E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Green Dixie
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25530-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-446-25530-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).
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III
Das Schlachtfeld hinter sich lassend, so als wollten sie die Erinnerung daran loswerden, durchquerten die Reisenden Prince William County, und das normale Leben schien wieder neue Kraft zu schöpfen. Von der Sommerhitze verbrannte Wiesen erstreckten sich entlang der Straßen, wo die Erde mit ihrem kräftigen Rot eine tragische Pracht ausstrahlte. Wäldchen unterbrachen diese Landschaft, deren Zauber mit einer Art sanfter Gewalt wirkte. In der Ferne erriet man den Kamm der rauchblauen Hügel.
Miss Llewelyn betrachtete diese Natur mit einem Vergnügen, das sie sich nicht einzugestehen wagte, wenn sie den Blick zu Elizabeth schweifen ließ, die in einem reglosen Zustand verharrte, wie in einen Wachtraum versunken. Vielleicht hatte sie niemals schöner ausgesehen als unter diesem breiten Hut aus leichtem Stroh, der sie ein wenig vor der Sonne schützte. Die Strahlen drangen nämlich auf beiden Seiten der schwarzen Tuchvorhänge herein und strömten durch das Gold ihrer Haare. Zuweilen waren aus ihrem halbgeöffneten Mund ganz leise und undeutlich gemurmelte Worte zu vernehmen. Falls sie jemals geglaubt und verstanden hatte, daß sie Witwe war, so blieb in der geheimnisvollen Welt, in der sie lebte, nur der Schatten einer Erinnerung daran zurück.
Die Kutsche rollte indes mit lebhafter Geschwindigkeit dahin, von Zeit zu Zeit durch leichte Schläge erschüttert, die heftiger wurden, als man die Schlucht von Thoroughfare Gap erreichte. Hier tat sich die Straße ins Fauquier County auf.
Miss Llewelyn neigte sich zu Elizabeth und sagte mit ruhiger Stimme:
»Wundern Sie sich nicht, wenn wir ein wenig durchgerüttelt werden. Wir bewegen uns auf Hügel zu, an denen wir aber nur entlangfahren werden. Diese Landschaft ist ein bißchen rauh.«
Sie zog den Vorhang gegenüber von Elizabeth beiseite. Vereinzelt kletterten Tannen bis in die Höhen hinauf, verdeckten einen Zipfel des Himmels, an dem noch die Nachmittagssonne glühte, und der schlechte Zustand der Straße verlangsamte den Trab der Pferde. Bald gelangten sie an einen Wasserlauf, der so seicht war, daß ein Mensch ihn zu Fuß hätte überqueren können, doch dicke Steine lagen von einem Ufer zum anderen und erschwerten die Durchfahrt eines Wagens. Der junge schwarze Stallbursche sprang von seinem Sitz, um das Gespann zu führen, das unruhig wurde und wieherte.
Miss Llewelyn griff nach Elizabeths Hand.
»Das ist der einzige etwas unangenehme Augenblick der Reise. Sind Sie erschöpft?«
Die junge Frau schaute sie an, als wäre sie eine Unbekannte.
»Wo sind wir?« fragte sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Auf der Straße nach Kinloch, wo wir Ruhe haben werden.«
Elizabeth schwieg. Ihr Blick verlor sich in der hohen Hügelkette, die langsam sichtbar wurde, je weiter die Kutsche vorankam. Rostfarbene Felsen ragten an den zerklüfteten Flanken dieser Höhen empor. Sie betrachtete sie ohne erkennbare Neugier, doch aufmerksam, als wolle sie sich etwas anderes, das sie nicht sehen konnte, wieder in Erinnerung rufen.
Die Waliserin beobachtete sie, nicht ohne eine leichte Unruhe. Sie fragte sich, ob die Dosis Laudanum stark genug gewesen war, um Elizabeth dem Alptraum einer unerträglichen Wirklichkeit zu entreißen, denn sie bemerkte, daß diese in Gedanken versunken war und in gewisser Weise der äußeren Welt allzu verhaftet. Deshalb war es besser, nicht mit ihr zu sprechen, sie nicht aus der fiktiven Welt zu erwecken, die sie mit ihren weitgeöffneten blauen Augen betrachtete. Allem Anschein nach bewunderte sie die Landschaft, in der die Wälder unterhalb der Gebirgskämme dichter und dunkler wurden. Die Sonnenstrahlen liefen über die Spitzenborte der Gipfel und ließen an manchen Stellen Blutspuren gleichende Streifen zurück.
Noch bevor der in dieser Jahreszeit lang andauernde Nachmittag sich seinem Ende zuneigte, erreichten die Reisenden Kinloch. Inmitten von riesigen Bäumen, welche die Dächer um mehr als das Dreifache überragten, erhob sich das geräumige Haus aus dunklem Holz an der Kante eines Plateaus. Aus dieser schwindelerregenden Höhe waren in der Ferne die blaßblauen Hügel Virginias zu erblicken, die eine Landschaft aus Feldern und von Wäldchen durchbrochenen Wiesen wie mit einer unwirklichen Mauer umschlossen.
