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E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Griffiths Manche Schuld vergeht nie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12488-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-608-12488-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elly Griffiths Kriminalrome stehen regelmäßig auf der britischen Bestsellerliste. 2016 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Dagger Award ausgezeichnet, 2020 erhielt sie den Edgar Award, den bedeutendsten Preis für Kriminalliteratur in den USA. Elly Griffiths lebt mit ihrem Mann, einem Archäologen, in der Nähe von Brighton.
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Kapitel 1
Ali
Montag, 9. Januar 2023
Beim Überqueren der Old Kent Road muss Alison Dawson immer an Monopoly denken, an die gleichnamige, billige Straße direkt hinter Los, die keiner haben will. Das hat sie früher dauernd mit einem ihrer Ehemänner gespielt, mit welchem, fällt ihr auf Anhieb nicht ein. Er hielt das für sexy, so à la Ali MacGraw und Steve McQueen, dabei war es einfach nur ein Brettspiel, das sie – ziemlich verkrampft – auf den schmuddeligen Teppichfliesen eines Billighotels gespielt haben. Hugo. Der war’s. Von den anderen wäre keiner geizig genug für eine solche Absteige gewesen.
Es ist ein grauer, verheißungsloser Tag. Der Beginn eines neuen Jahres, während das alte noch immer präsent ist in Gestalt der vertrocknenden Weihnachtsbäume, die im Rinnstein liegen und darauf warten, abgeholt zu werden, und des »Ho ho ho« aus Wattebuchstaben im Fenster eines türkischen Barbiers. Nicht gerade ein malerischer Arbeitsweg, aber das fällt Ali kaum mehr auf. Fastfood-Buden, Vape Shops, leerstehende Häuser, Graffiti, die die bevorstehende Wiederkunft des Herrn ankündigen. Wird auch Zeit, denkt Ali. Würde sie hochblicken, böte sich ihr ein anderes Bild: Dann sähe sie Georgianische Fenster, Ziergiebel, hin und wieder einen wie aus dem Nichts auftauchenden Phönix oder Engel, der auf einem Hausdach Wache steht. Aber Ali blickt heute nicht hoch. Sie ist spät dran, wenn auch nicht so spät, dass sie sich deswegen Sorgen machen würde. Sie weiß, dass Zeit relativ ist.
Ali ist fünfzig, und das erstaunt sie immer noch jedes Mal, wenn sie es laut ausspricht oder in Online-Formularen auf der Suche nach dem Jahr 1972 zurückscrollen muss. Sie lügt nie, wenn es um ihr Alter geht, das ist Ehrensache für sie. Und sie bedankt sich auch nicht, wenn ihr jemand sagt, dass man es ihr nicht ansehe. Trotzdem ist es erschütternd, sich eingestehen zu müssen, dass sie nun schon seit einem halben Jahrhundert auf der Welt ist und drei Ehemänner, einen Sohn sowie eine Laufbahn bei der Polizei zu verzeichnen hat. In vielerlei Hinsicht fühlt sie sich immer noch wie das junge Mädchen in Hastings, das verwirrt und aufgewühlt aufs Meer hinausgeblickt und gedacht hat: Wann fängt endlich mein Leben an?
Sie wartet, dass die Ampel auf Grün schaltet, eine Gewohnheit, mit der Finn, ihr Sohn, sie jedes Mal aufzieht. »Du bist hier nicht mehr im verschlafenen Sussex«, erklärt er ihr, »im Londoner Verkehr musst du hin und wieder was riskieren.« Finn war erst vier, als Ali nach London gezogen ist. Damals lebte sie als alleinerziehende Putzfrau in einer Zweizimmerwohnung in Stratford, einer Gegend, die kaum noch zur Stadt zu gehören schien, mittlerweile aber als Austragungsort der Olympischen Spiele bekannt ist. Ali geht über die Straße und auf eine Felswand aus Bürogebäuden zu, grau und gesichtslos. Im Erdgeschoss befinden sich Geschäfte, darüber Büroräume, ein Stockwerk über dem anderen. Was machen diese Leute da bloß den ganzen Tag? Ali fragt sich das oft. Im Fenster von Bilals Bagels sieht sie im Vorbeigehen kurz ihr Spiegelbild. Leuchtend rote Haare, schwarze Jacke, Jeans und Turnschuhe. »Nicht schlecht für fünfzig«, sagt sich Ali und verbessert sich dann sofort, »nicht schlecht«. Vor Altersdiskriminierung sollte man sich immer hüten, selbst bei einem inneren Monolog.
