnsucht nach den Genfer Buchhandlungen und den Diskussionen in Madrider Kaffeehäusern empfand,12 fand in dem Denker und Philosophen Macedonio Ersatz für das intellektuelle Klima Europas und begann ihn zu „imitieren“. Es ist daher wohl kein Wunder, dass der junge Borges nicht nur in seinen frühen Gedichten, sondern auch in dem später verworfenen Essayband Inquisiciones (1925) deutlich Einflüsse von Macedonios Reflexionen zeigt, allen voran in dem Essay „La nadería de la personalidad“ („Die Nichtigkeit des Personseins“, 1922), der geradezu die Problematik der juristischen Dissertation zu zitieren scheint. Macedonio und die Avantgarde von Buenos Aires: die Gruppe Florida
Macedonio hingegen versucht, anders als Pirandello, solche Überlegungen zwar nicht in „realistische“ Erzählungen oder dramatische Handlungen zu übersetzen, aber er produziert Texte, die zwischen den Gattungen angesiedelt sind. Macedonio konfrontiert dabei den Leser bzw. die Leserin einfach auf Schritt und Tritt mit Widersprüchen, mit Absurditäten, mit Sprüngen aus einer Gattung in die andere und erlaubt es ihm/ihr somit nie, sich in einer bequemen Leserhaltung einzurichten. Bei den literarischen Versuchen gibt es tatsächlich eine klare Differenz zwischen den...