Gregor | Wir werden fliegen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Gregor Wir werden fliegen


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-627-02316-4
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-627-02316-4
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Alan verschwindet, stellt seine Schwester Mi?a fest, wie wenig sie u?ber das neue Leben ihres Bruder weiß. Eines aber ist ihr sehr wohl bekannt: Bereits einmal war Alan plötzlich verschwunden, kurz vor der Wende floh er bei Nacht und Nebel aus dem tschechoslowakischen ?ilina in den Westen. Jahre später fand die Familie u?ber Umwege in Wien wieder zusammen. Doch Mi?a und Alan sind nicht mehr dieselben. Alan, der ehemalige Rebell, ist zu einem u?berangepassten, strebsamen Arzt geworden, und Mi?a, die ehemals brave Leseratte, schwebt nach abgebrochenem Studium ufer- und ankerlos von einer europäischen Stadt zur nächsten. Erst als sie den Engländer Joe trifft, fu?hlt sie sich voru?bergehend angekommen. Alan wiederum verliebt sich in die Diplomatentochter Nora, die an seiner Seite ein Zuhause sucht - bis sie auch diesem wieder u?berdru?ssig wird. Mi?a und Alan sehnen sich nach Zugehörigkeit und driften dabei immer weiter auseinander. Nun, da Alan erneut aus seinem und damit auch aus Mi?as Leben geflohen ist, stellt sich fu?r sie die Frage: Werden sie sich selbst, werden sie einander wiederfinden? Wir werden fliegen erzählt vom Wandel, der Zeiten und der Menschen, von Verlust und Neuerfinden, von denen, die mit einem Ziel aufbrechen und doch auf Durchreise bleiben. Aus wechselnder Perspektive entwirft Susanne Gregor ein einfu?hlsames Porträt zweier Geschwister, die auf der Suche nach sich selbst in unterschiedliche Richtungen aufbrechen und doch umeinanderkreisen - ein warmer, ein hoffnungsvoller Roman.

Susanne Gregor, 1981 in ?ilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich, seit 2005 wohnt die Autorin in Wien. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem exil-literaturpreis und dem Förderpreis der Stadt Wien. Zuletzt erschien ihr Roman Das letzte rote Jahr (FVA 2019).
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Hamburg, 1990: Der Unfall passierte kurz nach Mitternacht, ein paar Tage nach Alans neunzehntem Geburtstag. Er hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und auf den Zug mit der Lieferung von Betonblöcken gewartet. Es war seine Aufgabe, beim Entladen zu helfen, die Ketten um die Blöcke zu schlingen und dem Fahrer ein Handzeichen zu geben, wenn sie zum Heben bereit waren. Als der Zug eingefahren war, zertrat Alan die frisch angezündete Zigarette mit der Ferse, um den ersten Lieferwaggon zu öffnen, als dessen Tor aus der Fassung fiel und ihn mit voller Wucht zu Boden riss. Obwohl augenblicklich drei Männer zur Stelle waren, um das schwere Eisenteil hochzuheben und Alan zu befreien, fühlte er, dass er weder sein Genick noch seinen linken Arm bewegen konnte. Der Abteilungsleiter, der die Anweisung hatte, die Unfallrate niedrig zu halten, fuhr ihn ins Krankenhaus und ließ sich die ganze Fahrt lang den genauen Unfallhergang wiederholen. Alan versuchte es unter Schmerzen und in seinem brüchigen Deutsch, das er noch vor ein paar Wochen für makellos gehalten hatte, bevor er hier in Deutschland ankam und merkte, dass es löchriger war als gedacht, dass es kaum für mehr reichte als Hilfsarbeit, wobei das vielleicht die am wenigsten schmerzhafte Feststellung war, die er innerhalb weniger Wochen machen musste – viel schlimmer war die Einsicht, dass seine Flucht aus der CSSR praktisch umsonst gewesen war, dass es nämlich schon kurz danach keine CSSR mehr gab und dass der einzige Mensch, den er hier in Hamburg hatte, seine Freundin, im Begriff war, ihn zu verlassen.

Im Krankenhaus ließ das Röntgenbild sofort erkennen: Es handelte sich um mehrere Brüche des Schulter- und Oberarmknochens. Alans starrte auf die weißen Knochenteile auf dem schwarzen Hintergrund und auf die zusammengezogenen Brauen des Arztes, der sie betrachtete. Inmitten der Männer (Arzt, Krankenpfleger und des Abteilungsleiters) fühlte Alan sich bloßgestellt, auf seinen Schaden reduziert, der lange vor dem eigentlichen Unfall seinen Ausgang genommen hatte: der Irrtum, zu denken, dass man es nur im Westen zu was bringen konnte.