Es ist viel passiert im East End, seit Ali vor siebenundzwanzig Jahren hergezogen ist, und echte Londoner wie ihr Kollege John sagen, dass die Skyline inzwischen fast nicht mehr wiederzuerkennen sei. Die futuristischen Gebäude mit ihren unschönen Namen – die Gurke, die Käsereibe – werfen ihre Schatten auf die Kirchen aus der Viktorianischen Zeit und die Hochhäuser aus den Sechzigern. Das Gebäude allerdings, in dem die Cold Case Unit – Bud sagt immer, hier sind die Fälle so kalt, dass sie schon gefroren sind – ihren Sitz hat, dürfte auf keiner Liste der architektonischen Sehenswürdigkeiten Londons auftauchen. Eel Street Nummer 14 ist so nichtssagend, dass es beinahe unsichtbar ist: die Fassade aus Glas, das Foyer fade, mit zwei Aufzügen, von denen einer immer außer Betrieb ist, und Schildern für Notausgänge und Toiletten. Auf einer altmodischen Informationstafel mit Steckbuchstaben sind die Unternehmen aufgeführt, die sich über die fünf Stockwerke verteilen. Alis Arbeitsplatz, die Logistikabteilung, eine so gewichtige wie vage Bezeichnung, liegt im dritten Stock. Ali überlegt kurz, den Aufzug zu nehmen, stößt dann aber die Tür zum Treppenhaus auf. Zwar hat sie ihren Fitness-Tracker vor zwei Wochen in die Themse geworfen, doch ihre Schritte möchte sie weiterhin zählen. »In unserm Job muss man fit sein«, sagt Geoff immer, obwohl der schon seit Menschengedenken seine Füße nicht mehr gesehen hat.
Im zweiten Stock legt Ali eine Pause ein und checkt kurz ihr Handy, damit niemand auf die Idee kommt, sie wäre außer Puste. Eine Erinnerung von ihrem Lesezirkel. Sie treffen sich heute Abend, und Ali ist noch nicht dazu gekommen, Gespräche mit Freunden zu lesen. Außerdem eine SMS von ihrem Sohn Finn: »Terry geht’s prima. Hat mich einmal gebissen. Ist jetzt unterm Tisch.« Finn passt auf Alis neurotischen Kater Terry auf. Sie schreibt zurück, »Danke, hab dich lieb«, und wappnet sich für den Rest des Aufstiegs.
Außer Dina ist niemand im Büro. Sie isst gerade eine Schale Porridge, die sie sich in der Mikrowelle warmgemacht hat.
»Das Zeug schmeckt widerlich.«
»Ist aber gesund. Keiner hat gesagt, dass es gut schmecken soll.«
»Gibt es denn nichts, was gesund ist und Spaß macht?«
»Sex?«, schlägt Ali vor. »Willst du einen Kaffee?«
»Kaffee soll ja heutzutage auch gesund sein, oder nicht?«, meint Dina. »Ich komm da langsam nicht mehr mit.«
»In Maßen«, sagt Ali. »Alles immer in Maßen.« Ein Grundsatz, mit dem sie, um ehrlich zu sein, zu kämpfen hat.
Mitunter werden Dina und Ali »die Zwillinge« genannt, obwohl sie fünfzehn Jahre auseinander sind und Dina Schwarz ist und Ali weiß. Die einzige sichtbare Ähnlichkeit zwischen ihnen ist die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen, aber so ist das nun mal mit Spitznamen bei der Polizei.
»Wie geht’s Terry?«, fragt Dina, während Ali auf dem Weg in die Teeküche gerade die Tassen einsammelt.
»Schon viel besser«, sagt Ali. »Heute Morgen hat er Finn gebissen.«
»Armer Finn«, sagt Dina, die immer Partei für Finn ergreift.
