Gregor Territorien
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85420-971-3
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-85420-971-3
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein spannendes Drama zwischen Liebe und Selbstverwirklichung in der tropischen Hitze Nicaraguas:
Ein nächtlicher Telefonanruf ändert alles: Als ihr Schwiegervater stirbt, fliegt Emma, im fünften Monat schwanger, mit ihrem nicaraguanischen Mann Samuel zum Begräbnis nach Managua, wo ihn eine problematische Erbschaft erwartet. Emma steht vor der Entscheidung, ihr bisheriges Leben und ihre Arbeit an der Universität aufzugeben und ein ungesichertes Leben im Kreis von Samuels Familie zu führen – oder ihre Ehe aufzugeben, nach Wien zurückzukehren und ihr Kind allein zu bekommen. Immer aussichtsloser scheint, dass sich die verschiedenen Lebensziele der beiden treffen, so wie einst ihre Füße unter der Bettdecke.
Was sich in der tropischen Hitze Nicaraguas in den letzten Monaten von Emmas Schwangerschaft abspielt, ist mehr als eine dramatische Beziehungskrise. Und doch, in "Territorien" wird weder ein Kampf der Geschlechter noch einer der Kulturen ausgetragen, sondern der des modernen Ichs um Autonomie und Selbstbestimmung. Eine bis dahin fast idyllische interkulturelle Partnerschaft zeigt sich auf einmal mit all ihren Abgründen, und Susanne Gregor zeichnet die allmähliche Entfremdung des Paares minutiös und detailgenau nach, mit großer Empathie und mit Sätzen, deren Suggestivkraft man sich nicht entziehen kann.
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Erst am nächsten Morgen können wir endlich weiterfliegen, nach einer schlaflosen Nacht im Flughafenhotel, in einem Zimmer mit grünen Vorhängen und einem zu kleinen Doppelbett, in das wir uns abends erschöpft legten und unsere Füße zusammensteckten so wie immer, ich vergrub mich in Samuels Armen, oder er sich in meinen, und wartete leise auf seine Tränen, die nicht kamen, stattdessen schlief er sofort ein, ich atmete tief und sog noch den Duft seines schlafenden Körpers in mich auf, bevor ich mich vorsichtig aus seinen schlaffen, schweren Armen wand und leise zum Fenster schlich, vor dem es endlich aufgehört hatte zu schneien. Große gelbe Wägen räumten den Schnee von den Straßen, der von der Nachtbeleuchtung orange erschien, und ich versuchte mich an Salvador zu erinnern, als ich ihn das erste Mal auf einem Foto gesehen hatte, ohne dass Samuel es mir gezeigt hätte, das mir durch Zufall in die Hände gefallen war, bei unserem Umzug, ein breiter, kleiner Mann mit erschreckend ernstem Blick. Samuel riss es mir aus den Händen, seit Jahren hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, seit der Scheidung, erzählte er, und ich drängte ihn immer wieder dazu, ihn anzurufen, fünfzehn Jahre sind doch lang genug, sagte ich, in fünfzehn Jahren kann man verzeihen, doch er blieb hart, du hast keine Ahnung, sagte er, du denkst, er wird sich freuen, wenn ich am Telefon bin, aber du liegst völlig falsch, erklärte er mir, er interessiert sich überhaupt nicht für mich, so etwas verstehst du nicht, dein Vater ist ganz anders, und ich fühlte mich plötzlich schlecht und ließ das Thema fallen. Erst als wir das erste Mal zusammen in Managua waren, erfuhr ich, dass es einen neuen Mann an Martas Seite gab, José, einen älteren, gut aussehenden Mann, der viel besser zu ihr passte und sich sehr um Samuel bemühte, der es ihm überhaupt erst ermöglicht hatte, nach Österreich zu ziehen, doch Samuel betonte stets, dass er ja nicht sein Vater war, und klammerte sich so noch mehr an Salvadors Abwesenheit, immer wieder bestand er auf der Ungerechtigkeit, die ihm mit dessen Ablehnung widerfahren war, hielt