Hierher hatte er es also gebracht, in die Notaufnahme, auf den kühlen metallenen Röntgentisch, wo sogleich eine Operation beschlossen wurde, und das alles ohne Aufenthaltsgenehmigung, Versicherung und weiterer Details, was den Abteilungsleiter sichtlich nervös machte. Es sei ungewöhnlich, sagte der Arzt nachdenklich, dass alle vier Fragmente des Schultergelenks ausgesprengt würden. In einer Operation müsse der Oberarmkopf mit Knochenersatzmaterial aufgefüllt werden, damit die Bruchfragmente wieder eine stabile Unterlage erhielten. Dann werde alles mit zwei Metallplatten und mehreren Schrauben wieder fixiert. Er empfehle sechs bis zwölf Monate lang Physiotherapie. Von alldem verstand Alan wenig und nickte dennoch, soweit es sein Kopf zuließ, während der Arzt das Gesicht unangenehm nahe an das seine hielt, um ihn an Augen, Ohren und Mund zu untersuchen. Der Abteilungsleiter stieg von einem Bein auf das andere, seine Aufgabe, die Unfallstatistik möglichst niedrig zu halten, hatte sich als unmöglicher Auftrag herausgestellt, seit die ersten Arbeiter aus dem Osten im Unternehmen eingetroffen waren. Ihm war es gleich aufgefallen: Wie leichtfertig sie mit Maschinen umgingen, ohne Respekt, als wäre ihnen ihr Leben nicht viel wert, sie schlugen Warnungen in die Luft oder verstanden sie nicht, sie arbeiteten wie Tiere, schliefen oft auf der Baustelle, aßen kaum. Und nun hatten sie die erste ernste Verletzung, die Krankenhausrechnung würde sie ein Vielfaches davon kosten, was dieser schlaksige Tschechoslowake ihnen bisher eingebracht hatte. Er füllte widerwillig ein paar Formulare für Alan aus und verabschiedete sich. Alan wurde von einem jungen rundlichen Krankenpfleger in einen anderen Raum geschoben und auf die Operation vorbereitet. Alles halb so schlimm, sagte dieser, ihm auf die gesunde Schulter klopfend, die paar Brüche, war doch Glück im Unglück, nicht? Es war der Oberarzt, der ihn operieren würde, so viel bekam er noch mit, bevor ihm die Maske aufgesetzt wurde und man ihn bat, von zehn rückwärts zu zählen. Am nächsten Tag spazierte dieser bei der Visite mit erhobenem Kinn über die Schwelle seines Zimmers, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ein Mann wie ein Sportlehrer, der keine Niederlagen gelten lässt. Novák, sagte er, alles gut verlaufen, kein Grund zur Sorge, Sie werden wieder wie neu.

Als Alan vier Tage später vom Abteilungsleiter abgeholt wurde, lag auf der Hand, dass sein Arbeitsverhältnis beendet war. Er war schon froh, dass ihn jemand vom Krankenhaus abholte und nach Hause fuhr, oder was immer Alan zu der Zeit so nannte: ein abbruchreifes Haus am Stadtrand, wo Rita noch schlief und wahrscheinlich dachte, er wäre abgehauen, so wie sie es in ihrem letzten Streit von ihm gefordert hatte. Der Abteilungsleiter überreichte ihm einen bunten Geschenkkorb mit Wein, Honig und ein paar Südfrüchten, hielt ihm ein Blatt Papier unter die Nase und bat um eine Unterschrift. Keine große Sache, sagte er, einfach hier unten ein Autogramm bitte. Alan überflog den Text, den er nicht verstehen konnte, und zögerte. Wir wollen einander keine Unannehmlichkeiten machen, nicht wahr, erklärte der Abteilungsleiter lächelnd, dafür kümmern wir uns um die Krankenhausrechnung. Alles gut? Alan nickte und unterschrieb. Keine Unannehmlichkeiten. Der Gedanke, dass er Geld hätte verlangen können, kam ihm erst später, nachdem er aus dem dunkelgrünen Golf Country ausgestiegen war und sich bedankt hatte, und das Auto im Staub der Schotterstraße verschwunden war. Mit der gesunden Hand griff er sich an die Stirn. Idiot, dachte er, und wusste nicht, ob er den Abteilungsleiter oder sich selbst meinte. Er fühlte Wut in sich aufsteigen und den pochenden Schmerz in seiner Schulter. Vielleicht bin ich einfach kein Hilfsarbeiter, dachte er. Vielleicht bin ich eher der Typ Oberarzt. Es war ein merkwürdig klarer
Gedanke.