Eine lange Veranda lief um das alte Haus, dessen strenges Aussehen in ganz ungezügelter Weise dadurch gemildert wurde, daß aus den entlegensten Zimmern eine turbulente Freude hervorschallte.
Ohne diesem Lärm auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, stieg Elizabeth aus dem Wagen und ging allein die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Mit einer kurzen Bewegung der Hand schob sie Miss Llewelyn beiseite, die ihr helfen wollte. Ein schwarzer Diener lief den beiden entgegen, der Lad des Kutschers sprang von seinem Sitz, und einen Augenblick lang entstand ein Durcheinander um die Kalesche herum, bis eine Dame im weißen Musselinkleid mit breiten Volants auf die reglose Elizabeth zueilte. Ohne jung zu sein, bewahrte sie doch in ihren unverändert feinen Zügen den erhabenen Charme einer verführerischen Schönheit. Wäre das Gesicht ein bißchen weniger lang gewesen, hätte es als vollkommen gelten können, aber die Tiefe der großen dunklen Augen glich durch die Güte, die darin zu lesen war, alles wieder aus. Als sie ganz nah bei Elizabeth war, ergriff sie als erstes wortlos deren Hände, stumm vor Überraschung und zugleich vor einer Art Erschrecken, das sie nicht verbergen konnte. Die eben erst Angekommene begnügte sich damit, sie mit einem Lächeln zu betrachten, doch in dieser kurzen Stille lief etwas wie ein Drama ab, das Worte nicht zu erklären vermochten.
»Elizabeth«, sagte schließlich die Dame in Weiß, »ich bin glücklich, Sie in Kinloch zu sehen.«
»In Kinloch«, wiederholte Elizabeth leise. »Das letzte Mal haben wir uns in Dimwood gesehen. Das Fest unter den Bäumen der großen Allee …«
»Mein armes Kind«, sagte Mrs. Turner mit Tränen in den Augen.
»Wenn ich etwas gesagt habe, das Ihnen Schmerz bereitet, so tut es mir leid«, sagte die junge Frau höflich.
»… Schmerz«, wiederholte Mrs. Turner, »ja, doch es ist nicht Ihre Schuld, sondern die Erinnerung an all das …«
Elizabeth lächelte sanft und sagte nichts.
»… die ganze Familie war aus Kinloch gekommen …«
»Gewiß. Eine Menge Leute …«, sagte Elizabeth. »Und große Fröhlichkeit, Lichter in den Bäumen, auch Musik, erinnern Sie sich?«
Sie sprach von diesen Dingen wie über ein interessantes Stück, das sie einst gesehen hatte.
Mrs. Turner wich einen Schritt zurück. Mit einer vor Angst etwas rauhen Stimme sagte sie bloß:
»Liebe Elizabeth, Sie bleiben natürlich bei uns. Heute abend kann ich Ihnen nur das Zimmer meiner Tochter Beverly anbieten, die gerade nicht hier ist. Es liegt ein wenig abseits, aber ich glaube, Sie werden sich wohl darin fühlen.«
»Ich bin fest davon überzeugt«, sagte Elizabeth in ihrem mondänsten Tonfall.
»Sie müssen wissen, daß am anderen Ende des Hauses eine kleine Gruppe junger Leute aus der Familie eingefallen ist und mit ihrer Siegesfeier ein wenig Wirbel verursacht, Sie verstehen. Alles junge Offiziere …«
»Junge Offiziere«, wiederholte Elizabeth mechanisch.
»Ja. Ach, sie werden im Morgengrauen aufbrechen, um wieder zu ihrem Regiment zu stoßen. Sie haben schon etwas zu viel getrunken, verstehen Sie? Dieser Sieg von vorgestern … Doch ich werde Ihnen ein leichtes Mahl servieren lassen, das wir in aller Ruhe gemeinsam hier einnehmen können.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Elizabeth, »doch ich könnte nicht einmal einen Bissen Brot hinunterbringen. Ich habe Durst; nichts als Durst. Wenn Sie ein großes Glas Wasser …«
Mrs. Turner verließ das Zimmer und wäre beinahe mit der Waliserin zusammengestoßen, die sich zufällig in der Nähe der Tür befand.
»Madame«, sagte Miss Llewelyn mit einer sehr männlichen Selbstsicherheit, »ich bin die Gouvernante von Great Lawn. Sie können mir die Sorge um Mrs. Hargrove anvertrauen, über die ich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gewacht habe. Sie braucht vor allem Ruhe.«
Einige Erklärungen folgten, dann gestand Mrs. Turner:
»Sie macht mir Sorgen. Sie scheint in keinem normalen Zustand zu sein.«
»Sie träumt, das ist das Beste, was sie momentan tun kann.«
»Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Das Schlimmste. Halten Sie sie von den Offizieren fern. Die wissen bescheid.«
Mrs. Turner unterdrückte ein Stöhnen:
»Ich habe verstanden. Ich werde die notwendigen Anweisungen geben, damit sie sich in Kinloch wohl fühlt. Halten Sie...