»Der ist ein Tory. Das ist er gewohnt.«
Finn behauptet stets, er sei kein Tory, er arbeite nur für sie. Eine Differenzierung, die Ali manchmal nicht ganz ausreicht. Während sie darauf wartet, dass das Wasser kocht, spült sie halbherzig die Tassen aus. Hin und wieder kriegt Bud einen Rappel, dann putzt er alles mit Bleichmittel, was Ali zufolge ungesünder ist als jeder Keim. Die Teeküche ist so trostlos wie alles andere in dem Bürohaus in der Eel Street: Schränke aus Resopal, gesprungene Fliesen, dreckige Spüle, bei der nur ein Wasserhahn funktioniert. Aber das bemerkt Ali kaum, denn es ist ihr Zuhause, bis hin zu dem Plakat für eine Comedyshow, die Bud 2018 besucht hat. Er hat ein Faible für Stand-up-Comedy, auch wenn er im Team derjenige ist, der oft ein paar Minuten länger braucht, um einen Witz zu kapieren.
Ali gibt ihrem Kaffee noch einen Extralöffel Nescafé hinzu – sie ist ernsthaft koffeinsüchtig – und trägt die Tassen dann ins Großraumbüro. Ihr Schreibtisch steht im rechten Winkel zu dem von Dina, und gegenüber ist der Tisch von John. Ein Anblick, an den sie sich gewöhnt hat: Johns »West Ham United«-Wasserflasche, das Unterwasser-Wandbild auf dem Gebäude gegenüber, die Jalousie, die immer leicht schief hängt.
»Danke«, sagt Dina, als Ali ihr die Tasse auf den Schreibtisch stellt und dabei Tom, der Grünlilie, ausweicht.
»Ist Geoff da?« Ali macht eine Kopfbewegung in Richtung der geschlossenen Bürotür ihres Chefs. »Hätte ich ihm auch einen Kaffee machen sollen?«
»Er hat vorhin kurz reingeschaut«, sagt Dina. »Hat nach dir gefragt.«
»Was wollte er? Glaubst du, es geht um einen neuen Fall?«
»Ich hab ihn gefragt, ob wir wieder durch die Pforte gehen, und er meinte, ›Das ist eine gottverdammte Pforte mit fünf Riegeln.‹«
»Geoff hat geflucht? Scheiße.«
»Ja. Ich hab versucht, ihn dazu zu bringen, ein Pfund in die Fluchkasse zu werfen, aber er hat so getan, als hätte er mich nicht gehört.«
»Kommen Sie rein, Alison.« Geoff deutet mit gebieterischer Geste auf den Besucherstuhl und wirft dabei seine Tasse mit der Aufschrift »World’s Best Boss« um, ein ironisches Geschenk von Ali, die allerdings befürchtet, dass es ernst genommen wurde. Zum Glück ist nichts drin. Geoff geht bei der Kaffeerunde oft leer aus. Ali hebt die Tasse auf und stellt sie nur zum Spaß ein klein wenig neben ihren angestammten Platz. Geoff rückt sie zurecht.
»Alison«, wiederholt sie. »Dann ist es wohl was Ernstes, Geoffrey.«
»Etwas Interessantes«, sagt Geoff und versucht zu lächeln. Bobby, sein Mann, hat ihm mal erzählt, beim Lächeln würden Moleküle freigesetzt, die den Stress bekämpfen, aber Geoffs Gesicht wurde für Tragödien geschaffen. Alle Linien weisen nach unten.
»Soll ich durch die Pforte?«, fragt Ali. Wenn es heute Abend ist, muss sie nicht zur Buchgruppe.
»Diesmal ist es eine andere Pforte«, sagt Geoff. »Eine Pforte ins neunzehnte Jahrhundert.«
»Ins neunzehnte Jahrhundert? Die Zeit der Tudors?«
»Sagen Sie so was eigentlich, um mich zu ärgern, Alison?«, fragt Geoff. »Ich dachte, Sie hätten einen Abschluss in Geschichte.«
»Hab ich auch«, sagt Ali. »Von der Queen Mary’s.« Sie deutet in die ungefähre Richtung der Mile End...