Die Details und das Ausmaß seiner Verletzungen enthüllten sich ihm erst später, während seines Medizinstudiums, das er mit großem Eifer betrieb, um das verlorene Jahr aufzuholen: die Anatomie unserer Knochen. Später würde er seinen Patienten immer wieder beschreiben, wie die Wirbelsäule funktioniert, würde mit den Fingern über die des Skeletts in seiner Praxis gleiten und erklären, wo das Problem des Patienten liege. Er würde oft sagen: Die Wirbelsäule sagt mir alles über den Menschen, . Es war eines der ersten Dinge, die ihm aufgefallen waren, dass Menschen hier aufrechter gingen als im Osten. An der Uni saß er in der ersten Reihe und machte sich Notizen. , las er im , im Licht der grünen Tischlampe der Unibibliothek, während seine Kommilitonen in der Bar gegenüber Ottakringer Bier für acht Schilling bestellten. Er notierte es in seinen Unterlagen, vermerkte es mit einem Stern und einem Fragezeichen, kritzelte etwas dazu, was er später nicht mehr entziffern konnte: Knochendichte ist kein
Zufall.

Alan selbst störte die lange dicke Narbe auf seiner Schulter nicht, nur anfangs erinnerten ihn die Schmerzen oft an Rita, an die Flucht über die Grenze, die betrunkenen Nachtsoldaten, an die in geraden Linien gepflanzten Bäume der österreichischen Wälder im ersten Morgengrauen, an den Zug nach Hamburg. Mit den Jahren war die Erinnerung immer blasser geworden, mit jedem Mal, wenn er sie erzählte, so lange, bis sie fremd klang, als wäre sie eigentlich jemand anderem passiert. Nur beim ersten Mal war sie lebhaft, als er sie Miša erzählte, 1990, als seine Eltern und Miša nach Wien gezogen waren, und er selbst, um einige Kilos leichter, mit hängenden Schultern und einem bandagierten Arm Hamburg verlassen hatte und bei ihnen eingezogen war. Er saß mit Miša in der neuen Einzimmer-Kellerwohnung, die sie jetzt zu viert bewohnten und durch deren Fenster den ganzen Tag die Waden der Passanten zu sehen waren. Er lehnte sich mit dem Rücken an das ausziehbare Bett und sein Gesicht lief beim Sprechen immer wieder rot an. Das ganze Unglück habe bereits mit der Flucht aus Žilina nach Hamburg seinen Lauf genommen, in der Nacht im ungarischen Wald, nein, später, am ungarisch-österreichischen Grenzübergang, wo er aus Angst vor Landminen fast umgedreht wäre, oder nein, noch später. Kurz stutzte er, wie leichtsinnig es von ihm gewesen war, die damals erst fünfzehnjährige Rita auf diese Reise mitzunehmen, dann ging er zur genauen Beschreibung seiner ersten Momente in Österreich über. Das weite, grüne Land des Grenzgebiets, so flach, dass man meinte, man bewege sich unter dem riesigen Himmel beim Gehen kaum von der Stelle. Die ungeteerte Straße, kilometerweite Felder, eine kleine Böschung, dahinter die Enthüllung: österreichisches Staatsgebiet. Weiß-rote Verkehrstafeln, ein Schild mit einem deutschen Ortsnamen, obwohl weit und breit kein Ort zu sehen war. Die quadratischen Felder feuchtbrauner Erde. Etwas, das immer schon dagewesen war und doch erst in dem Moment zu existieren begann. Der Ortsname war ihm bereits wieder entfallen, dafür konnte er jedes Detail der weiteren Zugfahrt nach Hamburg abrufen, wo er nur einmal die Toilette benutzt hatte, doch die paar Minuten hatten ausgereicht, ein einziger unachtsamer Moment,...


Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich, seit 2005 wohnt die Autorin in Wien. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem exil-literaturpreis und dem Förderpreis der Stadt Wien. Zuletzt erschien ihr Roman Das letzte rote Jahr (FVA 2019).



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