an seinen Wunden fest, als würde er auseinanderbrechen, wenn er seinen Groll aufgäbe. Aber ich bestand darauf, immer wieder fing ich damit an, vielleicht mehr eigener Neugier als ihrer Beziehung zuliebe, ruf ihn doch zumindest einmal kurz an, vielleicht hat er sich geändert, bestimmt hat er dich vermisst, bist du denn nicht selbst gespannt, was er dir zu sagen hat, fragte ich ihn, und am dritten Tag meines Drängens griff er schließlich zum Telefon und rief ihn tatsächlich an und schlug ein Abendessen im Restaurant vor, wo ich nervös viel zu viele verschiedene Gerichte bestellte und viel Zeit damit verbrachte, sie zu loben und zwischen uns aufzuteilen, die Zutaten zu erraten, denn zwischen den beiden herrschte Stille, für die ich allein verantwortlich war, Salvador blieb ernst und machte den Mund beim Essen viel zu weit auf, wie mir schien, allein Samuel machte ein paar Anläufe, ihm etwas über sein Leben zu erzählen, doch Salvador rang sich höchstens einmal ein Nicken ab, also stimmte ich in Samuels Erzählungen mit ein, ja, dein Vertrag mit der Universität wird bestimmt verlängert, sagte ich, als er von seinem Job erzählte, und ja, unsere Wohnung liegt direkt an der Donau, Sie sollten uns einmal besuchen kommen, rutschte mir unbekümmert heraus, nur da hob er einmal seine Augen zu mir, und ich weiß nicht, ob Staunen oder Verachtung darin lag, und so blieben wir für den Rest des Abends beim Thema Essen und verabschiedeten uns so schnell wie möglich. Die ganze Heimfahrt lang spürte ich Samuels Vorwurf zwischen uns stehen, ich habe es dir doch gesagt, wozu war das jetzt nötig, hätte er sagen können, aber er hielt an sich und als wir später in Martas Haus ankamen, fiel ich so erschöpft ins Bett, dass ich den Rest des Tages verschlief. Seit Martas Anruf liegt mir die Frage auf der Zunge, weshalb diese Eile, zum Begräbnis zu kommen, doch ich wage sie nicht zu stellen, sehe in die blinkenden Leuchten der Räumungsmaschinen, höre Samuels leises Schnarchen und mache mich daran, in meinem Rucksack wieder nach dem Buch zu suchen, das ich mitgenommen hatte, weil es Udo so wichtig war, die Untersuchungen zum historischen Wandel von Textsorten in Printmedien, hatte er gesagt und mit dem Zeigefinger auf den altmodischen Umschlag geklopft, ein älteres Exemplar, es wird nicht mehr aufgelegt, bring es mir ja zurück, drohte er, und ich ließ es bereits auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn liegen, als ich ausstieg, starrte ich fassungslos auf meine leeren Hände und harrte so lange an der Haltestelle aus, bis die gleiche Straßenbahn zurückkam, und fand es unberührt auf dem gleichen Sitz, eilte damit nach Hause und begann sofort mit dem Lesen, konnte mich aber kaum noch konzentrieren, auch jetzt nehme ich die Zeilen kaum wahr, während ich durch die Seiten blättere und es vor dem Hotelfenster langsam hell wird und mir einfällt, dass Udo noch gar nichts von der Reise weiß. Schnell wähle ich seine Nummer, berichte vom Tod Salvadors, Udo ärgert sich, was soll ich jetzt mit deinen Seminaren machen, du weißt doch, wie schwer es ist, eine Vertretung zu finden, und dann seufzt er, sei so bald wie möglich wieder hier, hörst du, und ich versichere ihm, dass ich mein Bestes tun werde, und als ich auflege, denke ich an mein Büro, in dem ich jetzt bereits sitzen sollte, und an all die Unterlagen, die unbearbeitet bleiben werden, all die Anrufe und Anfragen, die jetzt niemand beantworten wird, und wundere mich, warum es mir so leicht fiel zu packen, warum ich keine Sekunde gezögert habe, alles stehen zu lassen, und es gelingt mir nicht mehr, einzuschlafen, sodass mir dann, als wir endlich im Überseeflieger Platz nehmen, sofort die Augen zufallen.
