Grimes Auferstanden von den Toten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19190-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 18, 480 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-19190-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die »Mystery Writers of America« kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum »Grand Master«, und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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6
Dass Vernon Rice Geld »machte«, konnte man wohl behaupten. Er besaß eine eigene Anlagefirma in der City, in der er jede Menge Geld hin und her bewegte, sowohl für sich selbst wie für seine Geschäftspartner. Start-ups, also junge, neue Firmen, hatten es ihm besonders angetan, doch obwohl er seine Klienten vor stark schwankenden Unternehmen warnte, nahmen sie seinen Rat nicht immer an. Ihn wunderte bloß, wie sorglos manche Leute mit ihrem Geld umgingen, wie leicht sie sich davon trennten, wenn sie nur Wind von etwas bekamen, das vielversprechend aussah (es vermutlich aber nicht war). Wie Hunde auf der Fuchsfährte führten sie sich auf.
Vernons Tage (und viele seiner Nächte) drehten sich ums Geld. Am meisten warf seine kleine Investmentfirma in der City ab, bestehend aus ihm selbst, seiner Empfangssekretärin und seinen beiden jungen Assistenten Daphne und Bobby. Die beiden beobachteten für ihn das tägliche Finanzgeschäft, informierten ihn über wichtige Transaktionen und erledigten selbstständig Tagesgeschäfte. Er hatte die beiden mehr oder weniger von der Straße weg bei sich eingestellt und es nie bereut.
Daphne hatte etwas verloren ausgesehen, als Vernon ihr damals nicht weit von der Börse an der Kreuzung Threadneedle und Old Broad Street begegnet war. Sie war ihm aufgefallen, weil sie einfach dort stand und keine Anstalten machte weiterzugehen. Ihr dunkles Haar quoll in Löckchen unter einer engen, grauen Wollmütze hervor, von der zwei kleine graue Ohren abstanden. Mit ihren Locken, dem glatten, ovalen Gesicht, den staunenden braunen Augen und – natürlich – diesen Öhrchen schätzte Vernon sie auf irgendetwas zwischen zwölf und zweiunddreißig.
Obwohl sie vermutlich glauben würde, er wollte sich an sie heranmachen, ging er das Risiko ein, denn er konnte weder ihrer offensichtlichen Zwangslage noch den Ohren an der Wollmütze widerstehen. »Verzeihen Sie, denken Sie jetzt nicht, ich will Sie aufreißen oder so, aber Sie haben anscheinend Schwierigkeiten, äh, von der Stelle zu kommen. Ich meine, es ist wohl weniger das übliche Problem ›welche von den beiden Straßen ist eigentlich die richtige?‹ als das Dilemma ›Was suche ich eigentlich hier?‹. Und da dachte ich mir, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.« In dem Stil redete Vernon weiter und konnte gar nicht mehr aufhören, ihr sowohl ihre schwierige Lage als auch sein Hilfsangebot auseinander zu setzen. Endlich verstummte er einfach, während sie ihn stumm anstarrte, während die Passanten von der London Bridge her in alle Richtungen strömten – und viel zu viele an der Zahl, jedenfalls laut T.S. Eliot.
Er brachte T.S. Eliot sogar in seinem Sermon unter, bevor er schließlich aufhörte.
Sie blinzelte abwartend zu ihm hoch. Dann sagte sie: »Sind Sie fertig, ja? Haben Sie’s jetzt? War’s das für Sie? Durch? Zu Ende? Vorbei? Finito? Wär’s das dann?«
Er nickte, wollte schon wieder etwas sagen und hielt inne, als sie die Hand hob. »Nein, jetzt ist der Rest der Welt auch mal dran. Vor einer halben Ewigkeit haben Sie mich gefragt, glaub ich jedenfalls, dass Sie mich gefragt haben, wieso ich nicht hier rüber oder da rüber gehe. Die Antwort lautet: Hier rum oder da rum bleibt sich gleich, und ich seh nicht ein, wieso ich mich entscheiden soll. Also kann ich nicht auf die andere Seite rüber. Es ist sozusagen ein existentieller Wendepunkt. Ich kann weder hier hin noch da hin.«
»Hmm.« Er überlegte, ob er darauf etwas erwidern sollte. Da sie ihn nicht vor einen herannahenden Doppeldeckerbus geschubst hatte, als er hmm gemacht hatte, könnte er es vielleicht wagen. »Wie wär’s, wenn Sie keine der beiden Straßen überqueren?«
»Wie wär’s –?« Wieder blinzelte sie ihn an, als fände sie ihn unfassbarer als eine Heiligenerscheinung. »Entschuldigen Sie mal, aber das hab ich doch gerade die ganze Mittagspause lang erklärt.«
»Nein, nein. Ich meine, wieso gehen Sie nicht einfach zurück?« Vernon warf einen Blick über die Schulter. »Wieder auf dem Gehweg zurück, auf dem Sie schon sind. Da hinten ist ein Coffeeshop, wo ich uns beiden gern einen Espresso oder einen Latte spendieren würde.«
Sie überlegte. »Das Gesöff hasse ich. Aber einen ganz normalen Kaffee könnte ich schon gebrauchen.«
»Dann gehen wir!«
Sie saßen an der Theke und tranken schlichten Kaffee, sie mit (er zählte) fünf Stückchen Zucker, und Vernon fragte Daphne, wo sie wohnte. »In Disneyland?«
»In Clapham. Kommt aufs Gleiche raus.«
»Und wo arbeiten Sie?«
»Nirgends. Sie kennen doch die Schauspieler, die sagen, sie ›machen eine schöpferische Pause zwischen zwei Stücken‹? Ich ›mache eine schöpferische Pause‹ zwischen Barbedienung im George und Aushilfsverkäuferin bei Debenham’s.«
»Kennen Sie sich ein bisschen mit dem Aktienmarkt aus?«
»Na klar. Mein Portfolio ist in fünfzehn Bereiche gesplittet.«
»Macht Sie dieses Leben als das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern so sarkastisch?«
Die Vorstellung gefiel Daphne offensichtlich. Sie lachte auf eine Art, in der manche Leute niesen, ein Ah-ha-ah-ha-ah-ha, das dann in einen knappen Knall überging.
»Ich frage, weil ich Sie vielleicht brauchen könnte.«
»Das bezweifle ich.« Sie trank ihren Kaffee und starrte die nachgemachten Jahrhundertwende-Plakatschilder an.
Vernon ignorierte diese Antwort. »Wenn Sie, sagen wir, ein Köpfchen für Zahlen haben?« Was er beim Anblick des Köpfchens mit den zwei Öhrchen allerdings bezweifelte.
Die Tasse in beiden Händen, musterte sie ihn etwas skeptisch. »Ehrlich gesagt, darin bin ich gut. Mein Mathestudium an der Uni habe ich mit sehr gut abgeschlossen.«
»An welcher?«
»Oxford.«
Vernons Augenbrauen schossen fast bis zum Haaransatz hoch. »Oxford? Sie?«
Sie wandte sich zu ihm hin und blinzelte ihn wieder so typisch an. »Denken Sie, ich bin blöd, bloß weil meine Mütze Ohren hat?«
Vernon bot ihr auf der Stelle einen Job an. Auf der Stelle lehnte sie ab.
Schließlich überredete er sie dazu, für ihn zu arbeiten, wobei er sich bewusst war, dass sie sich auch als Katastrophe entpuppen könnte und wahrscheinlich versuchen würde, seine Anteile an British Telecom loszuschlagen, sobald der Kurs ein bisschen in den Keller ging. Doch ihren scharfen Sinn für Humor fand er erfrischend. Und die verdammte Mütze unwiderstehlich.
Bei Bobby verhielt es sich dagegen ganz anders.
Bobby (der ebenfalls alles zwischen zwölf und zweiunddreißig sein konnte) rammte ihn mit dem Skateboard. Bobby behauptete, er müsse als »Kurier« in Vernons Gebäude ein Dokument ausliefern. (Dabei hielt er wie zum Beweis einen großen braunen Umschlag in die Höhe.) Er hatte Vernon unten im Foyer umgenietet, ihm aufgeholfen und gleich einen Schwall von Entschuldigungen losgelassen. Eine Dialektik der Entschuldigungen, konnte man es nennen, sozusagen als Basis für künftige Entschuldigungen, falls diese notwendig sein sollten.
»Sie gehören zu einem Kurierdienst, bei dem man Skateboards benutzt?«
»Nein. Aber mein Fahrrad ist kaputt und jetzt nehm ich so lange einfach das hier. Aber sagen Sie denen nichts!«
»Ich? Und wenn sie mir heiße Schürhaken in die Augen bohrten, ich würde nichts verraten.«
Dann wollte Bobby wissen, für welche Firma er arbeitete. Als Vernon sagte, für seine eigene Investmentfirma, fragte Bobby, ob er ihm vielleicht einen guten Hedgefond empfehlen könnte und was er denn von dieser neuen Firma namens Sea ’n’ Sand hielte?
»Woher wissen Sie Bescheid über Sea ’n’ Sand?« Es war ein nagelneues Reiseunternehmen, das sich ausschließlich mit Kreuzfahrten und Strandurlaub befasste. Seine steigende Beliebtheit schrieb Vernon hauptsächlich der erstklassigen Werbe- und Anzeigenabteilung zu, denn im Hinblick auf Zielorte und Service bot es eigentlich nichts Neues.
»Wahrscheinlich daher, woher Sie’s auch wissen«, meinte Bobby achselzuckend. »Ich persönlich glaube, die werden erst groß rauskommen und dann im Sand versickern.«
Und Bobby redete weiter. Er wies Vernon darauf hin, dass der Dow-Index wahrhaftig kein Stimmungsmesser war und keinen Einfluss auf das hatte, was so lief. Er beruhte nämlich zu stark auf Industriewerten. »Ich meine, wo ist denn Yahoo!? Wo ist Macintosh? Wo sind denn die Hightechfirmen?« Bobby war ein Tageshändler, »immer mit einem Auge auf den Finanzwerten. Immer.« Finanzgurus vom Schlage Hortense Stud (deren Nachname, also Hengst, ihren Konkurrenten Zündstoff für endlose Spitznamen lieferte) ließ er links liegen, die sei doch, sagte er, ein Michelin-Reifen mit einer großen undichten Stelle.
Während die dringende Nachricht im braunen Umschlag bereits Moos ansetzte, redete Bobby wie ein Buch. Er fragte Vernon, was er von SayAgain hielte, einer angeblich total angesagten neuen Firma im Mobiltelefonkrieg, die Geräte für extrem Schwerhörige vertrieb. Sie sollte mit CallBack fusionieren, hieß es – »Darüber wissen Sie ja Bescheid, oder? Auch wenn es – pst! – noch ganz geheim ist?« Vernon hatte keinen blassen Schimmer. Er biss sich in den Hintern, weil er nicht daran gedacht hatte. Verdammt! Bobby sagte, er hätte einen Blankoverkauf vor, wenn die Fusion stattfand, denn wenig später bekämen die Imagedoktoren von CallBack bestimmt Ärger wegen Anzeigen, in denen Mummelgreise mit diesen Telefonen hantierten. »Erinnern Sie...