Erst kurz bevor wir landen, werde ich wach, sehe verwirrt aus dem kleinen Fenster, sehe den Flügel, der im Wind zittert, und den hellblauen Himmel, der nach oben hin immer dunkler wird, und ich kann nicht glauben, dass es die gleiche Sonne ist, die in Wien über uns aufging an diesem Tag, der ganz anders hätte werden sollen, ich hätte zu meiner Uni fahren sollen und Samuel zu der seinen, so wie jeden Tag, und am Abend hätte ich ihn von der Arbeit abgeholt, oder er mich, und wir wären zusammen nach Hause gefahren und hätten überlegt, was wir zu Abend essen wollen, und beim Kochen hätte er über seine Arbeit geschimpft und dann hätten wir uns einen Film angesehen und eine Decke über unsere Körper gezogen und nicht gewusst, wie spät es ist, weil es bereits am Nachmittag dunkel geworden wäre, stattdessen sind wir der Sonne um die halbe Erdkugel gefolgt, wo sie jetzt endlich langsam untergeht. Verwirrt sehe ich auf die Uhr, die Reise hat die Zeit wild durcheinandergeschüttelt und Tag und Nacht miteinander vermischt, ich weiß gar nicht, ob ich müde sein soll oder wach bleiben muss, wie spät ist es, frage ich Samuel, der nur mit den Schultern zuckt und sich nach vorne beugt, um einen Blick auf Managua zu erhaschen, das sich unter uns abzuzeichnen beginnt, unter Bäumen begraben, als läge es mitten im Dschungel. Zwei Jahre ist es her, seit wir das letzte Mal hier zu Besuch waren, acht Jahre, seit er von hier weggezogen ist, ich versuche ihn mir vorzustellen, wie er damals ausgesehen haben mag, als er in das Flugzeug stieg, sicher, es müsse überall auf der Welt besser sein als hier, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, mit der Adresse von Alicia, Josés Nichte, in der Hosentasche, so oft hat er es mir erzählt, wie er die Straßennamen verwechselte, als er ankam und vor der falschen Tür stand, aber nur mit Alicia konnte er darüber lachen, wenn er es mir erzählte, blieb sein Gesicht stets ernst, man fühlt sich wie ein Taubstummer, sagte er, man sucht nach Zeichen, Mimik, Gesten, und ich hörte ihm zu und brachte all das Verständnis auf, auf das er so lange gewartet hatte, obwohl er bereits gut Deutsch sprach, als wir uns kennenlernten, und auf der Uni arbeitete, ein kleiner Aushilfsjob, wie er immer wieder betonte, denn eigentlich wollte er eine richtige Arbeit, und ich setzte mich sofort an den Computer und half ihm, Bewerbungen zu schreiben, und für kurze Zeit sah es so aus, als würde es aufwärts gehen, aufgeregt holte er samstags die Zeitung, um die Stellenanzeigen durchzugehen, strich sie mit Leuchtstift an und schickte gleich die Bewerbungen ab, doch als ein Jahr verging, und dann ein zweites, und seine Bewerbungen unbeantwortet blieben, hörte er auf, Stellenanzeigen zu lesen, er hörte überhaupt auf, Zeitung zu lesen, nichts interessierte ihn mehr, und ich versuchte vergeblich, ihn mit allerlei Unternehmungen aufzuheitern. Auf einmal hatte er all die österreichischen Speisen satt und die dunklen, langen Winter, den ihm unverständlichen Dialekt, selbst die chronische Pünktlichkeit ging ihm auf die Nerven, die er anfangs noch so gelobt hatte, auf die er den gesamten wirtschaftlichen Fortschritt schob, immer öfter hatte er in der letzten Zeit davon gesprochen, dass es vielleicht leichter gewesen wäre, wenn er in Nicaragua geblieben wäre, bestimmt hätte er mittlerweile einen guten Job, ein Haus vielleicht, auf jeden Fall hätte er noch seine alten Freunde, die er jederzeit anrufen könnte, um mit ihnen Squash zu spielen, ohne Wochen vorher einen Termin zu vereinbaren, und ich, die ich ihn in Österreich kennengelernt hatte, spürte, wie sich sein Land plötzlich zwischen uns zu schieben begann, wie eine alte Liebschaft aus seiner Vergangenheit. Zwei Mal waren wir bereits zu Besuch hier gewesen, und immer stieg vor der Landung die gleiche Unruhe in ihm hoch, und auch jetzt, kommt mir vor, wischt die Freude über die Rückkehr die Trauer aus seinem Gesicht, sieh mal, von oben siehst du nur Bäume, sagt er aufgeregt, als hätten wir nicht bereits dutzende Male darüber gesprochen,...




